Kapitel 1
»Jetzt habe ich Sie endlich erwischt, Frau Schwanenfels! Sie dachten wohl, Sie könnten mit Ihren schäbigen Juristentricks davonkommen. Aber hier in Brägenbeck bin immer noch ich der Boss und sonst niemand.« Mein Erzfeind Bauer Hermann Johannsen stand im Schweinestall wie ein Riese vor mir. Er trug eine Cordhose von gigantischen Ausmaßen und dazu ein monströses Karohemd. Während er aus Leibeskräften brüllte, versuchte er gleichzeitig, mich mit der Mistgabel zu erwischen, die er in seinen riesigen Pranken hielt. Aus mir nicht bekannten Gründen war ich zu einem Winzling in Zwergengröße geschrumpft und hüpfte von einer Ecke in die andere. Ich hatte wegen meiner ungewohnt kurzen Beinchen alle Mühe, den Gummistiefelfüßen und der Mistforke von Johannsen auszuweichen. Lange würde ich der Attacke nicht mehr standhalten können. Genau in diesem Moment durchbrach mit lautem Krachen ein überdimensional großer Polizeiwagen die Scheunentür und hielt direkt vor mir. Darin saßen Brägenbecks Dorfpolizist Wendelin Meyerbär und meine beste Freundin Marie-Luise Metzger, genannt Lou, beide ebenfalls zu Monstergröße aufgebläht und offensichtlich allerbester Stimmung. Sie schunkelten untergehakt im Takt zu »An der Nordseeküste« und lachten ausgelassen. Als Lou meine Notlage erkannte, fackelte sie nicht lange. Schwungvoll warf sie ihre Hermèshandtasche auf den Stallboden und rief: »Schnell Carla, spring da rein.« Ich tat wie mir geheißen und schmiegte mich erschöpft an das weiche Innenfutter. Lou griff die Tasche, schlug die Autotür zu und befahl in Richtung ihres uniformierten Begleiters: »Gib Gummi, Wendelin!« Das ließ sich dieser nicht zweimal sagen, und das Polizeiauto setzte mit quietschenden Reifen zum Rückzug an. Ein uns verdutzt hinterherschauender Großbauer blieb allein im Stall zurück. Ich war in der Handtasche meiner Freundin zwischen süßem Parfum und brombeerfarbenen Lippenstiften endlich in Sicherheit.
Schweißgebadet erwachte ich. Wie konnte man nur so einen Blödsinn zusammenträumen? Ich schälte mich aus dem Bett und ging an das Zimmerfenster, um auf das Pflanzenmeer im Garten hinunterzuschauen. Langsam beruhigte sich mein Atem, und ich erfreute mich an dem schönen Anblick.
Der Hochsommer in Brägenbeck steuerte auf sein Ende zu. Nach einem heißen und trockenen August versprach der September ebenfalls viel Sonnenschein. Der Lavendel in meinem Kräutergarten leuchtete lila neben goldgelben Johanniskrautbüschen. Der üppige Garten hinter meinem Haus war zu meiner größten Leidenschaft geworden. Ich verbrachte jede freie Minute zwischen Zucchinis und Stachelbeeren, immer gewappnet mit der drei Kilo schweren Gartenfibel, die mir mein Freund Kai nach ersten niederschmetternden Ernteergebnissen im Frühsommer aus Meppen mitgebracht hatte.
Freie Minuten hatte ich allerdings in den letzten Wochen kaum gehabt. Während der Sommerferien waren die fertigen Gästezimmer in meiner neu eröffneten Pension dank der Werbekampagne meiner Freundin Lou in München fast durchgehend von Familien besetzt gewesen. Sogar gestresste Führungskräfte hatten in meinem kleinen Paradies schon zu ihrem inneren Gleichgewicht zurückgefunden. Obwohl ich in Sachen Gastronomie und Urlauberbetreuung überhaupt keine Erfahrung vorweisen konnte, machte ich meine Sache erstaunlich gut. Alle Gäste hatten bei mir eine schöne Zeit verbracht und waren gut gelaunt und entspannt wieder abgereist. Um das gemeinsame Frühstück kümmerte ich mich, die anderen Mahlzeiten bereiteten alle zusammen zu. Zum Glück wurde ich täglich mit frischen Lebensmitteln und Getränken beliefert, das Gasthaus »Zur Post« aus dem Nachbarort hatte mich einfach an seine Lieferanten angedockt. Es gab Kräuterwanderungen und gemeinsame Kochabende und ich hatte mit den Gästen eine Menge Spaß. Mein früheres Leben als erfolgreiche Anwältin in einer Münchner Wirtschaftskanzlei erschien mir mittlerweile weit entfernt und ich hatte es noch keine Minute vermisst.
Auch wenn der Erfolg meiner Pension in den letzten Wochen zu stressigen und manchmal chaotischen 14-Stunden-Arbeitstagen geführt hatte, so war ich doch mächtig stolz auf mich und meine kleine Herberge. Voller Tatendrang plante ich schon die Renovierung der nächsten Zimmer, um noch mehr Gäste aufnehmen zu können. Für mich selber wollte ich den Dachstuhl ausbauen und mir dort eine kleine 3-Zimmer-Wohnung einrichten. Kai hatte bereits detaillierte Skizzen erstellt und mit einem befreundeten Architekten gesprochen. Zurzeit hauste ich in einer Kammer im Obergeschoss, die wir in einer Hau-Ruck-Aktion bewohnbar gemacht hatten. Als einzigen Luxus hatte ich mir ein kleines Badezimmer entwerfen lassen, in das ich mich während meiner raren Mußestunden zurückzog.
Außerdem plante ich, jemanden zur Unterstützung einzustellen. Meine Freundin Lou hatte wieder ihre gewohnten Aktivitäten in München aufgenommen und wollte erst Mitte September für ein paar Tage nach Brägenbeck kommen. Kai half mir zwar in jeder freien Minute, aber auch er hatte mit seiner Autowerkstatt genug zu tun und schlief regelmäßig im Stehen ein. Ich konnte mich ebenfalls an manchen Tagen kaum auf den Beinen halten. Diesem permanenten Schlafentzug musste ein Ende gesetzt werden.
Ich saß am Küchentisch und schlug das ledergebundene Kochbuch auf, das mir meine italienische Freundin Emilia mit feuchten Augen zum Abschied überreicht hatte. All ihre Familienrezepte hatte sie ihrem Sohn Beppo diktiert, der sie in seiner schönsten Handschrift und einem manchmal eigensinnigen Deutsch (»Spaghetti alla Mama mit Klopse von Hacke«) in das Buch geschrieben hatte. Ich las zum zehnten Mal die liebevolle Widmung:
»Liebe Carla,
zu Deinem neuen Leben in Brägenbeck wir wünschen Dir alles Gluck der Welt und schenken Dir alle unsere Lieblingsessen traditionelle, damit Du hast Spaß und Freude mit Deinen Gästen!
Deine Freunde aus Italien«
Über fünfzig Rezepte mehrerer Generationen hatte mir Emilia anvertraut, nachdem ich bei einem der zahlreichen Abendessen im Kreise der Fortezzas feierlich in die Familie aufgenommen worden war. Nun studierte ich die Zutaten des Wildkräuterpestos à la Emilia, das ich mit den nächsten Feriengästen zubereiten wollte. Für das kommende Wochenende hatten sich drei Manager aus Hamburg zur Entschleunigung angekündigt.
Es war bereits Donnerstag, die Zimmer waren hergerichtet und der Kühlraum gefüllt, jetzt brauchte ich nur noch schönes Wetter für die geplante Kräuterwanderung am Samstagnachmittag. Und ich musste erneut einen intensiven Blick in meinen Pflanzenführer werfen, um Vergiftungen vorzubeugen. In Sachen Wildkräuterkunde war ich leider noch unsicher. In meinem alten Leben als Juristin in München hatte ich kaum einen Bezug zur Natur gehabt, und so war es kein Wunder, dass ich mich als frischgebackene Kräuterexpertin noch schwertat.
Am Samstagmorgen rauschte ein schwarzer Audi in meine Einfahrt. Ich trat auf den Hof, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Aus dem Wagen stiegen drei schlanke Männer um die vierzig in Armani-Anzügen. Sie nahmen nahezu synchron ihre teuren Sonnenbrillen von den Nasen und kamen mir im geschäftlichen Eilschritt entgegen. Ich sah gleich, dass hier bei der Entschleunigung etwas nachgeholfen werden musste. Die Herren befanden sich trotz des Umgebungswechsels immer noch im Hamsterrad der Großstadt.
»Guten Tag, Frau Schwanenfels. Ich bin Martin Jennsen und das sind meine Kollegen Claas Junghans und Owe Friedrichs. Wir kommen im Auftrag unseres Arbeitgebers, der Stahlmann AG, um uns hier von einem nervenaufreibenden Geschäftsabschluss zu erholen.« Der Fahrer des BMWs war auf mich zugelaufen und hielt mir seine rechte Hand entgegen. Sein linkes Augenlied zuckte leicht und sein Blick irrte unruhig über mein Anwesen. Ich bemerkte, dass ihn diese Idylle verunsicherte, und unterdrückte den Drang, ihm beruhigend über den Kopf zu streicheln.
»Guten Morgen, die Herren. Ich hoffe, Sie hatten eine entspannte und staufreie Fahrt! Kommen Sie doch herein und ich zeige Ihnen das Haus und Ihre Zimmer.«
Die Männer nahmen ihre Reisetaschen und trotteten im Gänsemarsch hinter mir her.
»Hier riecht es aber lecker.«, bemerkte Owe Friedrichs und folgte schnuppernd dem Duft nach Frischgebackenem, der aus der Küche kam.
»Ich habe heute Morgen Brot gebacken«, erwiderte ich stolz. »Falls Sie nach der Reise Lust auf ein zweites Frühstück haben, frische selbstgemachte Kirschmarmelade gibt es auch. Und der Kaffee läuft gerade durch die Maschine.«
Die Männer strahlten mich an und verloren langsam ihre urbane Skepsis. »Mensch, das riecht hier wirklich wie bei meiner Oma Gustel damals in den Sommerferien«, frohlockte Claas Junghans und lockerte seine Seidenkrawatte, »da bekommt man gleich einen Mordshunger!«
»Das höre ich gerne!« Fröhlich deutete ich in Richtung Treppe zu den Gästezimmern. »Sie können sich jetzt frisch machen und etwas Bequemes anziehen. Ich bereite derweil im Garten ein richtig schönes, altmodisches Frühstück zu.«
Eine halbe Stunde später war der Tisch auf meiner Terrasse reichhaltig gedeckt und ich stand in der Küche, um den Kaffee in Thermoskannen zu gießen. Durch mein Fenster schallte eine Diskussion, die mir aus meinem Leben als Rechtsanwältin noch sehr bekannt vorkam.
»Irgendwo wird es hier doch wohl ein Netz geben. Ich muss unbedingt Sabine wegen der Präsentation am Montag anrufen.«
Ich schaute hinaus und sah Owe Friedrichs im Hawaiihemd und in Karoshorts durch meinen Garten rennen. Das Handy hielt der Geschäftsmann Richtung Himmel, als wolle er den lieben Gott anklagen, dass dieser nicht überall auf der Welt für ein...