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6. Februar, zwölf Tage vor dem Fasalecken-Umzug
Am meisten nervt mich im Februar das Wetter. Nasskalte Novembertage stecke ich locker weg genau wie graue Dezembervormittage oder eisige Januarnächte. Aber Anfang Februar ist dann Schluss mit lustig, da warte ich nur noch aufs Frühjahr, starre jeden Morgen erwartungsvoll aus dem Fenster und hoffe, dass sich im mickrigen Hinterhofbeet die ersten Schneeglöckchen aus dem gefrorenen Erdreich schieben. Aber nix da, da kann ich lang schauen. Im Februar ist es in unserer Gegend noch saukalt, es herrscht tiefster Winter mit Schneestürmen, vereisten Straßen und schneidendem Nordwind, der durch menschenleere Straßen pfeift und leere Chipstüten, achtlos weggeworfene Bierdosen und anderen Müll vor sich hertreibt. Total trostlos, irgendwie.
So wie heute Morgen. Es ist 6.45 Uhr in der Früh, dicke, feuchte Flocken fallen vom Himmel, und ich stehe frierend am Fenster unseres Polizeipostens und klammere mich an meine dampfende Kaffeetasse, in der Hoffnung, draußen etwas, oder besser noch jemanden, zu entdecken, der meine Laune um ein paar Zentimeter heben könnte. Aber der Einzige, der in mein Blickfeld torkelt, ist der Wirtshausschläger Leo Poldner, das versoffene Überbleibsel der »Friedens- und Klimademo«, auf der gestern am frühen Abend ein paar traurige Gestalten Wind und Wetter getrotzt haben, um lautstark mit selbst gemalten Pappschildern herumzuwedeln, bis diese der Nässe wegen zu feuchten Haufen zusammengefallen sind. Wahrscheinlich wollten die paar Klimahansel nur checken, ob es sich lohnt, am Glühweinstand festzukleben. Keine Chance, weil der Wein nur ein billiger Fusel, lauwarm, zuckersüß und viel zu teuer war. Deswegen sind die Klimakteriker, wie ich sie für mich nenne, nach einer halben Stunde wieder heim vor die warme Ölheizung gekrochen, und mein Kollege und ich sind in unsere gut geheizte Amtsstube zurückgefahren. Nur Klimaaktivist Poldner hat in Gesellschaft einer mittlerweile fast leeren Wodkaflasche tapfer bis heute Morgen durchgehalten.
Jetzt umschlingt er mit einem Arm den Laternenpfahl, um ein paar Minuten zu verschnaufen und sich einen Schluck Schnaps in den Hals zu gießen. Dabei fällt sein Blick auf mich, weil meine Silhouette im diffusen Dämmerlicht von der Straße aus bestimmt gut sichtbar ist, wenn hinter mir die Schreibtischlampe brennt. Einen Moment lang glotzt er mich aus triefenden Säuferaugen an, dann dreht er sich um, zieht seine schmierige Jeans bis an die Knie hinunter und streckt mir seinen schlaffen weißen Altmännerarsch entgegen. »Mooning« nennen das die Amerikaner, wenn jemand auf diese Art seine Missachtung ausdrückt. Wenn der Tag schon mit solchen Einblicken beginnt, wie bitteschön soll er dann enden, frage ich mich. Eigentlich müsste ich jetzt hinausgehen und den Poldner wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen, aber dazu fehlt mir die Energie. Wenn ich ihn in unsere einzige Zelle sperre, kotzt er bestimmt alles voll. Und wer macht dann sauber? Richtig, POM Emmerling.
POM Emmerling, das bin nämlich ich, und ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, mich vorzustellen. Mein Name ist Evita Emmerling, Polizeiobermeisterin im Polizeiposten Baiersdorf am Rande der Fränkischen Schweiz. Evita Emmerling, das klingt so pseudo-exotisch wie Fatima Holzapfel, und ich weiß bis heute nicht, was sich meine Eltern bei dieser Namenskombination gedacht haben. Vielleicht waren sie bei der Namensfindung bekifft, keine Ahnung.
Als ich mit 28 geheiratet habe, hätte ich nur zu gern den Namen meines Göttergatten angenommen, aber Evita Muschelknauz klingt, wenn möglich, noch bescheuerter als Evita Emmerling. Deswegen habe ich meinen Mädchennamen behalten, sehr zum Ärger meines Mannes, den übrigens alle nur »Muschikauz« nennen. Mit einem solchen Namen kannst du dir doch nirgendwo Respekt verschaffen, vor allem nicht als Frau, vor allem nicht bei uns auf dem Land. Polizeiobermeisterin Muschikauz, also ehrlich. Aber das ist mittlerweile eh Schnee von gestern, weil ich seit zwei Jahren glücklich geschieden bin.
Ich, POM Emmerling, 42, mittelgroß, mittelschlank, mittelblond (drei blaue Sterne, 2. Qualifikationsebene), bekennende Singlefrau, leite seit vier Jahren unseren kleinen Polizeiposten. Mir zur Seite steht Polizeioberwachtmeister (POW) Ludger Dauer, 23 Jahre, athletisch, gut aussehend (ein blauer Stern, auch 2. Qualifikationsebene), seit der Grundschule in Olgas festen Händen. Unser gemischtes Doppel ist von 7 Uhr morgens bis abends 18.30 Uhr im Dienst, wobei wir uns auf eine Art Schichtdienst geeinigt haben, damit wir nicht nahezu zwölf Stunden am Stück im Einsatz sind. Ich bin zeitig in der Früh im Büro, weil ich den kürzeren Arbeitsweg habe, der Ludger kommt irgendwann nach 8 Uhr bei Wind und Wetter mit dem Mountainbike angeradelt. Dafür ist für mich um 5 Uhr nachmittags Schicht im Schacht, und der Ludger hält die Stellung bis Dienstschluss. In Notfällen bin ich aber auch spätabends noch für unsere Bürger ansprechbar, weil ich - ähnlich wie die selige Queen - über dem Shop in einer Dienstwohnung hause. Zwar nicht ganz so königlich wie sie, aber genauso ungern, weil man ständig mit Störungen jeder Art rechnen muss. Wie die Queen, die laut der Yellow Press lieber in Clarence House gewohnt hätte, würde ich auch ein anderes Domizil vorziehen. Der Polizeiposten ist in einem alten Backsteingebäude untergebracht, das viel Ähnlichkeit mit dem aus der Serie Mord mit Aussicht hat und zentrumsnah in der Forchheimer Straße liegt. Ich würde ja lieber am Rathausplatz in einem der malerischen Fachwerkhäuser aus dem vorigen Jahrhundert residieren, aber Job und Wohnung gehören in diesem Polizeiposten nun mal zusammen. Trotz allem ist meine Wohnung, bestehend aus zwei großen Räumen, einer Wohnküche und einem altmodischen Bad, ganz kuschelig, und mein Weg zur Arbeit erfreulich kurz.
Baiersdorf ist ein idyllisches Städtchen, das genau zwischen der Universitätsstadt Erlangen und der Königsstadt Forchheim liegt. Dort befindet sich auch die nächstgelegene Polizeistation mit mehreren Beamten, an die wir uns im Notfall wenden können. Notfall? Welcher Notfall denn, bitteschön? Unsere ermittlerischen Aufgaben beschränken sich fast ausschließlich auf Ladendiebstähle im Lebensmittelladen von Oma Ruprecht, Falschparken vor der Mittelschule oder Wildbieseln an der Friedhofsmauer. Manchmal werden wir auch gerufen, wenn es im oder vor dem Wirtshaus zu körpernahen Kontakten in Form einer Rauferei kommt, aber das erledigt sich meistens von allein, und wir fungieren dabei eher als Zuschauer. Meist hat der Poldner bei solchen Aktionen seine Fäuste im Spiel, wenn er nicht gerade bei Nachbarn Fenster einschlägt, Autoscheibenwischer herausreißt oder einen Vorgarten zertrampelt, weil er sich vom Eigentümer belästigt oder beleidigt fühlt. Das ganze Städtchen freut sich, wenn er wieder einmal für ein paar Monate in die JVA einfährt, denn dann herrscht in Baiersdorf ein geradezu paradiesischer Frieden.
Obwohl Baiersdorf seit dem Jahr 1353 Stadtrechte besitzt, ist es eigentlich eher ein großflächiges Dorf als eine echte Stadt. Baiersdorf ist bekannt für den besten und schärfsten Meerrettich Deutschlands. Früher gab es hier das weltweit einzige Meerrettich-Museum, aber das hat seit Kurzem geschlossen. Ansonsten hätten wir im kulturellen Bereich Ende September den Krenmarkt zu bieten oder Anfang Dezember den Adventsmarkt. Und seit 20 Jahren wird bei uns die Meerrettichkönigin gekrönt. Bei der Jugend heißt das Event nur das Miss Meerrettich Monitoring, abgekürzt MMM, dem vor allem die weiblichen Schönheiten aufgeregt entgegenfiebern. Ach ja, unser größtes Highlight, den Fasalecken-Umzug am Faschingssonntag, hätte ich um ein Haar vergessen, obwohl es in zwei Wochen wieder einmal soweit ist. Junge Effeltricher Burschen mit bunten Hüten treiben den Winter in Gestalt von Strohbären durch Baiersdorf, um ihn dort mit viel Geschrei und Tamtam zu verbrennen, ein Spektakel, das Besucher aus der ganzen Region in unser Städtchen lockt. Faschingssonntag ist wirklich jeder mit dabei, der sich auf den Beinen halten kann, vom Kleinkind bis zum Opa. Zu unserer Überraschung erschienen nach den verschiedenen Corona-Lockdowns so viele Besucher zu dem Event, dass wir im letzten Jahr Kollegen aus Forchheim anfordern mussten, die uns bei den Straßensperren und der Begleitung des Umzugs zur Hand gingen. Ein Menschenauflauf war das, so was kann sich keiner vorstellen. Weit mehr als 1000 Zuschauer strömten aus Erlangen, Bayreuth, Bamberg, Nürnberg und Ansbach ins beschauliche Baiersdorf, um beim Fasalecken-Treiben dabei zu sein. Nicht schlecht für ein kleines Städtchen, würde ich meinen.
Während ich den Poldner dabei beobachte, wie er mit erhobener Faust den vorbeifahrenden Autos Flüche hinterherbrüllt, wird die Tür aufgerissen, und ein eisiger Windstoß fegt den Ludger in die Amtsstube.
»Servus, Evita!«, grüßt er zu mir her, bevor er seinen Sportrucksack auf den Schreibtisch knallt. »Gibt's da draußen wohl was Interessantes zu sehen?«
Ich schüttle den Kopf und lasse mich auf meinen Bürostuhl fallen, gespannt auf das nun folgende Schauspiel. Denn jetzt schält sich der Ludger aus seiner wetterfesten Luxus-Outdoor-Jacke. Darunter trägt er, wie jeden Tag, ein Franken-T-Shirt, heute mit dem Aufdruck: »Droll di, du Doldi«, was auf Deutsch so viel heißt wie: Hau ab, du Idiot. Der Ludger ist Franke mit Leib, Herz und Seele, der seine Gesinnung am liebsten auf allerlei merkwürdigen Bekleidungsstücken zur Schau stellt. Mir wurscht, solange er darüber...
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