Schweitzer Fachinformationen
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Stumm lag die Stadt unter der Sonne, nach Verwesung stinkend wie die Tausenden von Leichen, die ihre Straßen bedeckten. Ein heißer, drückender Südostwind verhieß Verfall und Untergang. Und vor den Stadtmauern wartete er selbst - der Tod, verkörpert durch den römischen General Titus, Sohn des neuen Kaisers Vespasian, und seine 60000 römischen Legionäre, die sich auf die Erstürmung der Gottesstadt vorbereiteten.
Schon bevor die Römer im Frühjahr des Jahres 70 das Dornental nördlich von Jerusalem durchschritten und ihr Lager auf dem Ölberg aufgeschlagen hatten, hatten die einander feindlich gesonnenen Parteien in Jerusalem die Weichen für den Untergang gestellt. Jüdische Räuber, die jetzt vor den Römern flohen, waren über die Stadt hergefallen, hatten ihre führenden Bürger ermordet und den heiligen Tempel besetzt. Mit Losen entschieden sie, wer Priester werden durfte, und verwandelten das Gotteshaus in eine Lasterhöhle.
Auf die Räuber folgten die Aufständischen und die Zeloten. Der Hohepriestersohn Eleasar, Johannes aus Gischala und Simon bar Giora waren die Anführer der Parteien, die machtlüstern und erbarmungslos die Heilige Stadt in Stücke rissen.
An einem Sabbat hatte Eleasar die Burg Antonia gestürmt und die römische Garnison niedergemacht. Zeloten zogen kämpfend und mordend durch die Stadt. Hastig einberufene Tribunale, die die Gesetze Gottes und der Menschen mit Füßen traten, schickten Hunderte unschuldiger Männer und Frauen in den Tod. Kornspeicher gingen in dem allgemeinen Chaos in Flammen auf; der Hunger ließ nicht lange auf sich warten.
Verzweifelt beteten rechtschaffene Juden darum, dass Rom bald gegen die Stadt ziehen möge. Denn nur dann, so glaubten sie, würde der Bruderkrieg aufhören und endlich alles sich unter dem Banner eines Zieles vereinen: der Freiheit von Rom.
Und Rom kam. In ganz Judäa erhoben sich seine verhassten Feldzeichen. Gadara fiel. Dann Jotapata. Beerscheba. Jericho. Caesarea. Die Legionäre marschierten in den Fußstapfen der jüdischen Pilger, die aus allen Ecken des Landes nach Jerusalem strömten, um dort das Passafest zu begehen. Zu Zehntausenden kamen sie in die Stadt, mitten zwischen die Mühlsteine des Bürgerkriegs. Die Zeloten schlossen die Tore hinter ihnen. Sie waren gefangen. Und dann kam Rom, immer näher und näher, bis die Stadtmauern vom Kriegslärm widerhallten. Titus belagerte die Stadt, entschlossen, den jüdischen Aufstand ein für alle Male niederzuwerfen.
Josephus, der jüdische Oberbefehlshaber von Jotapata, den die Römer gefangen genommen hatten, stellte sich auf die von den Römern bereits zerstörte erste der drei Mauern Jerusalems. Mit der Erlaubnis des Titus beschwor er seine Landsleute weinend, sich zu ergeben: Hört auf, kehrt um, Gott ist gegen euch, die Erfüllung der Unheilsprophezeihungen steht kurz bevor! Die wenigen, die auf ihn hörten und an den wachsamen Zeloten vorbei aus der Stadt entkamen, fielen in die Hände syrischer Räuber, die sie töteten und aufschnitten, um die Goldstücke, die sie angeblich geschluckt haben sollten, zu erbeuten. Die in der Stadt Gebliebenen traf die volle Wucht der römischen Kriegsmaschinerie. In meilenweitem Umkreis ließ Titus jeden Baum umhauen; dann baute er Katapulte und Belagerungsmaschinen, die zahllose Speere, Steine, ja sogar Kriegsgefangene in die Stadt schleuderten.
Von der Oberstadt über das Tyropoion-Tal bis zum Tempelberg lag die Stadt im Todeskampf. Im Tempel ließ Johannes aus Gischala die heiligen Goldgefäße für seinen eigenen Bedarf einschmelzen. Die Frommen weinten über Jerusalem, die Braut der Könige und Mutter der Propheten, die Stadt des Schäferkönigs David. Hilflos blutend lag sie da, zerrissen von ihren eigenen Kindern, und wartete auf den Todesstoß durch die verhassten Heiden vor ihren Toren.
Die Anarchie zerstörte Zion. Und Rom duldete keine Anarchie - nirgends in der Welt.
Hadassa hielt ihre Mutter in den Armen; mit Tränen in den Augen strich sie ihr das schwarze Haar aus dem abgezehrten, bleichen Gesicht. Schön war ihre Mutter früher gewesen. Oft hatte Hadassa zugeschaut, wie sie ihr Haar löste, bis es in glänzend schwarzen Wellen auf ihren Rücken floss. "Deine schwarze Krone", hatte ihr Vater es genannt. Jetzt war es stumpf und spröde geworden, die Wangen blass und eingesunken, der Bauch aufgedunsen vom Hunger.
Hadassa hob die Hand ihrer Mutter zum Mund und küsste sie. Sie fühlte sich an wie eine leblose, kalte Klaue. "Mama?" Keine Antwort. Hadassa schaute in die andere Ecke des Raumes, wo ihre jüngere Schwester Lea auf einem schmutzigen Strohsack lag. Sie schlief, für eine kurze Zeit befreit vom Elend des langsamen Verhungerns.
Wieder strich Hadassa über das Haar ihrer Mutter. Die Stille umhüllte sie wie ein heißes Leichentuch, der Hungerschmerz im leeren Magen brannte wie Feuer. Gestern hatte sie bitterlich geweint, als ihre Mutter Gott für das Essen gedankt hatte, das Doron für sie aufgetrieben hatte: ein Stück Leder vom Schild eines gefallenen römischen Soldaten.
Wie lange würde es noch dauern, bis sie alle tot waren? Wie hatte ihr Vater mit seiner festen und doch so sanften Stimme gesagt? "Die Menschen können dem Schicksal nicht ausweichen, auch wenn sie es kommen sehen." Vor ein paar Wochen erst hatte Hanania diese Worte gesprochen, und doch schien es schon eine Ewigkeit her zu sein. Den ganzen Morgen hatte er gebetet damals, und Hadassa hatte furchtbare Angst gehabt. Sie hatte gewusst, was er vorhatte, was er immer getan hatte: Er wollte hinausgehen zu den Ungläubigen und ihnen vom Messias, von Jesus von Nazareth, erzählen.
"Warum musst du wieder zu diesen Leuten gehen? Das letzte Mal haben sie dich fast umgebracht."
"Diese Leute, Hadassa? Sie sind dein Fleisch und Blut. Ich bin ein Mann aus dem Stamme Benjamin." Sie spürte noch seine sanfte Hand auf ihrer Wange. "Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, die Wahrheit und den Frieden zu verkündigen. Gerade jetzt. Es sind so viele, und wir haben so wenig Zeit."
Sie hatte sich an ihn geklammert. "Vater, geh nicht, bitte! Was sollen wir ohne dich machen? Du kannst den Frieden nicht bringen, es gibt hier keinen Frieden!"
"Ich meine nicht den Frieden dieser Welt, Hadassa, sondern den Frieden Gottes, das weißt du." Er hatte sie fest umarmt. "Es ist gut, Kind, weine nicht."
Sie hatte ihn nicht loslassen wollen. Sie wusste: Die Menschen würden nicht auf ihn hören. Die Gefolgsleute Simons würden ihn vor den Augen der Menge in Stücke reißen, als warnendes Beispiel für jeden, der es wagte, Frieden zu predigen. Schon mehrere hatten sie so umgebracht.
"Ich muss gehen." Fest und zart hatte er ihr Kinn angehoben und ihr in die Augen geschaut. "Was auch immer mit mir geschieht, der Herr ist bei euch." Dann hatte er sie geküsst und noch einmal umarmt und dann seine beiden anderen Kinder umarmt und geküsst. "Doron, du bleibst hier bei deiner Mutter und deinen Schwestern."
Hadassa hatte ihre Mutter gepackt und geschüttelt: "Mutter, lass ihn nicht fort, diesmal nicht!"
"Still, Hadassa. Wem dient es, wenn du so sprichst?" Sie sprach den Tadel sanft aus, aber er hatte Hadassa wie ein Schlag getroffen. Und Hadassa hatte ihre Tränen geschluckt und nichts mehr gesagt.
Rebekka hatte ihre Hand auf die graubärtige Wange ihres Mannes gelegt. Hadassa hatte recht; wahrscheinlich würde er nicht zurückkommen. Aber wenn es Gottes Wille war, konnte dieses Opfer vielleicht eine Seele retten. Eine - das genügte vielleicht schon. Ihre Augen waren voller Tränen gewesen, sie hatte es nicht gewagt zu reden, aus Angst, dann in Hadassas Bitte einzustimmen.
Hanania hatte seine Hand auf die ihre gelegt, und sie hatte versucht, nicht zu weinen. Seine Worte waren feierlich gewesen: "Vergiss nie den Herrn, Rebekka. In ihm sind wir eins."
Er war nicht zurückgekommen.
Hadassa beugte sich schützend über ihre Mutter. Wenn sie sie nun auch noch verlor . "Mutter?" Immer noch keine Antwort. Ihr Atem ging flach, die Haut war aschfahl. Wo blieb Doron so lange? Seit dem frühen Morgen war er schon fort. Sicher würde der Herr nicht auch ihn zu sich nehmen .
Hadassas Angst wuchs. Ihre Finger strichen mechanisch über das Haar ihrer Mutter. Bitte, Gott, bitte! Mehr Worte wollten nicht kommen, nur ein Stöhnen aus tiefster Seele. Bitte was?
Jetzt verhungern dürfen, bevor die Römer mit ihren Schwertern kamen oder sie vielleicht kreuzigten? Oh, Gott, Gott! Hilf uns! Warum waren sie nur in diese Stadt gegangen? Sie hasste Jerusalem. Sie kämpfte gegen die Verzweiflung an, die sie wie ein Mühlstein in den Abgrund ziehen wollte, versuchte, an glücklichere Augenblicke zu denken. Es gelang ihr nicht.
Vor Monaten waren sie von Galiläa aufgebrochen. An dem Abend, bevor sie Jerusalem erreichten, hatte ihr Vater das letzte Nachtlager aufgeschlagen, auf einem Hang mit Aussicht auf den Berg Moria, wo Abraham um ein Haar seinen Sohn Isaak geopfert hatte. Viele Geschichten hatte er ihr erzählt, aus der Zeit, als er als Junge vor den Mauern der großen Stadt gewohnt hatte. Bis spät in die Nacht hatte er vom Gesetz des Mose gesprochen, unter dem er aufgewachsen war, dann von den Propheten und von Jeschua, dem Christus. Und Hadassa war eingeschlafen und hatte von der Speisung der Fünftausend geträumt.
Im Morgengrauen hatte ihr Vater sie geweckt. Die Sonne war aufgegangen und hatte das Gold und den Marmor des Tempels in ein überirdisches Leuchtfeuer verwandelt, das meilenweit hinaus ins Land strahlte. Mit tiefer...
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