Schweitzer Fachinformationen
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Schweigen ist Gold. Dieser Satz wurde Amir immer vorgebetet. Schweigen ist Gold. Vater hat es wiederholt, wie ein Muezzin beim Ruf des Morgengebets.
Vier Züge, nach links atmen. Vier Züge, nach rechts atmen. Die Beine schlagen in schnellem Takt auf und ab. Das Wasser ist dein Freund. Der Trainer hat Amir getriezt, bis er es verinnerlicht hatte.
Schweigen und Schwimmen. Die Gebote seines Lebens. Das war seine Religion. Söhne hatten zu gehorchen. Dem Vater und dem Trainer.
Schwimmenlernen war eine Notwendigkeit. Amirs Familie wohnte in einer Großstadt am Mittelmeer. Dass er schon bald durchs Wasser glitt, als würde er sein Leben darin verbringen, hatte Amir seinem Ehrgeiz zu verdanken, dem immer härter werdenden Training und dem Gebot seines Vaters.
Beim professionellen Kraulen war Sprechen unmöglich. Man musste sich auf die Koordination von Armen und Beinen konzentrieren und auf das Atmen. Konzentration besitzt keine Sprache. Krafttraining war notwendig, um die Geschwindigkeit des Gleitens zu erhöhen. Als die Bewegung zu ihm gehörte, wie sein linker Daumen oder seine Nase, stellte er automatisch auch das Denken ein.
Über Jahre trainierte er im Becken, dann warf ihn der Trainer ins Meer. Da war das Schwimmen rauer, anstrengender. Es kostete mehr Überwindung. Im Becken gab es Wasser und Kacheln. Eine Ödnis, die es einfach machte, sich zu konzentrieren.
Es dauerte seine Zeit, bis sich Amir von der Schönheit der Unterwasserwelt lösen konnte. Als ihm das gelang, hatte der Junge bald nationale Jugendspitzenklasse erreicht.
Amir und das Wasser wurden eins. Dass er Wasser verdrängen musste, um vorwärtszukommen, spürte er bald nicht mehr. Ähnlich mussten sich Menschen in der Schwerelosigkeit fühlen.
Amir registrierte erst spät, dass immer mehr Menschen der Stadt dem Gebot seines Vaters zu folgen schienen. Die Stadt war immer laut, solange er denken konnte. Verkehr, Basare, Touristen, die Muezzins, das Rauschen des Meeres. Arabisch war eine laute Sprache. Selbst wenn die Menschen nah beieinanderstanden, schienen sie sich anzubrüllen.
Nicht, dass die Lautstärke Amir jemals aufgefallen oder bewusst gewesen wäre. Er ist hier geboren. Deren Abebben hingegen nahm er wahr, als er hin und wieder aus seiner Wasserwelt auftauchte.
Es kamen weniger Touristen und die Menschen redeten immer häufiger hinter vorgehaltener Hand. Das fröhliche Geschrei wandelte sich in ein wisperndes Flüstern. Nachrichten verfolgte Amir nicht. Er hatte seinen Sport und seine Familie. Für ihn war seine Welt riesig und er hatte genug damit zu tun, allen Anforderungen gerecht zu werden.
Hier und da schnappte er Begriffe auf, die ihn verwirrten. Überwachung, Verfolgung, Aufstand. Polizei war schon immer sehr präsent. Auf die und auf das Militär bezog sich in erster Linie die Anweisung des Vaters.
Der Weg von der Schwimmhalle nach Hause dauerte zu Fuß zwanzig Minuten. Amir hätte den Bus nehmen sollen, doch das Geld sparte er oft. Eines Abends, als er in die kleine Verbindungsgasse einbog, eine Abkürzung, trat ihm einer der vielen streunenden Hunde in Algier entgegen. Ein Windhund, bei dem die Rippen scheinbar über das Fell verliefen, kam mit gebleckten Zähnen auf ihn zu getrottet. Er hätte wieder aus der Gasse flüchten können, aber vor einem Windhund davon zu laufen, war sinnlos.
Langsam löste Amir seinen Rucksack von der Schulter. Darin befanden sich die Schwimmbrille und seine Trinkflasche. Harte Gegenstände, die, wenn sie die Schnauze des Tieres trafen, als Waffe eingesetzt werden konnten. Er schwang sie konzentriert vor seinen Oberschenkeln hin und her.
Der Windhund war wenig beeindruckt. Er steigerte sein Tempo und sprang, ohne einen Ton von sich zu geben, auf den Jungen zu. Der holte aus und traf den Hund mit aller Kraft auf das spitz zulaufende Maul. Das Tier jaulte auf, fiel zur Seite und schlug auf dem Boden auf, wie ein Stein. Amir ließ ihm keine Zeit, sich zu berappeln. Immer wieder trat er ihm in den Bauch, vor sich den Körper eines fülligen, glatt rasierten Militärs sehend.
Tags darauf, mitten in der Nacht, zog seine Familie los.
Am meisten erschreckten Amir die Geräusche. In der Dunkelheit und Enge des Frachtraums umschlossen sie ihn wie schwere, gift-scharfe Luft. Er versuchte, sich daran zu gewöhnen, sprach sich in Gedanken ruhig zu. Aber die Aussicht, dieses dumpfe Dröhnen tagelang ertragen zu müssen, ließ ihn verzweifeln. Es drang aus dem Metall des Bodens und der Wände zu ihm heran und hinein in den kurzen Schlaf, der ihn immer wieder umfing. Er träumte während dieser knappen halben Stunden, und die Träume waren von Dröhnen unterlegt. Er träumte von den Geräuschen und der Farbe seines Schwimmbeckens. Vom Durchpflügen des Wassers seiner kräftigen Armzüge. Von der leichten Bewegung seiner Mutter, mit der sie Reis, Linsen und Lamm auf einen tiefen Teller füllte. Wenn er erwachte, hatte Amir weder den Geruch des Essens in der Nase, noch spürte er die Schmerzen nach dem harten Schwimmtraining. Lediglich das Dröhnen war in ihn gekrochen.
Er hatte keine Ahnung, wo seine Familie steckte, auf diesem dunklen Kahn. Beim Betreten des Schiffes durfte er nur nach vorn schauen und musste schweigen. Es war voll und eng. Als er sich umsah, waren sie verschwunden, sie hatten sich verloren. Er bekam nicht die Chance, nach ihnen zu suchen oder sie zu rufen.
Amir spürte nur die Leiber fremder Menschen, die sich still und stinkend an ihn drängten.
Amir friert. Es ist die zweite Nacht auf See. Eine unruhige Nacht. Das Schiff, das sie betreten hatten, stellte sich bei Tag als uralter Frachtkahn heraus. Er scheint Wind und Wellen beinah schutzlos ausgeliefert. Und damit auch die Menschen an Bord.
Nach dem überstürzten Aufbruch von zu Hause hätte er seinen Vater gerne gefragt, wohin die Reise denn geht. Es sind keine Ferien und mindestens ein Schwimmtraining würde er auch verpassen. Aber sein Vater ist verschollen. Zwischen den Menschenmassen an Bord untergetaucht. Hatte sich verflüchtigt, wie der Rest seiner - einst eng zusammenhaltenden - Familie.
Mit vierzehn ist er erstmals in seinem Leben führungslos.
Orientierungslos. Der einzige Halt ist die Sehnsucht nach seiner Familie und die Nähe zum Wasser. Ein Element, in dem er sich zuhause fühlt, welches er beherrschen kann. Jederzeit. Aber das, paradoxerweise - obwohl sie darauf vorwärts gleiten - weiter entfernt scheint als jemals zuvor.
Keinen Plan zu haben, macht ihn nervös. Seine Tage waren bis vor Kurzem gespickt mit Plänen. Beinahe jede Minute war verplant. Schulpläne, Trainingspläne, Aufgaben im Haushalt, feste Schlafenszeiten. Und Ziele. Die nächste Klassenarbeit, die nächste Bestzeit.
Und nun weiß er nichts. Nicht warum, nicht wohin!?
Amir hatte die Idee, dass es seinen Eltern, mit dem ganzen Militär in der Stadt zu eng geworden ist. Aber niemand hat mit ihm geredet. Wenn sie wegmussten, hätte doch Baba den Plan mit ihm besprechen können! Wenn das eine Flucht ist, dann musste die doch irgendwohin führen. Und was sollte er den Leuten dort erzählen, warum er da ist, wenn er Baba nicht wieder trifft? Ich weiß nicht. Mir ging es gut. Ich hatte fast alles, wovon ich träumte?
Das Wasser. Er muss das Wasser sehen. Darin eintauchen. Das würde ihm die Gedanken abnehmen. Atmen, schwimmen. Schwimmen, atmen.
Amir erhebt sich, soweit es geht, steigt über liegende Leiber hinweg, auf sie drauf. Irgendwo hatte er eine Luke, ein Bullauge gesehen. Riechen kann er das Wasser nicht, bei dem Gestank nach Urin, Schweiß und unguten Dämpfen. Auch das Schlagen der Wellen gegen die Bordwand vernimmt er nicht. Dazu dröhnen die Maschinen zu laut.
Er erreicht das runde Fenster. Draußen ist es dunkel und das Bullauge beschlagen oder verdreckt. Dennoch sieht er, wie aufgewühltes Wasser sich über sein Sichtfeld erhebt. Das befindet sich etwa auf Höhe des Meeresspiegels.
Die Sehnsucht wächst. Nach zwei Nächten Stillstand verlangt sein Körper nach Bewegung. Dahinein muss er gelangen. Dazu muss er raus aus dem Frachtraum.
Abgesehen vom anhaltenden Dröhnen ist es ruhig auf dem Schiff. Amir schleicht gebückt die Metallstufen hinauf. Er stößt auf keine verschlossenen Türen.
Der freie Blick aufs Meer. Es wogt. Nicht übermäßig doll. Beherrschbar sollte es sein, für einen geübten Schwimmer. Amirs schwarzes Haar fällt wellig über die Schultern. Er versucht zu erkennen, ob er nicht irgendwo Land entdeckt. Ganz hinten am Horizont sieht es danach aus. Seiner Schuhe hat er sich entledigt. Etwas wie Lampenfieber steigt in ihm auf, vor diesem letzten Sprung über die Reling. Dass der Frachter ihn nicht wieder einsammeln wird, wenn er ihn einmal verlassen hat, ist ihm klar. Das ändert nichts an seinem Entschluss. Er wird das kalte Metall hinter sich lassen, die Wellen um sich herum spüren, sich auf sie legen und sein Arm- und Beinschlag wird ihn vorwärtsbringen. Dafür hat er trainiert.
Die Lippen des Jungen bewegen sich stumm. Einige letzte Worte an seine Eltern und Familie. Er verspricht ihnen, wie immer, sein Bestes zu geben.
Der Mond versteckt sich hinter dunklen Wolken. Es regnet nicht.
Für einen Augenblick hat Amir einen Traum. Er sieht ihn klar vor sich. Er weiß, wie Gäste in seiner Heimatstadt behandelt werden. Wie kleine Könige. Jeder Wunsch wird ihnen von den Augen abgelesen. Wenn sie mit diesem Schiff nun sein Land verlassen, vor einem fremden Land ankern, dann müsste er doch .
Amir lächelt breit, nimmt Anlauf und hechtet über die...
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