Schweitzer Fachinformationen
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Der Baum ist bevölkert von unsichtbaren Vögeln. Zuerst halte ich ihn für eine Ulme - ihren robusten, einsamen Stamm mit den vertikal aufragenden Zweigen erkenne ich seit meiner Kindheit -, aber nach einer Weile merke ich, dass es eine Pappel ist, eine jener Baumarten, die vor langer Zeit in diesen Teil der Stadt verpflanzt wurden, wo es nicht viel heimische Vegetation gibt. Wir setzen uns in ihrem Schatten auf den gelb gestrichenen Bordstein. Es dämmert. Auf der anderen Straßenseite ragen hinter einem massiven Eisenzaun graue Fabriktürme in den von schweren Stromkabeln verhangenen Himmel. Sattelschlepper rauschen vorbei, Taxis, Autos. Fahrräder. Unter allen Geräuschen des Abends ist das dieser Vögel das unverhoffteste. Das unwahrscheinlichste. Ich vermute, dass wir sie nicht mehr hören würden, sobald wir den Schatten der Baumkrone verließen. Hier, unter diesem Zweig, kannst du von Liebe sprechen. / Drüben das Gesetz, die Notwendigkeit, / der Pfad der Stärke, das Revier der Angst, / das Gebiet der Strafe. / Drüben nicht. Aber hier hören wir sie, und ihr monotoner, eindringlicher Gesang erzeugt auf eine beinahe unsinnige Art eine Ruhe, die das Erstaunen noch verstärkt. Glaubst du, sie kommt?, frage ich Sorais, während sie sich eine Zigarette anzündet. Wer, die Anwältin? Ja. Wie nennt man diese Bewegung der Lippen, wenn sie sich zusammengeknautscht auf eine Seite schieben und das Gesicht seiner Symmetrie berauben. Wir sind so nah dran, sagt Sorais bloß und spuckt einen Tabakfaden aus. Jetzt können wir auch noch eine halbe Stunde warten. Ich habe ihr diese Frage gestellt, um sie nicht bitten zu müssen, mit mir zu warten. Ich wollte sie nicht bitten müssen, mit mir hier zu warten, nur noch ein bisschen. Ich weiß gar nicht, ob ich das schaffe, Sorais. Ich habe keine Ahnung, was für ein Tier ich da gerade in meinem Inneren entfessele. Es sind nun sechs Stunden und zwanzig Minuten eines Tages vergangen, der in einer anderen Stadt, in einer anderen Ära, auf einem anderen Stern begonnen zu haben scheint.
Wir hatten uns mittags in meinem Hotel verabredet. Eine alte Villa mit abgerundeten Türen und hohen weißen Decken, ein Fliesenmosaik in Majolikagrün. Umgeben von einem weißen Zaun, flankiert von Bougainvilleen und Kletterwinden. Ein kiesbedeckter Durchgang. Palmen. Rosenstöcke. Während ich nervös auf Sorais warte, löse ich den Blick nicht von der Stadt jenseits der großen Fenster. Diese Stadt kann jeden aufnehmen. Und jeden töten. Großzügig und gefährlich zugleich, überbordend und überwältigend. Es gibt keine hinreichenden Adjektive für diese Stadt. Als Sorais bei dem Haus ankommt, in dem ich in diesen wenigen Herbsttagen in Mexiko-Stadt untergebracht bin, weiß ich nicht, ob ich es schaffen werde.
Ich muss heute zwei Dinge erledigen, sage ich direkt nach der Umarmung. Seifenduft. Frisch geduschte Haut. Diese Stimme, die ich schon ewig kenne. Kein Problem, ich begleite dich, sagt sie, ohne nach Details zu fragen. Offenes Haar. Ein roter Rucksack. Dieses überwältigende Lächeln. Das kann aber den ganzen Tag dauern, füge ich hinzu. Da hält sie inne und sieht mir in die Augen. Wohin gehen wir denn? Ihre Stimme klingt eher interessiert als alarmiert. Ich schweige. Manchmal muss man erst ein wenig schweigen, damit sich die Wörter auf der Zunge sammeln und dann gemeinsam den Sprung ins Ungewisse wagen können. Zur Staatsanwaltschaft, im Zentrum. Sie schaut mich weiter ermutigend an. Ich erzähle ihr, dass ich mich bei meinem letzten Besuch vor zwei Wochen mit John Gibler getroffen habe, dem Journalisten, der mir geholfen hat, die Suche nach der Akte meiner Schwester anzustoßen. Sie senkt den Blick, und da bin ich mir sicher, dass sie Bescheid weiß. Und dass sie mich versteht. Bei einer Durchsicht der Zeitungen von damals hat John die Nachricht gefunden, wie sie in La Prensa veröffentlicht wurde. Dann hat er Tomás Rojas Madrid ausfindig gemacht, den Journalisten, der insgesamt vier Artikel über den Mord an einer zwanzigjährigen Architekturstudentin geschrieben hat, die überraschend sachlich, ohne jeden Klatsch, das Verbrechen schildern, das am 16. Juli 1990 ein Viertel in Azcapotzalco in Aufruhr versetzt hat. Ich habe mich mit den beiden getroffen, erzähle ich Sorais, und sie haben mich zur Staatsanwaltschaft begleitet, um den Antrag einzureichen. Wie schreibt man einen solchen Antrag? Wo lernt man, in welcher Form ein solches Dokument anzufordern ist?
Mexiko-Stadt, 3. Oktober 2019
C. Ernestina Godoy Ramos
Staatsanwaltschaft Mexiko-Stadt
Hiermit beantrage ich, Cristina Rivera Garza, als direkte Angehörige von LILIANA RIVERA GARZA, ermordet am 16. Juli 1990 in Mexiko-Stadt (Calle Mimosas 658, Colonia Pasteros, Bezirk Azcapotzalco), die Aushändigung einer vollständigen Kopie der Ermittlungsakte mit dem Aktenzeichen 40/913/990-07.
Für Fragen stehe ich zu Ihrer Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen.
Nach all den Jahren, erkläre ich Sorais, ist die Wahrscheinlichkeit, an die Akte zu kommen, ziemlich gering. Neunundzwanzig Jahre, ergänze ich, neunundzwanzig Jahre, drei Monate und zwei Tage. Dann verstumme ich wieder. Manchmal sind die Dinge so schwer. Aber heute, sage ich, soll ich endlich eine Antwort bekommen.
Wir beschließen zu laufen. Laut Google brauchen wir zu Fuß nicht mehr als eine Dreiviertelstunde. Und es ist so ein schöner Tag. Also machen wir uns auf. Ein Schritt nach dem anderen. Ein Wort. Viele weitere. Wenn wir nicht auf der Suche nach der Akte einer ermordeten jungen Frau wären, könnte man es für einen alltäglichen Spaziergang halten. Die Avenida Ámsterdam ist eine legendäre Straße in La Condesa, einem Viertel aus der Porfirianischen Zeit, das 1905 erbaut wurde und noch immer mit seinen alten Villen im Art-déco- und Art-nouveau-Stil protzt, die heute von Apartmenthäusern mit bodentiefen Fenstern und Dachterrassen gerahmt sind. Früher wurde das Viertel auch Hipódromo genannt, weil die Allee, die wir an diesem Oktobertag entlanglaufen, einst das Oval war, auf das zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Pferde ins Rennen geschickt wurden. Man kann es sich gut vorstellen: das Schlagen der Hufeisen auf dem Boden der Piste, das Trappeln des Galopps, die glänzenden Felle, die wehenden Mähnen. Ein Pferd nach dem anderen. Als hinge ihr Leben davon ab. Weit aufgerissene Augen. Das Schnauben. Die Mäuler. Heute ist die dicht bewachsene Avenida Ámsterdam Pflichtprogramm für ausländische Touristen und Gäste auf der Suche nach einem angesagten Restaurant. Das Oval ist geschlossen gepflastert, wie eine Art materialisierte Villanelle, die durch ihre Verswiederholungen die Erfahrung von Kontinuität oder das Gefühl von Endlichkeit vereitelt. Man dreht auf ewig seine Runden. Wie ein Pferd, das um sein Leben rennt.
Während wir den Anweisungen des Navis haargenau folgen, hört man auf den Straßen von La Condesa mehr Englisch, Französisch und Portugiesisch als Spanisch. Aber da, an der Ecke des Mexiko-Parks, preist der Straßenverkäufer seine Blumen für den Tag der Toten an. Später kreuzt uns ein Papiersammler mit seiner immergleichen Leier: Kaufe Altpapier, alte Zeitungen! Und da vorne die Maurer, die mit gebeugten Rücken und ausgestreckten Armen die aufwertenden Reparaturen vornehmen, die aus diesem Pflaster eine Oase für Yuppies und Hipster gemacht haben; für ganze Garden von Männern und Frauen mit langem, glänzendem Haar und sauberen Fingernägeln. Wenn ich in Mexiko leben würde, könnte ich es mir nicht leisten, hier zu wohnen. Aber ich bin nur auf der Durchreise. Ich nutze den Arbeitsaufenthalt an der Universidad Nacional Autónoma de México, um den Verbleib der Ermittlungsakte des Verfahrens mit dem Aktenzeichen 40/913/990-07 zu erfragen, in dem Ángel González Ramos zur Fahndung ausgeschrieben wurde wegen Mordes an Liliana Rivera Garza, meiner Schwester. Meiner kleinen Schwester.
Meiner einzigen Schwester.
Es ist leicht, sich an die Schönheit eines Orts zu gewöhnen. Hier zeigt die Stadt sich von ihrer besten Seite. Designerboutiquen. Hunde an Lederleinen. Plätze mit Springbrunnen. Terrassencafés. Lichtschimmer in den Pappeln. Seniorengrüppchen beim Tai-Chi. Theater. Wir eilen vorüber, und während der Atem immer schneller geht, überschlagen sich unsere Worte. Da ist so viel, was wir einander erzählen wollen. Was wir gemacht haben. Was wir vorhaben. Was uns beschäftigt. Die Worte hallen durch die Straßen, die uns durch das herausgeputzte La Condesa führen: Wir laufen in Richtung Avenida Michoacán bis zur Calle Cacahuamilpa, dort links, dann an der Kreuzung Yucatán / Eje 2 Sur nach rechts. Hast du gehört, dass der Professor von der Iberoamericana, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, die Uni nicht mehr betreten darf? Dann direkt wieder links und noch mal rechts auf die Álvaro Obregón. Hast du das Me-too-Manifest der Marea Verde gegen die Buchmessendirektion von Oaxaca gelesen? Nach einem Kilometer biegen wir links auf die Avenida Cuauhtémoc ein und kommen ins Doktorenviertel, über Dr. Velasco und Dr. Jiménez in immer engere, chaotisch vollgeparkte Straßen bis zur General Gabriel Hernández Nummer 56. Hast du Joker schon gesehen? Fetttriefende Taco- und Sope-Stände. Unzählige kleine Eckläden. Heruntergekommene Balkone. Straßenköter. Straßenkinder. Ist das ein Habicht da oben am Himmel?
Erst Anfang August hat sich eine Gruppe wütender Feministinnen vor eben diesem weißen Gebäude versammelt, um Gerechtigkeit zu fordern. Eine Jugendliche war von Polizeibeamten im Dienst vergewaltigt...
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