Schweitzer Fachinformationen
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Paris und ich
Mit beiden Händen packe ich den Griff meines grünen Koffers und hieve ihn die zwei Stufen aus dem Zug auf den schmierigen Bahnsteig. Die warme Juniluft schlägt mir entgegen, riecht nach verbranntem Bremsöl und dem aufdringlichen Parfüm des Mannes, der sich hinter mir aus dem Zug drängt und anfängt zu rennen. Die Stimmen in dem gewaltigen Bahnhof sind laut, und überall dröhnt die Maschinerie der Lokomotiven. Das Gewusel aus Menschen und Farben überfordert mich, verschwimmt vor meinen Augen. Ich packe meinen Koffer fester und mache, dass ich von hier fortkomme.
Ich habe es mir anders vorgestellt, in Paris einzutreffen. Irgendwie romantischer. Wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film, mit tanzenden Damen in schicken Kleidern und mit höflichen Gentlemen, die einem eine Schneise freigeben, um adrett aus dem Zug zu schweben. Mit Glück im Herzen und Leichtigkeit in der Seele und einem Croissant in der Hand. Oder so.
So hätte ich es zumindest geschrieben. Doch die Realität ist selten so verträumt wie meine Romane.
Stattdessen klebt mir mein Rock knitterig an den verschwitzten Beinen, mein Magen ist leer, weil ich vergessen habe, mir etwas zu essen einzupacken, und ich komme in dem Gewühl kaum vorwärts. Ein Typ in Trainingssachen rempelt mich an, ohne sich dafür zu entschuldigen, und reißt mir dabei beinahe die Umhängetasche von der Schulter.
»Geht's noch?!«, rufe ich ihm erbost hinterher, doch er hat Kopfhörer in den Ohren und hört mich gar nicht. Außerdem bin ich auch nicht mehr in Deutschland, und er hätte mich höchstwahrscheinlich gar nicht verstanden.
Mir ist warm, unter meinen Armen bilden sich bereits Schweißflecken auf meiner weißen Baumwollbluse, und mein Rollkoffer schlägt mir immer wieder schmerzhaft in die Hacken, wenn er über den unebenen Asphalt hoppelt.
Ich habe nicht erwartet, dass es mir so schnell zu viel werden würde. Was habe ich mir nur dabei gedacht, in den Zug zu steigen und nach Paris zu fahren?
Heute Nacht, in meiner Verzweiflung zwischen Schreibblockade und Chaos im Kopf, hat es wie eine fantastische Idee geklungen. Jetzt, wo ich hier bin, schwankt meine Entschlossenheit gewaltig, und ich kann nur hoffen, dass sich dieser Kurzschluss in meinem Kopf als eines meiner wenigen genialen Abenteuer herausstellt und nicht als einer meiner vielen Fehltritte.
Ich schlängele mich zur Metro, checke dreimal die Anzeige auf meinem Handy, um auch wirklich in die richtige einzusteigen, und habe das unbestimmte Gefühl, dass alles ganz anders aussieht als beim letzten Mal.
Ich muss in die Linie 4 und von dort in die 12 nach Montmartre. Nicht mehr weit, und dann komme ich .
Als ich versuche, auf dem gesprungenen Display die Zahlen in der unteren Ecke zu erkennen, klingelt mein Handy und erschreckt mich dabei so sehr, dass es mir aus den Fingern flutscht. Mein Herz macht einen Satz, ich schnappe nach dem Gerät, bekomme es zweimal beinahe zu fassen, bis es schlussendlich eingekeilt zwischen meinem Ellbogen und meiner Leiste stecken bleibt.
»Fuck«, fluche ich und ziehe das immer noch klingelnde Telefon mit spitzen Fingern aus meiner Verrenkung.
Wenigstens beachtet mich niemand, und ich kann peinlich verpeilt sein, ohne dass mich noch jemand dafür schräg ansieht.
»Ja?«, nehme ich den Anruf entgegen, wechsle die Kofferhand und klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter. Meine verspannte Schultermuskulatur protestiert mit einem wilden Stechen, doch ich ignoriere es.
»Romina, hast du verschlafen?«, fragt Sophia mit Lieblichkeit in der Stimme, die mich aufhorchen lassen sollte, doch ich bin zu abgelenkt davon, die Hinweisschilder zu lesen, um den richtigen Bahnsteig zu finden.
»Wieso?«, erkundige ich mich daher nur verwirrt, und meine Literaturagentin gibt ein kleines Schnauben von sich.
»Wir haben ein Meeting. Im Alfredo. Um zehn. Erinnerst du dich?«
Mist! Vergessen. Der Schreck fährt mir durch die Glieder, und ich sehe mich automatisch nach einer Uhr um, als brauchte ich eine Bestätigung.
»Was? Wir haben schon zehn? Tut mir leid. Echt! Ich wollte dich anrufen, sobald ich im Ferienapartment bin«, sage ich zerknirscht. Ich habe es wirklich vorgehabt, jedoch kann ich nicht sagen, ob ich mich nachher tatsächlich daran erinnert hätte. Wahrscheinlich nicht. Mein Kopf ist voll und leer gleichzeitig. Zu viele Eindrücke, zu viel Gepäck, zu viele Sorgen, zu wenig Schlaf. Eigentlich gar kein Schlaf.
Ich rattere mit meinem Monster von einem Koffer auf die Rolltreppe. Das Rad verkeilt sich, und ich verliere beinahe ein weiteres Mal das Handy, als ich daran ziehe.
»Ferienapartment? Wo bist du denn?« Sophia ist verständlicherweise irritiert, doch ich kann sie wegen des Lärms der einfahrenden U-Bahn kaum verstehen.
»Ich bin in Paris«, sage ich unsicher und kann es selbst nicht glauben. Ich bin in einen Zug gestiegen und nach Paris gefahren, einfach so.
»Bitte was??!!«, reagiert Sophia genau so, wie ich es erwartet habe. »Wann hast du das denn geplant? Du hättest mir Bescheid sagen können.«
»Ähm. Ich hab's gar nicht geplant. War eine spontane Eingebung heute Nacht um halb drei«, gebe ich zu und starre auf meinen Koffer. An einer Ecke löst sich ein Sailor-Moon-Aufkleber, und ich drücke ihn wieder fest.
Heute früh habe ich haufenweise Klamotten hineingestopft und das Ding achtlos zugemacht. Das ist sonst gar nicht meine Art. Ich packe normalerweise Tage im Voraus, lasse mir von meiner Schwester kleine Zeichnungen zu meinen Outfits erstellen, damit ich visualisieren kann, wann ich was tragen will, um bloß nichts zu vergessen. Vittoria ist richtig gut in so was. Immer organisiert, immer mit der passenden Liste, um das Leben zu meistern.
Nicht so wie ich. Ich bin mir absolut sicher, die Hälfte der wichtigen Dinge nicht eingepackt zu haben. Doch auch wenn mich das normalerweise im Bauch gedrückt hätte, fühle ich gerade nichts anderes als das kribbelnde Adrenalin des Abenteuers.
Oder des Wahnsinns. Das wird sich noch herausstellen.
Es bleibt zu lange still auf Sophias Seite, und ich checke schnell, ob die Verbindung noch steht oder hier unten in den U-Bahn-Schächten gestört wurde. Doch es scheint alles in Ordnung zu sein.
»Sophia?«, frage ich und höre ein Knistern.
»Bin hier«, antwortet sie hektisch, und ich kann quasi vor mir sehen, wie sie mit den Händen herumwedelt und zu schnell hinter ihren runden Brillengläsern blinzelt. »Okay . okay! Du bist in Paris. Ist es wegen des Kapitels, das du mir gestern geschickt hast? Denn, mein Herz, das ist eine absolute Katastrophe!«
»Ich weiß«, seufze ich.
Die richtige U-Bahn schiebt sich wie ein dicker Wurm in den Bahnhof und kommt pfeifend und stöhnend zum Stehen.
»Du hast Monsieur Lire ermordet!«, fährt Sophia auf, und ich stöhne genervt, weil ich, schon als ich es schrieb, wusste, dass sie mir deshalb eine Standpauke halten würde. Und ich habe es trotzdem getan.
»Das ist ein schlechter Scherz. Und der Verlag möchte das Exposé für Band dreizehn nächste Woche«, meint meine Agentin, und ich drücke mir das Handy fester ans Ohr, als ich meinen Koffer in die Bahn hieve. Die Türen schließen sich hinter mir mit einem penetranten Piepen, ich lasse mich auf einen der siffigen Plastiksitze sinken und habe endlich eine Hand frei, um mir die wirren Haare aus dem Gesicht zu schieben.
»Das ist kein Scherz«, erwidere ich leise, weil es mir unhöflich vorkommt, in einem Waggon voller Menschen laut zu telefonieren, und sinke in mich zusammen. »Ich finde das eine wundervolle Wendung, um dem Ganzen ein bisschen Schwung zu geben.«
»Aber klar doch, Schatz. Wir warten elf Bände darauf, dass Aveline und er endlich miteinander glücklich werden, und dann töten wir in Band zwölf den Love Interest. Beste Wendung. Dafür werden uns sicher nicht drei Millionen Fans meucheln.« Sophias Stimme trieft vor Sarkasmus, und ich beiße mir auf die Unterlippe, weil das Drücken in meinem Magen wieder einsetzt. Das Gefühl, das mich seit Monaten begleitet, das mir sagt, dass irgendwas nicht stimmt, das mich nachts wach hält und mich dazu gebracht hat, um halb drei in der Früh einen Zug nach Paris zu buchen.
Mir ist natürlich klar, dass es nicht schlau ist, den Love Interest zu töten. Ich schreibe seit Jahren an dieser Reihe. Ich kenne meine Leserinnen und ihre Wünsche. Sie wollen verträumte Blicke, romantisches Knistern und dramatische Liebesschwüre. Die volle Portion Kitsch zwischen meiner Protagonistin Aveline und ihrem Monsieur Lire.
Früher habe ich selbst darauf hingefiebert. Doch dann hat sich etwas verändert, ich habe mich verändert. Wenn ich jetzt daran denke, will ich mich nur erschießen.
Oder besser Looïs Lire. Dem will ich gerade mit Vorliebe den Garaus machen. Am besten so grausam wie möglich.
Die Papierfabrik ragte in den wolkenverhangenen Himmel. Das Licht war grau, und Monsieur Lire zog seinen Mantel enger um sich, damit die abendliche Kälte nicht hineinkriechen konnte.
Der Winter stand bevor, tastete sich mit langen, spinnendünnen Fingern heran und nahm der Welt die Farben. Der Wind sang schiefe Lieder von sterbenden Blättern und kalter Dunkelheit, die sich anschlich und Monsieur Lire einen Schauer den Rücken hinunterjagte.
Er beschleunigte seine Schritte, den Blick auf das Kopfsteinpflaster vor ihm geheftet, und sah dabei nicht zu den wenigen Arbeitern, die als Letzte die Fabrik verließen.
Die Turmuhr der nahe gelegenen Kirche schlug halb sieben, und Monsieur Lire trat durch den Seiteneingang in die Fabrikhalle.
Ote drehte seine...
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