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»Nein ernst, als ob das komisch wär« Joachim Ringelnatz - Kobold, Artist, Kunstmaler, Wortfeuerwerker
von Alexander Kluy
Spukschlösser gibt es nicht wenige. In Frankreich, in Österreich, in Irland. Natürlich und erst recht im spooky Vereinigten Königreich und Nordirland. Im hohen Norden Englands, am Übergang zu Schottland, steht etwa das so passend benannte wie unheimlich heimgesuchte Chillingham Castle (chill heißt auf Deutsch Schauer oder kühler Hauch). Es gibt Spukburgen und Spukhäuser. Vor Längerem gelesene Bücher spuken durch die Nebel der Erinnerung und des eigenen Gedächtnisses. Gibt es auch längst verstorbene Autoren, die herumspuken? Zumindest gab es einige, die an Geister und an Spukerscheinungen glaubten. Nach weitaus mehr Autorinnen und Autoren sind Häuser benannt und Literaturmuseen, Plätze und Straßen. Joachim Ringelnatz, einst im Leben schon nicht groß, machte sich diesbezüglich noch kleiner. Und trat noch bescheidener auf. Denn selber wünschte er sich im Gedicht Ehrgeiz wahrhaftig nicht viel: nur ein Gässchen, das nach ihm benannt werde, zum alleinigen Herumspuken. München, die Stadt, in der er am längsten lebte, benannte im Jahr 1953 einen rund 100 Meter kurzen schnurgeraden Weg im Stadtteil Solln nach ihm. Er aber hatte sich ein »krummes Gäßchen, mit niedrigen Türchen« gewünscht, »mit steilen Treppchen und feilen Hürchen / Mit Schatten und schiefen Fensterluken«. (In seiner Geburtsstadt Wurzen ist die Ringelnatzstraße noch kürzer als der Weg in München.) Dort, ja dort, in dieser Gasse, »würde ich«, schrieb Ringelnatz, »spuken«. Und nicht auf Chillingham Castle, wohin er nie kam.
Woher kam er denn? Wo kam Joachim Ringelnatz her?
»DER RINGELNATZ kam die bordeauxweinroten Ozeane heruntergeschwommen, zwischen bottle and battle, weiß Gott woher, setzt er unvermittelt auf tiefsten Grund eines Witzes höchste Spitze. Vielleicht aus des Wanderers Rimbaud Lenden entsprungen irgendwo zwischen Abessynien, dem Niederrhein und der Welt.«1 Als Franz Blei 1922 Ringelnatz so im Großen Bestiarium der Literatur besang, war dieser der jüngste Autor, der darin mit spitzer Feder kurzporträtiert wurde. War er doch gerade einmal drei Jahre alt.
»Joachim Ringelnatz« war erst im Dezember 1919 in die Welt und auf ihre Bühnen gesprungen. Von einem Schriftstellersohn erfunden, der geboren wurde im sächsischen Wurzen, in Leipzig aufwuchs, aus romantischer Neigung zur See fuhr und zwischen Surinam, Odessa und Norwegen die Meere durchkreuzte und durchlitt, der zum Hungerkünstler aus Not wurde und in tausend Nöten war, der sich in vielen bürgerlichen Berufen erprobte und in einem jeden scheiterte, der träge Kriegsjahre hinter sich hatte - und 1919 neu erstand: Joachim Ringelnatz. Und mit ihm Kuttel Daddeldu, der Mariner larger than life, in dessen Körper sein Finder/Erfinder, einst Leutnant zur See, derart überzeugend ungebärdig schlüpfte, dass er im Lauf der Jahre so manchen Brief als »Kuttel« zeichnete. Und der ein solch artistisches Verwirrspiel präsentierte, zwischen Raffinesse und Frivolem, zwischen hochamüsantem Pathosbruch und herzbrechender Einfühlsamkeit schillernd, wie es das Publikum bis dato noch nicht erlebt hatte.
Dabei war es in seiner facettenreichen verspielten Art, von vielen fälschlich als naiv eingeordnet, ein anarchisch-modernes Maskenspiel des Ichs, waren seine Gedichte so unverwechselbar und eingängig, dass sie Allgemeingut wurden, populär waren, bis heute rezitiert werden und hinreißend lebendig geblieben sind.
»Der kürzlich verstorbene Joachim Ringelnatz >Aus Wurzen an der Wurze< (= Hans Bötticher 1883-1934) ist gebürtiger Wurzener und der Sohn eines Zeichners aus der Tapetenfabrik, der selbst poetische Schilderungen des Kleinstadtlebens (Allotria, Neues Allotria) brachte. Nach langen Jahren des Umherschweifens als Matrose begann er zu dichten und zu zeichnen, war mehrfach Bibliothekar in großen Privatbüchersammlungen und trat schließlich als Vortragskünstler auf. In seinen Gedichten mischt sich in eigenartiger Weise groteske Phantastik mit warmem Empfinden. Nach Jahren schweren Leidens starb er in völliger Armut in Berlin«, das schrieb bemüht ein sächsischer Lokalhistoriker.2
»Wurzen!?!?! - ach du liebe Zeit! Mein Wurzen.«3 Alles begann in der Mulde-Stadt. Mit Nässe und Feuchtigkeit. Mit Farben. Mit Angst und mit Weinen. Und mit der Sonne. »Ein Dienstmädchen trug mich auf dem Arm oder führte mich an der Hand.« So lautet der erste Satz seines Erinnerungsbuches Mein Leben bis zum Kriege (1931). »Es war noch jemand dabei. Wir standen am Rande eines trostlos schlammfarbenen Wassers, das in die Stadt eingedrungen war und - wenn mein Kleinkindergehirn recht verstand - immer höher stieg. Und der Himmel war gewittergelb. So schlimm, so trostlos war das!«4 Am 7. August 1883 kam Hans Gustav zur Welt. Sein Vater, Georg Bötticher, war gefragter Musterzeichner von Tapeten und Teppichen. Ende März 1888 verließ die Familie Wurzen und zog ins 30 Kilometer entfernte Leipzig. Die Musterzeichnungen des Vaters gingen nach Paris und Schweden, nach Russland und in die USA. Nach 1900 verschlechterte sich seine Sehkraft. Ab dem Jahr 1905 war er nur noch literarisch tätig. Was er schon seit Mitte der 1870-er Jahre gewesen war, er hatte beliebte Humoresken, Parodien, ironische Gedichte verfasst. War Leipzig 1871 die achtgrößte deutsche Großstadt gewesen, so 1895 mit 566 000 Einwohnern nach Berlin, Hamburg und München die vierte. Leipzig war nach der Jahrhundertwende Industriekapitale und Zentrum der Arbeiterbewegung. Und: Leipzig war Bücherstadt, Deutschlands literarisches Epizentrum.
Für den kleinen Hans war »der größte Eindruck der Fluss mit seiner Uferromantik. Zwischen den Löchern und dem wirren Gestrüpp der steilen Abhänge kletternd, kämpfend, forschend, erlebte ich die Abenteuer meiner Sehnsucht voraus. Der Fluss trug seltsame Gegenstände vorbei. Am andern Ufer war eine Pferdeschwemme. Es war ein spannendes Schauspiel, wenn dort Rosse ins Wasser geritten oder geführt wurden. Einmal, zweimal trieben dort Leichen an. Noch unheimlicher waren die hohen alten Pappeln an unserem Ufer. Die hohen Pappeln mit ihrem zitternden und schillernden Blättermillionen-Gewoge. Im Sturme neigten sie sich so beängstigend tief hin und her, als drohten sie, jeden Moment auf uns hereinzubrechen. Sie rauschten unsagbar unheimlich in meine einsame Kinderphantasie.«5
Der Vater war die Leitfigur des Drittgeborenen. Ihm eiferte er nach. Zur Mutter bestand ein eher gespanntes Verhältnis. »Mutterliebe fehlt uns beiden. Schade! aber es muß auch ohne die gehn«, bekannte er Jahre später.6 Hans war ein aufgeweckter Junge, fing sich blaue Flecken und so manche Beule ein. Er fing an zu malen, heitere Verse zu verfassen, kleine Geschichten zu erfinden. Mit neun Jahren schenkte er dem Vater zu Weihnachten ein selbst geschriebenes und eigenhändig illustriertes Büchlein.
Die Schulzeit war bis zum Ende quälend. In den Pausen war er der Allotria treibende Clown, der Streiche spielte, bockte und wider Disziplin und Regeln löckte. Die Zeugnisse stürzten nicht nur ihn in Not und Verzweiflung. Das Betragen des Jungen mit dem hellblonden Haar und dem offenen, gewitzten Gesicht wurde mit der schlechtesten Kopfnote, einer Fünf, bewertet.7 Mit 14 wurde er des Staatsgymnasiums verwiesen. Die Eltern steckten ihren ungebärdigen Sohn in eine der gefürchtetsten »Pressen« Leipzigs, in eine Drill-Einrichtung. Rettung war der weichherzige, sensible Vater. Was Hans durch den öden Alltag des Paukens brachte, war seine Passion fürs Zeichnen und Malen. Und Lesen. Er las viel, sehr viel. Im März 1901 bestand er die Abschlussprüfungen - am verblüfftesten darüber: er selbst. Nun entschied sich Hans Bötticher für Schwankendes. Fürs Meer.
Die Marine löste um 1900 mythische Träume von Macht, Kolonien und einem »Platz an der Sonne« aus. 1901, mit 17, fuhr Hans Bötticher zur See. Statt maritimer Romantik erlebte er mit den O-Beinen, der großen Nase und dem sächsischen Tonfall das Gegenteil: Entbehrungen, Härte und schwere körperliche Arbeit, eine rigide Hackordnung, Hänseleien und Demütigungen. Die abenteuerlichen Szenen an fernen Küsten, die er sich in Leipzig ausgemalt hatte, blieben aus. Er kam weit herum, nach Britisch-Honduras, dem heutigen Belize, nach Großbritannien, befuhr Nord- und Ostsee, die Levante, den Atlantik.
1903 endete sein wechselhafter Dienst. Da Hans Bötticher die neuen gesetzlichen Vorgaben einer bestimmten Sehstärke nicht erfüllte, verbot ihm die Berufsgenossenschaft fürderhin anzuheuern. Nicht übermäßig geknickt, entschied er sich für eine Arbeit als Kaufmann. In Hamburg. Für ein Jahr. 1904 wurde er zum...
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