KAPITEL 1: DIE STADT
Hannes Rebhan war 36, als er sich entschloss, seine Arbeit als erfolglos aufzugeben und neu zu studieren. Er hatte einige Jahre jüngere und ältere Schüler in verschiedenen Fächern unterrichtet, ganz wie es kam, obwohl er keine abgeschlossene Ausbildung vorweisen konnte. Das Leben - oder richtiger doch: ein pädagogisches Fehlverhalten - hatte ihn dann aber in eine Position gebracht, dass er sich in ein Heim für verhaltensauffällige Jugendliche versetzt sah. Er akzeptierte die neue Lage als Aufgabe, seine pädagogischen Befähigungen zu vervollkommnen; er fühlte sich aber auch erleichtert, dass eine doppelt unangenehme Situation auf diese Weise hinter ihm versank, denn zur gleichen Zeit war auch seine Ehe in die Brüche gegangen.
Die neue Stelle hatte er nicht sogleich antreten können. Eine unerklärliche Lähmung der Beine machte ihm zu schaffen und erforderte ärztliche Maßnahmen, die allerdings zu keiner Lösung führten; man stufte ihn schließlich als dauerhaft schwerbeschädigt ein. Die Heimleitung schien aber auch für eine halbe Lehrkraft im Rollstuhl dankbar, zumal durch den neuen Mitarbeiter der elementarste Unterricht gesichert werden konnte, denn der war aus Mangel an geeignetem Personal bisher teilweise ausgefallen.
Die ganze Heimsituation zeigte noch Merkmale eines Neubeginns; die Einrichtung habe sich erst nach der Wende hier angesiedelt, erfuhr er; das Vorgängerheim sei geschlossen worden, weil nach den Ereignissen von 1990 auch die Unterbringung und Betreuung von so genannten Problemjugendlichen neu zu überdenken und zu verändern war.
Verbindliche Vorgaben für die Beschulung in einer pädagogischen Sondereinrichtung lagen nicht vor, doch galt es beim Jugendamt und auch für die Eltern als ein gutes Zeichen, wenn die Jugendlichen während des Heimaufenthalts mit dem offiziellen Schulstoff in Kontakt blieben - wenn dieser auch den spezifischen Bedingungen entsprechend angepasst werden musste.
Nachdem Rebhan die Anfangsschwierigkeiten in der neuen Situation überwunden hatte und die tägliche Arbeit in Routine übergegangen war, fiel ihm auf, dass man auf diesem Gebiet ohne einen entsprechenden theoretischen Hintergrund werkelte. Wie aber sollte man ohne wirkliche Kenntnisse über Verhaltensauffälligkeiten die Ergebnisse erreichen, wie sie von einem Heimaufenthalt erwartet wurden? Zwar ging so hin, was man mit den üblichen pädagogischen Maßnahmen erreichte, mehr erwartete kaum jemand, aber ohne Modellvorstellungen, fand er, sei das alles weder zu verstehen noch zu verbessern; er müsse sich dazu neu qualifizieren.
Während seiner Kurzausbildung hatte er kein Wort von Verhaltensschwierigkeiten gehört; in der klassischen Pädagogik schien das Problem unbekannt zu sein. Aber die Psychologie werde dazu doch etwas sagen können, meinte er. Der Heimleiter betrachtete sein Ansinnen aber als Luxusunternehmen; wer brauchte noch eine private Weiterbildung in Sachen Psychologie, wenn er bereits im Berufsleben stand? Erst nach längerem Bohren genehmigte Borchert ihm einen freien Tag zum Studium als Gasthörer - wenn darunter der Unterricht nicht leide. Er möge das im Lehrerkollegium klären. Möglicherweise war dabei auch Rebhans Gehbehinderung, die ihn an einen Rollstuhl band, zu Buche geschlagen. Denn welches Unternehmen hätte diesbezüglich gerne mit dem Gleichstellungsanspruch gestritten? Die Angelegenheit kam aber auch dem Kollegium etwas verworren vor. Was wolle Hannes damit eigentlich erreichen? Er argumentierte, dass man erkunden müsse, durch welche neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse ihre Arbeit mit den Jugendlichen gestützt werde oder auch zu verbessern sei, und da diesbezüglich in der herkömmlichen Pädagogik offensichtlich nichts bekannt sei, habe er vor, sich in der Psychologie danach umzusehen, zumal das in der Stadt kostenlos und bequem möglich wäre, die Uni könne man sogar mit der Straßenbahn erreichen. Sein Unterricht ließe sich leicht auch auf vier Tage legen. Er bitte nur um eine geringe Änderung des Stundenplans. Kopfschüttelnd ließen sie ihn ziehen.
Rebhan kannte die Stadt nur flüchtig. Viel mehr als den Markt hatte er bisher kaum gesehen; seine Behinderung erlaubte ihm keine weiten Ausflüge, zumal das Areal nicht zu weiten Erkundungen einlud; Jena war wenig behindertengerecht angelegt. Er erinnerte sich eigentlich nur an ein monumentales, von grüner Patina überzogenes Standbild eines Ritters mit Schwert. Im Kollegenkreis erklärte man ihm, dass es sich um die Erinnerung an den Gründer der Universität handle, den ehemaligen Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, dessen Denkmal man "den Hanfried" nenne. An diese Auskunft hatte sich ein regelrechter Exkurs in Stadtgeschichte angeschlossen. Fiona, eine ältere Kollegin, die in der Heimschule Geschichte und Erdkunde gab, setzte sich dabei an die Spitze. Jena sei natürlich lange vor Johann Friedrich gegründet worden, führte sie aus, aber erst mit der Universität - der ersten offiziell reformatorischen Hochschule in Deutschland - habe die Stadt an Bedeutung gewonnen.
"Warum wird der neue Charakter so betont?" fragte er. Fiona wollte zu einer ausführlichen Geschichtsstunde ansetzen, doch das Klingelzeichen zum Unterrichtsbeginn verhinderte den Versuch. Auf dem gemeinsamen Heimweg nahm sie den Faden wieder auf. Sie schob dabei Hannes im Rollstuhl vor sich her - was keineswegs ungewöhnlich war, denn beide wohnten im gleichen Haus. Sie redete wie vor ihrer Klasse: "Der Aufstieg Jenas ist in den Ereignissen nach der Reformation zu suchen. Nicht nur die kirchlichen, auch die weltlichen Machtverhältnisse kamen ins Wanken. Die Bauern erhoben sich schon 1525 gegen ihre Unterdrücker, unterlagen insgesamt aber der Übermacht der Fürsten. Kaum zehn Jahre später gründeten die Sieger selbst ein Bündnis gegen eine Übermacht, die des Kaisers Karl V. Beides hängt ursprünglich mit den Gedanken Luthers zusammen, die mittelalterliche Kirchenordnung zu reformieren. Die praktische Umsetzung zeigte aber deutlich den engen Zusammenhang mit den weltlichen Interessen der damaligen Zeit. Bereits die Bauern hatten Luthers These von der 'Freiheit eines Christenmenschen' auf ihre materielle Lage bezogen, aber auch große Teile der damaligen Bevölkerung stimmte der neuen Lehre zu. Sogar zahlreiche Fürsten traten dem reformierten Glauben bei. In den meisten europäischen Ländern waren damit zwei Richtungen des damaligen Kirchenglaubens entstanden."
"Noch kann ich folgen", warf Hannes ein. Fiona ließ sich nicht verwirren. "Im Großmaßstab zeigte sich aber, dass die Glaubensfrage nur die Hülle der Machtinteressen darstellte; der Kaiser war weiterhin auf die Unterstützung der katholischen Kirche angewiesen und verteidigte die hergebrachten Positionen, die Reformierten vereinigten sich dagegen zu einem Bündnis, das ihre Interessen schützen sollte. Sehr bald zeigte sich, dass der sogenannte 'Schmalkaldische Bund' - dem die meisten reformierten Fürsten und viele Städte beigetreten waren - durchaus militärische Absichten verfolgte. Die Widersprüche entluden sich 1546/47 im Schmalkaldischen Krieg, den die konservativen Kräfte allerdings für sich entscheiden konnten."
"Fiona, es genügt. Wir sind angekommen. Vielen Dank für die Hilfe und Nachhilfe. Die Informationen waren sehr interessant, aber über Jena habe ich nichts gehört."
"Das war die Vorgeschichte. Ohne Vorgeschichte ist das Nachfolgende nicht zu verstehen, man kann es nicht in den Fluss der Ereignisse einordnen." Sie schob den Rollstuhl in sein Zimmer und war Hannes beim Aufstehen etwas behilflich. "Heute Abend dann den Rest", sagte sie und verließ den Raum. Sie wohnte eine Etage höher.
Gegen Abend erschien sie wieder und begann, ohne weitere Begründung ihren Vortrag fortzusetzen. "Geschichte ist ein interessantes Fach - vielleicht das interessanteste von allen; der Stoff endet nie, und je weiter wir uns von der Zeit des täglichen Geschehens entfernen, desto deutlicher treten Spuren gesetzmäßiger Vorgänge hervor ."
"Ja, ja, Fiona, gewiss", warf Hannes ein, "aber wollen wir nicht erst eine Tasse Kaffee zu uns nehmen, bevor wir wieder in die Vergangenheit eintauchen?" Sie sah ihn an, als könne er nicht recht bei Trost sein, sie bei den wichtigsten Erkenntnissen der Welt zu unterbrechen. Nach einigen Atemzügen wandte sie sich wortlos der Kaffeebereitung zu. Hannes war betroffen von der Auswirkung seiner Bemerkung. "Entschuldige - ich bin so ein grober Klotz! Ich habe überhaupt keine Ahnung von Geschichte; auf diese Bedeutung des Faches hat man uns nie hingewiesen. Sicher, man hätte sich selbst um ein Verständnis bemühen sollen, aber wenn man jede Sache erst von dieser Seite betrachten sollte, wäre alle Hoffnung ."
"Die Plätzchen...