Schweitzer Fachinformationen
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Es war eine dieser staubigen kleinen indischen Städte. Es gab kein Ortsschild und keine Möglichkeit, herauszufinden, wie das Städtchen heißt. Die Straße wird einfach nur breiter und man sieht mehr Menschen. Dann endet plötzlich das wilde Grün des Dschungels und man erkennt die ersten kleinen Häuser aus braunen Lehmziegeln. Ehe man sich versieht, befindet man sich inmitten eines kleinen Stroms aus Bauern, Frauen, die Wasserkrüge aus Ton auf ihren Köpfen tragen, Kühen, Schweinen und Hühnern, die alle zur Stadtmitte ziehen.
Wir kamen zu einem kräftigen Holzbalken, der ungefähr in Hüfthöhe über die Straße ragte. An einer Seite stand ein kleines Wachhäuschen mit einem gelangweilten Polizisten, der sich in der sonnigen Hitze aus einem kleinen Fenster auf die staubige Straße lehnte. Long-Life und ich hatten im Jahr zuvor schon Dutzende solcher kleinen Grenzübergänge gesehen - die Polizei sollte Menschen, die Holz oder wilde Tiere aus dem Dschungel stehlen wollten, fangen, denn der Dschungel war Eigentum eines kleinen örtlichen Tyrannen, der sich selbst König nannte.
Meistens jedoch nutzte die Polizei die Gelegenheit, um Bestechungsgelder von reisenden Kaufleuten zu erpressen.
Die Menschen und Tiere kamen bis zum Schlagbaum, duckten sich darunter durch und gingen weiter, so machten es auch Long-Life und ich. Für Long-Life war es einfacher. Er ist ein kleiner tibetischer Schnauzer und reicht mir bis zur Hälfte der Wade.
Als wir uns unter dem Schlagbaum hindurchduckten, trat der Polizist heraus. Er bückte sich träge, hob einen Stein auf und warf ihn nach Long-Life, der sich bereits an diese indische "Begrüßung" gewöhnt hatte und dem Stein mit Leichtigkeit auswich. Ich war hingegen müde und mir war heiß und so bedachte ich den Mann mit einem strafenden Blick, während ich Long-Life auf den Arm nahm.
»Du«, rief er.
Ich ging ohne anzuhalten weiter, etwas, was mir meine Großmutter beigebracht hatte. Man konnte immer noch sagen, man hätte nichts gehört.
»Du da. Halt!« Und dann hörte ich einen Lathi auf den Boden klopfen. Ein Lathi ist ein starker, biegsamer, böser Holzstock. Er reicht einem ausgewachsenen Mann ungefähr bis zur Hüfte und alle Polizisten tragen einen. Er macht nicht viel her, aber in den richtigen Händen kann er die Haut in Minutenschnelle aufplatzen lassen. Einige dieser Männer, das wusste ich, suchten nur nach einer Entschuldigung, um ihn einzusetzen. Also hielt ich an.
»Komm zurück!«
Ich drehte mich um und schaute in sein Gesicht. Es war dunkel von vielen Stunden in der Sonne, seinem bösartigen Gemüt und noch etwas anderem.
Ich ging langsam zurück und versuchte, gelassen zu wirken.
»In das Wachhaus!«, befahl er mit seinem Stock deutend. Es war gerade groß genug für eine Person, auf keinen Fall für uns beide. Aber ich wollte lieber keine Diskussion anfangen; die Finger um den Stock waren angespannt.
Er drückte sich nach mir in die enge Hütte, kam mir viel zu nahe und dann wusste ich auf einmal, was mit ihm los war. Er hatte den süßlichen Gestank eines Mannes, der zu viel von dem hiesigen Zuckerrübenschnaps trank. Er starrte mich mit seinen blutunterlaufenen Augen an und ließ seinen Blick an meinem rosa-orangefarbenen Baumwollsari hinauf- und hinuntergleiten, den ich vor fast einem Jahr gegen meine warmen winterlichen Wollsachen eingetauscht hatte.
»Du bist nicht aus dieser Gegend«, sagte er in fast anklagendem Ton.
»Nein, Sir, bin ich nicht.«
»Woher bist du dann?«
»Aus Tibet«, sagte ich. Er sah mich ausdruckslos an. »Die Schneeberge«, fügte ich hinzu und deutete vage in den Norden.
Er nickte, aber sein Blick wanderte wieder zu meiner Brust, dann zu Long-Life und schließlich zu meiner roten Wolltasche.
»Was ist in der Tasche?«, fragte er in demselben Ton. Ich hatte das schon Hunderte Male gehört. Es war der typische Auftakt zu einem Bestechungsversuch.
Ich war nicht in der rechten Stimmung. »Nichts Wertvolles«, erwiderte ich und versuchte, ein paar Zentimeter von seinem Körper und seinem Gestank abzurücken.
»Öffne sie!«, befahl er und zeigte auf eine kleine Ablage am Fenster, in der Nähe unserer Ellbogen.
Ich warf ihm einen bösen Blick zu und legte meine Siebensachen schweigend auf der Ablage aus. All mein Hab und Gut: ein Schal von Katrin, ein kleiner Holznapf und das Buch, gut eingewickelt zum Schutz vor dem Wetter.
»Öffne es!«, befahl er auf das Buch zeigend. Ich wickelte es aus und er lehnte sich über die uralten Seiten, als wolle er sie lesen. Sie standen jedoch auf dem Kopf.
»Es ist alt«, erklärte er. Er richtete sich wieder auf und sah mir direkt in die Augen.
»Stimmt«, sagte ich einfach.
»Woher hast du es?«
»Mein Lehrer gab es mir«, erwiderte ich.
Er sah wieder in mein Gesicht. »Dein Lehrer«, sagte er ungläubig.
»Mein Lehrer«, wiederholte ich.
»Pack es wieder ein.« Er deutete auf das Buch und meine Sachen.
Ich sammelte sie langsam ein und versuchte, ihn nicht sehen zu lassen, dass meine Hände zitterten. Dann schaute ich an ihm vorbei zur Tür hinaus.
»Darf ich dann gehen, Sir?«
Er nahm die Tasche aus meinen Händen. »Du wirst mit mir kommen.« Mit diesen Worten drehte er sich um, trat auf die Straße und machte sich auf in Richtung der Stadt.
Ich folgte ihm mit hämmerndem Herzen und Long-Life fest an meine Brust gedrückt. Nach etwa einer halben Stunde bog der Mann von der Straße in einen kleinen staubigen Hof ab. Am hinteren Ende stand ein schmutziges, heruntergekommenes Gebäude aus denselben dumpfen braunen Lehmziegeln. Es hatte eine Veranda mit einem palmengedeckten Dach, das an einer Seite bereits heruntergefallen und mit einer dichten Schicht staubigen Schmutzes bedeckt war. Im Giebel des Gebäudes war das Gesicht eines Löwen in den Lehm gekratzt, worunter sich zwei gekreuzte Schwerter befanden. Das Zeichen des örtlichen Königs, dachte ich mir - die sehen alle ziemlich ähnlich aus. Zumindest hatte er kein Geld genommen. Vielleicht könnte ich mit einem Höhergestellten sprechen, jemandem, der nicht betrunken war.
Der dunkelhäutige Mann trat zur Seite und zeigte mit seinem Stock auf die Tür. »Rein!«, grunzte er.
Ich hob meinen Rock und schritt über den Unrat, der sich auf der Veranda angesammelt hatte, und dann durch eine kleine Tür.
»Setz dich«, sagte er und zeigte auf eine kleine Holzbank an der Wand. Er ging durch eine Türöffnung in der gegenüberliegenden Wand und ich hörte, wie er mit leiser Stimme zu jemandem dahinter sprach.
Ich sah mich in der kleinen Polizeiwache um und erkannte, dass es sich um das Gefängnis handelte. Der Raum, in dem ich saß, war ziemlich groß. Der hintere Teil war mit Lehmziegeln in drei grobe Zellen unterteilt worden. Die Vorderseiten dieser Zellen bestanden aus Bambusrohren, die vom Boden bis zur Decke reichten und in die eine kleine Tür eingelassen war. Zwei der Zellen waren leer, aber in der Zelle ganz rechts lag eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten auf dem nackten Boden.
An der Wand vor mir stand ein Regal mit alten, verrosteten Schwertern und Speeren. Es war mit einem Riegel gesichert. Das waren echte Waffen - Waffen, um Schwierigkeiten zu beheben, die diese Stadt vermutlich noch nie gehabt hatte. Hinter mir gab es zwei weitere kleine Zimmer. Das war es. Ich senkte meinen Blick wieder auf den Boden und die dort versammelten Schmutzhäufchen.
Der Polizist kam wieder heraus. »Komm!«, befahl er und zeigte auf die Tür hinter mir. Ich trat mit ungutem Gefühl ein, Long-Life fest an meine Brust gedrückt.
»Setz dich«, sagte er und deutete diesmal auf eine Grasmatte am Boden. »Der Hauptmann will mit dir sprechen. Warte.« Er ging und schloss die Tür hinter sich.
Ich setzte mich und sah den Hauptmann an. Er saß auf einer dicken Matte mit Kissen am Kopfende des Raumes über einen niedrigen, mit Papieren bedeckten Tisch gebeugt und schien ganz damit beschäftigt zu sein, etwas mit einem Bambusstift aufzuschreiben. Inzwischen kannte ich diesen kleinen Trick. Er würde mich so lange warten lassen, bis er sicher sein konnte, dass mir unbehaglich war. Erst dann würde er sich dazu herablassen, meine Anwesenheit wahrzunehmen. Das war seine Art, zu zeigen, dass ich unter seiner Würde war.
Ich nutzte die Zeit, um den Raum und auch den Hauptmann genau zu betrachten. Der Mann war von Unordnung umgeben: Stapel von Kontenbüchern und Papieren, alles von einer dünnen, braunen Staubschicht bedeckt. Das einzige Licht kam von einem kleinen Fenster gegenüber der Tür, durch das die Nachmittagssonne auf ihn und seine Arbeit fiel.
Ich schätzte sein Alter auf ungefähr fünfunddreißig. Er war der typische Beamte mittleren Alters. Früher hatte er bestimmt einmal gut ausgesehen. Er hatte dickes, schwarzes, leicht gelocktes Haar, in dem sich die ersten grauen Strähnen zeigten. Viel zu früh, dachte ich. Als er zur Seite schaute, um etwas zu überprüfen, sah ich, dass er leicht zusammenzuckte. Deshalb und aufgrund seiner gebeugten Schultern vermutete ich, dass er sich durch jahrelanges Gekrümmt-am-Schreibtisch-Sitzen ein Rückenleiden zugezogen hatte. Sein Gesicht war einst stark, beinahe edel gewesen, vermutete ich, nun aber war es gezeichnet von Schmerzensfalten, die sich von seinen Augenbrauen bis zu seinen Mundwinkeln zogen. Seine Wangen waren etwas aufgedunsen und er hatte Tränensäcke unter den...
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