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»Und Frau Carla Schwanenfels erbt das Haus in Brägenbeck.«
Diese monoton vorgetragenen Worte rissen mich aus meinem Dämmerzustand. Ich war gerade damit beschäftigt, meine Haarspitzen auf Spliss zu untersuchen, und stellte mir dabei die Frage, wann mein Pferdeschwanz das letzte Mal einen Friseursalon von innen gesehen hatte.
»Frau Schwanenfels …?«
Als ich aufschaute, blickte ich in das erwartungsvolle Gesicht des Notars, in dessen Kanzlei wir seit einer gefühlten Ewigkeit bei abgedunkelten Fenstern und stehender Luft saßen.
Wir, das waren sieben Verwandte fünften bis zwölften Grades, die mir gänzlich unbekannt waren, und ich, Carla Schwanenfels, Großnichte der verstorbenen Adelheid Kazmarek, auf deren Testamentseröffnung ich mich gerade befand.
Und zwar im abgeschiedenen Meppen circa 700 Kilometer entfernt von meiner Wahlheimat München, wo ich beruflich sehr erfolgreich in einer Wirtschaftskanzlei als Juristin tätig bin und privat ebenfalls sehr erfolgreich vor einem Monat meine Verlobung gelöst habe.
Die Testamentseröffnung meiner verstorbenen Großtante hatte bis zu diesem denkwürdigen Moment bereits zwei Stunden gedauert und Notar Winkelmann, der das Testament verlas, war nicht gerade ein geborener Entertainer. Er erinnerte mich entfernt an Professor Hastig aus der Sesamstraße, der mit wild zu Berge stehenden Haaren nach jedem zweiten Satz ein Nickerchen einlegte. Dank seiner dünnen Altherrenstimme und einer vollkommen monotonen Sprechweise war nach und nach die Hälfte der Anwesenden mit offenen Augen ins Reich der Träume entschlummert. Während ich noch versuchte, wach zu werden, gesellte sich zu dem erwartungsvollen Blick des Notars ein dümmliches Lächeln.
»Na, freuen Sie sich denn gar nicht, Kindchen?«
Kindchen???
Ich hatte vor zwei Monaten erhobenen Hauptes und ohne nennenswerte Stimmungsschwankungen meinen 39. Geburtstag hinter mich gebracht.
Mitten in diesen Gedanken hinein wurde mir schlagartig bewusst, dass ich nun Besitzerin eines Hauses in Brägenbeck war.
Ich wusste spontan nicht, ob ich mich freuen sollte. Großtante Adelheid und ich hatten zu ihren Lebzeiten kein ungetrübt gutes Verhältnis gehabt, und ich fragte mich kurz, ob dieses unverhoffte Erbe vielleicht ihre perfide Art war, sich nun posthum an mir zu rächen. Das letzte Mal war ich in meiner Kindheit als Siebenjährige bei ihr in Brägenbeck gewesen, und meine einzige Erinnerung an diesen Aufenthalt hatte mit einer großen Enttäuschung und mit unzähligen Insekten zu tun. Noch heute habe ich den Duft des frischgebackenen goldgelben Napfkuchens in der Nase, den meine Großtante damals stolz im Garten am gedeckten Kaffeetisch servierte. Der Kuchen war dick mit Puderzucker bestreut, und ich durfte mir ein großes Stück nehmen. Gleichzeitig erinnere ich mich lebhaft an meine im selben Moment einsetzenden hektischen Versuche, die Heerscharen dicker Schmeißfliegen abzuwehren, die wie aus dem Nichts auftauchten und alles daran setzten, sich ihren Anteil von meinem Kuchenstück zu holen. Vor Insekten habe ich immer schon eine panische Angst gehabt, und daher endete das Ganze mit Gezeter und Tränen meinerseits und der unrühmlichen Verbannung ins Haus. Der Kuchen wurde währenddessen vom Rest der zahlreichen Familienmitglieder in null Komma nichts bis zum letzten Krümel aufgegessen und ich konnte ihn nicht einmal probieren. Großtante Adelheid flüsterte mir dann abends überflüssigerweise beim ins Bettbringen zu, dass ich ohnehin für mein Alter sehr pummelig sei und mich daher nicht so anstellen solle. »So findest du später nie einen Mann«, bemerkte sie damals noch, bevor sie das Licht löschte. Eine Drohung, mit der ich als Siebenjährige rein gar nichts anfangen konnte, die sich aber doch tief in meinem Unterbewusstsein verankerte. Merkwürdig, dass ausgerechnet diese Frau mich zur Erbin ihres Hauses bestimmt hatte.
Drei Stunden später saß ich mit zwei Exemplaren meiner mir immer noch gänzlich unbekannten Verwandtschaft bei Kaffee, Kuchen und Bier (das Bier war für mich) im ICE Richtung München. Ich rechnete heimlich im Kopf durch, wie viele Minuten ich noch jeden dieser beiden Pfeifen ertragen musste, bis sie endlich meinen Zug Richtung Heimat verlassen würden.
Das Ergebnis erregte, kombiniert mit dem Bier am helllichten Tag, leichte Übelkeit in mir. Ich musste einen Weg finden, das Verwandtenduo vorzeitig abzuschütteln. In diesem Moment richtete Tante Gerda, Erbin einer beeindruckenden Bernsteinkette samt passendem Fingerring, das Wort an mich:
»Sag mal, Kindchen, was macht denn eine Großstadtpflanze wie du mit einem landwirtschaftlichen Hof mitten in der Pampa von Brägenbeck? Zumal der Hof ja seit mindestens zehn Jahren leer steht? Mein Sohn, der Rudi, der macht ja in Landwirtschaft, der könnte …«
Jetzt hatte auch sie mich Kindchen genannt! Ich unterbrach die Gedankengänge von Tante Gerda, die sichtlich unzufrieden mit der Aufteilung der Erbschaft war.
»Keine Landwirtschaft, Tantchen. Du musst viel größer denken: Gehobene Gastronomie, Spa-Bereich, Feng Shui, Ayurveda und Seminarangebote zur Turboerholung für gestresste Manager, das ist mein Plan für Brägenbeck.«
Ich grinste innerlich über den Blödsinn, den ich da von mir gegeben hatte, und nutzte die kurze Sprachunfähigkeit von Tante Gerda, um mich aus karrieretechnischen Gründen zu verabschieden.
»Tut mir leid, ihr Lieben, aber ich wechsle jetzt das Abteil, die Arbeit ruft. Eine dringende Aktensache. Leider benutze ich ein Tonbandgerät, und das würde euch nur beim Plaudern stören. Tschüs denn …«
Mit neuem Antrieb schnappte ich meine sieben Sachen und machte mich fröhlich pfeifend auf die Suche nach dem nächsten Bordrestaurant.
Dort angekommen, setzte ich mich an einen freien Tisch und orderte mir, ohne groß zu überlegen, ein Glas Bordeaux. Machten unerwartete Erbschaften einen etwa zum Alkoholiker? Zur Sicherheit bestellte ich gleich noch eine Portion Königsberger Klopse dazu, ein ehrliches Essen, das mich wieder erden würde. Ich nahm einen Schluck Rotwein und wählte dann fast automatisch die Nummer meiner besten Freundin Marie-Louise Metzger, erfolgreich reich verheiratet, Mutter von zwei Kindern, Regentin einer Villa in Grünwald und von Beruf Angehörige der Münchner Schickeria. Schon nach zwei Rufzeichen meldete sich eine Frauenstimme, die sichtlich bemüht war, verrucht und lasziv zu klingen.
»Hallo, hier ist die Lou«, tönte es mir entgegen.
»Lou, ich bin es«, sagte ich leicht entnervt. Wir kannten uns schon fast zwanzig Jahre, und im Moment stand mir der Sinn absolut nicht nach ihren üblichen Spielchen. Lou versuchte permanent, durch ein besonders extravagantes Auftreten zu kaschieren, dass sie in Wahrheit ein Leben führte, in dem nichts so richtig zusammenpasste. Das fing schon bei ihrem Vornamen Marie-Louise an. Auf diesen Namen war meine Freundin sehr stolz. Sie fand, dass er nach weiter Welt, Haute Couture und Eleganz klang. Umso mehr schmerzte es sie, dass auf diesen schönen Vornamen ein gänzlich unpoetischer Nachname folgte. Marie-Louise war eine geborene Landwedel und gehörte nicht zu den modernen Frauen, die nach der Hochzeit ihren Mädchennamen beibehielten. Daher wurde sie durch die Heirat mit ihrem Dieter zu einer Metzger. Das Zusammenspiel ihres klangvollen Vornamens mit dem eher derben Nachnamen war der einzige, aber dafür große Wehrmutstropfen, den diese Ehe mit sich brachte.
Auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild setzten sich die Gegensätze fort. Lou war groß und schlank, hatte eigentlich eine sehr gute Figur, leider war sie aber ab der Körpermitte vom Bauchnabel abwärts etwas füllig geraten. Unter dieser Birnensilhouette litt sie, seit ich sie kannte. Doch trotz all ihrer fortwährenden Versuche, mit Gymnastik, Ananasdiät und Reistagen abzunehmen, blieb ihr ausladendes Hinterteil ein treuer Begleiter. Um von diesem körperlichen Makel abzulenken, kleidete sich Lou gerne besonders extravagant. Zurzeit hatte sie eine Vorliebe für grelle Knallfarben, die sie in ungewöhnlichen schrillen Kombinationen zusammenstellte. Außerdem überraschte sie mich jeden Monat mit einer neuen Haarfarbe. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, leuchteten ihre langen Locken gerade feuerrot.
Ich mochte Lou aber trotz ihrer Widersprüche und schrägen Vorlieben total gerne. Sie hatte ein Herz aus Gold und vor nichts und niemandem Angst. Ich konnte mich einfach voll und ganz auf sie verlassen, wenn es darauf ankam.
»Ist ja gut«, antwortete Lou nun in ihrer normalen Stimmlage, »man wird ja wohl noch mal einen Witz machen dürfen. Was gibt es denn so Dringendes?«
»Ich hatte dir ja erzählt, dass heute die Testamentseröffnung meiner Großtante Adelheid stattfindet.«
»Ja und? Bist du jetzt stolze Besitzerin eines von Motten zerfressenen Nerzmantels?« Sie kicherte albern.
»Nicht ganz. Lou, stell dir vor, ich habe das Haus meiner Großtante in Brägenbeck geerbt! Es gehört jetzt mir! Was soll ich bloß damit anfangen?«
»In wo?«
»Brägenbeck, das ist ein kleiner Ort im Emsland zwischen Papenburg und Lingen, in dem meine Großtante früher gewohnt hat. Ich habe dir bestimmt schon mal davon erzählt.«
»Wo bitte ist Emsland?«, fragte Lou, die in ihrem Leben noch nicht weit über die Grenzen von München hinausgekommen war.
»Na, halt in Norddeutschland. Da, wo außer Landschaft und Kühen nicht besonders viel los ist.«
»Mooomentchen mal – jetzt bitte noch einmal von vorne und für Blondinen – wo bist du denn jetzt genau?« Lous...