Schweitzer Fachinformationen
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An dem Nachmittag, als Esther Wilding an der Küste entlang nach Hause fuhr, ein Jahr nachdem ihre Schwester ins Meer gegangen und verschwunden war, hatte das Licht eine schmerzhaft goldene Färbung.
Es war März, diese Übergangszeit auf der Insel, wenn die Gezeiten sich langsam änderten. Vom Meer her wehten kühle Winde durch die Blauen Eukalypten. Herden von Robben verließen ihre im Sommer geborenen Jungen, um jagen zu gehen, und Kolonien von Trauerschwänen machten sich daran, ihre Nester für die Winterbrut zu bauen. Im März stand das Sternbild Schwan tief am Horizont und war im Tageslicht nicht zu sehen.
Esther schaltete einen Gang zurück, nahm den Fuß vom Gas und beobachtete, wie die Sonne das Meer mit einem goldenen Funkeln versah. Das war Auras liebste Jahreszeit gewesen. Sie hatte sie das goldene Dazwischen genannt, mit einer von Staunen erfüllten Stimme. Wir können ins Meer eintauchen und zwischen dem Darüber und dem Darunter schweben, Sternchen. Genau dann ist der Schleier zwischen den Welten durchlässig, und alles, wovon du träumst, ist möglich. Wann immer Aura darüber sprach, lag dieses verschmitzte Funkeln in ihren Augen. Esther wiederum konnte sich nicht verkneifen einzuwenden, dass da gar kein Schleier sei, weil es ja nur diese eine Welt gebe - weshalb Aura das denn nicht verstehe? Meine kleine Wissenschaftlerin, hatte Aura sie dann immer geneckt und wild mit den Händen gestikuliert, was ihre Holzarmreifen klackern ließ. Eines Tages werde ich die Träumerin in dir schon noch finden.
Eine Bö wehte durch Esthers heruntergelassenes Fenster herein und führte diese bunte Duftmischung von zu Hause mit sich: Eukalyptus, Salz und Holzfeuer. Sie wandte den Kopf ab, als könnte sie ihm so entkommen. Neben ihr schimmerte das türkisfarbene Meer, und im Auf und Ab der kleinen Wellen, die sich über den weißen Sand kräuselten, tanzte rhythmisch der Blasentang. Unsere Körper, unsere Körper. Esther umklammerte das Lenkrad, als sie über eine Kuppe und dann um eine Kurve fuhr, hinter der in der Ferne die sieben mit leuchtend orangefarbenen Algen und Flechten bedeckten Granitfelsen vor ihr auftauchten. Aura, wie sie Unsere Körper, unsere Körper singt, während sie durch die Untiefen wirbelt und die Algenfinger sich um ihre Knöchel schlingen. Esthers Knie zuckte nervös auf und ab. Sie kaute ihren Daumennagel ab, bis sie Blut schmeckte. Dann schob sie den Daumen in ihre Faust, presste diese zusammen und seufzte verdrossen. Sie schaltete das Radio erst ein und nach einem Moment blecherner Popmusik wieder aus.
Esthers Aufenthalt an der Westküste der Insel während der letzten zwölf Monate war eine Flucht gewesen. Das Leben in diesem alten, von Flüssen und Regenwald durchzogenen Land entsprach genau dem Vergessen, nach dem sie gesucht hatte. Ein Ort ohne Erinnerungen, mit Ausnahme derjenigen, die sie dort jeden Tag neu erschuf. An diesem westlichen Rand der Insel, am Rand der Welt, hatte Esther einen Ort gefunden, an dem sie atmen konnte. Doch nachdem sie an diesem Morgen losgefahren und an der Kreuzung abgebogen war, wo die Schotterstraße auf den Highway führt und der Regenwald in trockenes Weideland übergeht, entstand ein Engegefühl in ihrer Brust. Selbst dann, als der reine Geruch der Eukalyptusbäume langsam durch die Lüftungsschlitze ihres Pick-ups hereinwehte, konnte sie nicht frei atmen.
Den ganzen Tag über hatte Esther das Gefühl gehabt, sich außerhalb ihres Körpers zu befinden, als würde sie sich selbst beim Fahren zusehen. Mit fünfzehn hatte sie die Topografie dieser Küstenstraße gelernt, als die damals achtzehnjährige Aura ihr das Fahren beigebracht hatte. Esther beobachtete sich dabei, wie ihre Hand die Gangschaltung bediente, während ihre Füße in den Kurven die Pedale betätigten. Sie sah, wie sie sich in die Kurve lehnte und an der Klippe nach dem Blauen Rieseneukalyptus mit der Schaukel am Ast Ausschau hielt. Wie sie sich nach innen beugte, als es über die niedrige Brücke ging, und bald darauf nach hinten, um die Segelboote zu sehen, die um den Felsenpool mit den pinken Muscheln und den grünen Algen vertäut waren. Schon vor dem nächsten, noch verborgenen Hügel lehnte sie sich nach vorn, und bereits vor der nächsten nicht einsehbaren Senke nahm sie den Fuß vom Gas.
So waren sie immer nach Hause gekommen. Zusammen. Mit heruntergelassenen Fenstern, die salzige Meeresluft im Gesicht. Der Fußraum des Pick-ups übersät mit Chupa-Chups-Papier und Auras Zigarettenblättchen. Auf dem Armaturenbrett Muscheln und Banksiazapfen. Stevie Nicks, Janis Joplin und Melanie Safka aus der laut aufgedrehten Stereoanlage. Esthers Herz hatte vor lauter Sehnsucht und Ehrfurcht für ihre große Schwester schneller geschlagen, obwohl sie doch direkt neben ihr gesessen hatte.
Esther drückte aufs Gas und schämte sich für ihr kindliches Unvermögen, zu akzeptieren, dass das Meer, der Wind, die Bäume und die Sterne weiter existierten - auch ohne Aura. Und doch rollten die ungestümen Wellen wie eh und je ans Ufer. Trauerschwäne watschelten an den Sümpfen entlang. Und da standen sie, die sieben Felsen, eng zusammengedrängt hielten sie die angestaute Wärme des Sonnenlichts in ihrer Mitte fest wie ein Geheimnis. Obwohl Esthers Gefühle sich dagegen sträubten, erinnerte sich ihr Körper an den Heimweg. An den Weg zu dem Ort, wo sie immer schon und vor allem Aura Wildings kleine Schwester gewesen war.
Als sie den letzten Anstieg hinauffuhr, erhaschte Esther einen Blick auf eine Skulptur am Straßenrand neben dem Meer, eine Frau im Bikini, die Hände an den Hüften, wehendes Haar, lächelnd. Sie hatte keine Füße, denn die Beine verschwanden auf Kniehöhe in einem mit Wellen versehenen Steinblock mit dem auffallenden Schriftzug Welcome to Binalong Bay. Diese Skulptur begrüßte und verabschiedete die Menschen hier schon, solange Esther zurückdenken konnte. Als Kind mit leichtem Hang zur Klaustrophobie hatte Esther beim Anblick des Binalong-Bay-Mädchens immer schwitzige Hände bekommen und war kurzatmig geworden - dieses erstarrte Lächeln, die Haare, der Bikini, die Beine im steinernen Meer, für immer gefangen. Esther hatte nicht gewusst, wie sie anders auf diese Skulptur reagieren sollte, bis sie älter war und Aura sie im Pick-up zu einer ihrer gemeinsamen Fahrstunden mitgenommen hatte.
»Ich weiß, wie die Skulptur dir Spaß machen könnte«, hatte Aura gesagt, als sie am Steuer saß.
Esther hatte den Kopf geschüttelt und finster dreingeblickt.
Auras Schultern schimmerten im Nachmittagslicht, als sie ihrer Schwester mit hochgezogener Augenbraue einen Seitenblick zuwarf. »Und was, wenn ich es mal ausprobiere? Jetzt gleich?«
Als sie an der Skulptur vorbeikamen, ließ Aura ihr Fenster herunter, streckte den Arm nach draußen und hielt ein imaginäres Schwert in die Höhe. »Schwestern der Robben- und Schwanenhäute! Séala und Eala!«, jauchzte sie. »Erhebt eure Schwerter und eure Stimmen!« Der Wind hatte Auras schallendes Gelächter mit sich fortgetragen. »Komm schon, Sternchen, du bist dran!«
Esther umklammerte das Lenkrad fester. Sie saß jetzt da, wo einst ihre Schwester gesessen hatte. Hatte die Hände da, wo die ihrer Schwester gewesen waren. Im Rückspiegel wurde das Binalong-Bay-Mädchen immer kleiner.
Während die Landspitze und Salt Bay näher rückten, pochte es in Esthers Kopf. Der schreckliche Kater, mit dem sie am Morgen aufgewacht war und den sie mit Paracetamol bekämpft hatte, holte sie wieder ein. Sie war seit knapp sieben Stunden unterwegs, einschließlich der Pausen, die sie machen musste, wenn sie die Übelkeit nicht länger unterdrücken konnte. Sosehr sie diese Fahrt endlich hinter sich bringen wollte, so unangenehm stieß ihr doch jeder zurückgelegte Meter auf, der sie vom bevorstehenden Heimkommen trennte. Ihr Gesichtsfeld wurde an den Rändern unscharf, vor Müdigkeit sah sie dunkle Flecken, und die Angst trübte ihren Blick. Flüchtig sah sie zu den Taschen im Fußraum der Beifahrerseite, versuchte sich daran zu erinnern, in welcher die Papiertüte mit den bunten Lollis steckte, die sie bei ihrem letzten Tankstopp mitgenommen hatte. Ein Zuckerkick würde ihr helfen durchzuhalten. Sie nahm den Fuß vom Gas, sah einen winzigen Moment lang nicht auf die Straße.
Dann passierte alles gleichzeitig.
Etwas knallte gegen die Windschutzscheibe, die zwar zersprang, aber nicht herausfiel. Esther stieß einen entsetzten Schrei aus. Durch den heftigen Aufprall zuckte sie zusammen und kam von der Straße ab, trat auf die Bremse und schlingerte über den Kies. Ein widerlicher Geruch nach Gummi und Verbranntem stieg auf.
In einer Wolke aus Staub und Kies kam Esther schließlich zum Stehen. Ihr Atem ging keuchend, ihr Herz pochte wie wild, und sie zitterte am ganzen Körper. Verwirrt und orientierungslos streckte sie die Hand zur Tür, stieg aus und stand dann auf wackeligen Beinen da. Ihr Verstand begriff nicht, was sie vor sich hatte: die kaputte Windschutzscheibe, die Kuhle im verknautschten Metall, wo noch vor wenigen Momenten die Motorhaube ihres Pick-ups gewesen war, als bestünde sie aus weichem Ton, der sich von sanften Fingerspitzen formen ließ. Sie starrte auf die demolierte Vorderseite ihres Pick-ups. Die Windschutzscheibe barst immer weiter, zersplitterte immer mehr, war aber noch immer nicht herausgesprungen. Mitten auf dem zerborstenen Glas lag eine entsetzlich reglose Trauerschwänin, blutüberströmt, ihr eleganter Hals leblos, schlaff.
Esther schrie erneut auf, presste die Handflächen an die Schläfen und versuchte sich zu orientieren....
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