Schweitzer Fachinformationen
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Zwei Worte hatten Michael Herzbergs Leben auf den Kopf gestellt.
Sie waren in den riesigen Hohlraum gebrandet, der in seinem Inneren gewachsen war, weil er das falsche Leben über Bord geworfen hatte, die Lügen, die Unfreiheit. Hatten die unbekannte, köstliche Leere geflutet, alle Bedenken waren darin ertrunken.
Nur zwei Worte. In einer SMS, vier Monate zuvor.
Kommst Du?
Er war ins Auto gesprungen, hatte eine rote Ampel und mindestens zwei Geschwindigkeitsbeschränkungen ignoriert, dann war er mit butterweichen Knien die Stufen einer Villa hochgestiegen. Die Tür hatte offen gestanden. Keine Stunde später war er ein neuer Mensch gewesen. Endlich war es passiert.
Jetzt lag er im Bett eines Hotelzimmers irgendwo auf dem Land, Ariane Konrad ruhte in seiner Armbeuge. Um sich herum hatten sie hellblaue Wände, ein Fenster zum See, darunter einen Tisch mit den Resten einer halbherzigen Mahlzeit: angeschnittene Salami, eine zusammengeknüllte Brötchentüte, Käseränder. Gegenüber ein winziges Bad. Zwanzig Quadratmeter, aus denen sie sich zwei Tage lang nur zum Frühstück wegbewegt hatten. Und es geschah zum ersten Mal, dass er, ausgerechnet er, sich wünschte, hier eingesperrt und vergessen zu sein.
Doch damit würde es nichts werden, nicht mal heute.
Er beugte den Kopf zu ihr hinunter und vergrub seine Nase in der weichen Falte hinter ihrem Ohrläppchen, wo ihr Geruch am intensivsten war. Am liebsten hätte er sich darin aufgelöst. «Ich muss los», flüsterte er.
Sie schob sich von ihm weg. «Der Anruf kam doch erst vor zehn Minuten.»
Herzberg stand auf, benommen vom vielen Liegen und einem Brennen in der Brust, das sich anfühlte wie Verdursten. «Sie wollen die Zeugenaussage bis morgen früh auf dem Tisch haben.»
Sie strampelte die Decke zur Seite. «Was hat Drewitz eigentlich genau gesagt?»
Herzberg schluckte gegen das bittere Gefühl im Hals an. Nach der Aufklärung des Mordfalles an Arianes Stiefvater Hans Konrad, bei der er seinen Kollegen Sven Färber schwerer Verbrechen überführt hatte, war er zum Staatsschutz ins Fachkommissariat 4 versetzt worden. Offiziell wegen Personalmangels der Abteilung, aber er wusste, dass das eine Strafe war. Kollegen verpfiff man nicht. «Mein neuer Kollege Drewitz wollte wissen, ob ich endlich meine Arbeit mache, ansonsten würde er das gern für mich tun.»
«Das ist doch keine Falle, oder?»
«Darüber will ich lieber nicht nachdenken.» Und doch war genau das passiert, seit er sein Handy wutentbrannt auf einen der kleinen Sessel geknallt hatte. Mit einer Unterbrechung von etwa fünf Minuten.
Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest. «Du bist sehr aufgewühlt. Warum?»
Er sah sie an, ließ den Anblick in sich hineinsickern, der sich anfühlte wie Balsam. «Wenn ich Fehler mache, lassen sie mich nicht zurück zu Jansen. Und ich bin nun mal Mordermittler.»
Sie ließ los. «Das klingt so, als wäre das viel mehr als ein Job für dich.»
Herzberg nickte, während er nach seiner Hose griff, die zusammengeknüllt unter einem Stuhl lag. Auf einmal war das Bein, das er hob, um es hineinzufädeln, bleischwer. «Weißt du, als ich in Bautzen eingesessen habe, gab es dort einen Mithäftling, einen ehemaligen Stasimitarbeiter, der ausgestiegen war. In unserer Zelle hatte er einen Asthmaanfall. Vor meinen Augen.» Herzberg hüpfte zur Seite, weil er das Gleichgewicht verloren hatte. Kein Wunder. Nie würde er Heinzis schleifenden Atem vergessen, sein blau anschwellendes Gesicht. Sein eigenes Geschrei nach Hilfe, das Trommeln seiner Fäuste, seine Fußtritte gegen die Tür. Er stemmte beide Beine fest in den Boden, schluckte. «Der Arzt kam zu spät, sie hatten sich Zeit damit gelassen, ihn zu holen. Selbstverständlich hatte das keine Konsequenzen, es gab keine polizeiliche Untersuchung, nicht mal eine Obduktion. Dass ich Mordermittler bin, hat auch mit ihm zu tun.»
Sie nickte, lächelte. «Verstehe ich vollkommen.»
«Da bin ich froh», sagte er, während er zusah, wie sie im Bad verschwand. Während er sich mit fahrigen Bewegungen das Hemd überstreifte, dachte er daran, dass er Renate nie von Heinzi erzählt hatte. Sein Gefängnisaufenthalt hatte viel länger gedauert, als er immer geglaubt hatte, im Grunde bis vor ein paar Wochen. Erst als er Ariane und mit ihr die Liebe kennengelernt hatte, hatte der ganze Schrecken auf einmal ein Gegengewicht bekommen.
In diesem Moment kam sie tropfnass aus dem Bad. Er schlug die Hände vors Gesicht. «Das ist nicht fair!»
Sie lachte, dann zupfte sie ihr Kleid unter dem Bett hervor. «Jetzt fahr schnell zu diesem Zeugen und finde heraus, ob er etwas weiß. Jemand muss den Tätern das Handwerk legen. Eine Flüchtlingswohnung zu verwüsten ist wirklich das Allerletzte.»
Herzberg griff nach seinem Handy und wählte Drewitz' Nummer. Ohne Erfolg.
Dann standen sie angezogen voreinander, und in seinem Magen schäumte die Lücke, die sie gleich hinterlassen würde, wie Gift. Ariane legte ihm ihre kühle Hand an die Wange. «Komm wieder, wenn du die Mistkerle hast.»
Er drückte sie an sich. «Kann man dich nicht in die Hosentasche stecken und mitnehmen?»
Lachend machte sie sich los. «Was vermisst du denn, wenn ich nicht bei dir bin?»
Der Knoten, den er auf einmal im Hals hatte, ließ seine Stimme ganz rau klingen. «Mich selbst.»
Draußen überfielen ihn das Tellergeklapper von der Restaurantterrasse, Entengeschnatter und das Geschwätz der herumlungernden Gäste. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten und wäre zu seinem Auto gerannt, ohne die freundlich nickenden Kellner zurückzugrüßen. Das Auto war sein Wohnsitz, seit er bei Renate ausgezogen war. Was ihn bislang noch keine einzige Träne gekostet hatte, kam ihm in den Sinn, als er alle Türen öffnete, um die angestaute Hitze aus dem Wagen zu lassen. In den letzten Jahren hatte ohnehin nur noch sein Schatten bei ihr gewohnt. Und jetzt gab es da diesen neuen, grundzufriedenen Herzberg, den er wie verrückt mochte.
Lichtenfels war keine zwanzig Autominuten entfernt. Schon von weitem sah Herzberg, wie zwei Flussarme das Dorf von den umstehenden Feldern abgrenzten. Vom Wasser umklammert, lag es in einer Senke, eine schmale Lindenallee führte schnurgerade hinein. Die Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinströmte, kam ihm plötzlich noch heißer vor. Ein richtiger Kessel, dachte Herzberg beklommen, als er langsam ins Dorf hinunterrollte. Einer, in dem Ausländerfeindlichkeit schwelt.
Sein Blick streifte ein paar vernachlässigte Neubaublöcke, Behausungen für die ehemaligen LPG-Mitarbeiter. Es hatte hier Landwirtschaft gegeben, und zwar in größerem Umfang, doch damit schien es vorbei zu sein. Den Wohnblocks gegenüber standen etliche Reihen von typischen Familienbungalows aus den siebziger und achtziger Jahren, zum größten Teil hübsch saniert und mit bunten Vorgärten ausgestattet. Dann war wohl nicht alles an Wirtschaft kaputt hier. Nach etwa hundert Metern begann mit einem Löschteich, der von Trauerweiden umgeben war, das alte Dorf: langgestreckte Backsteinkaten, kleine Höfe und Stallgebäude.
Herzberg spitzte die Ohren. Jetzt hörte er es: das Donnern der Reifen auf dem alten Straßenpflaster zerschnitt eine Stille, die über dem Dorf lag wie Dunst. Eigenartig, dachte Herzberg, als er auf der Höhe der alten Feldsteinkirche den Motor abstellte und ausstieg, um sich das näher anzusehen. Aber hier war wirklich nichts. Keine Stimmen oder sonntägliches Tellerklappern, kein Fetzen Musik. Ein einzelner Hund bellte, als die Turmuhr losschlug, das war alles.
Mit angespannten Sinnen lief er los, an einem Backsteingebäude vorbei, über dessen Tür Schule stand. Im Vorgarten lag umgekippt ein Dreirad. Verflixt, dachte er. Die können doch nicht alle ausgewandert sein. Im Laufschritt eilte er weiter. Urplötzlich noch neugieriger, ob der Zeuge Rudolf Schröter wieder sprechen konnte und ihm sagen, wer so feige war, sich bei Nacht und Nebel an einer Flüchtlingsunterkunft zu schaffen zu machen. Weil der Mann eine Angina gehabt hatte, war am Freitag nichts daraus geworden, und Herzberg hatte nicht auf einer Aussage bestanden. Ein Fehler, wie er jetzt wusste. Vielleicht drehte ihm Hans Drewitz ja gerade einen Strick daraus.
Da knallte hinter ihm eine Tür, eine junge Frau stürzte aus einem der Reihenhäuser auf die Straße, zwei große Taschen in den Händen. Eine Frau, die ihr so ähnlich sah, dass sie die Mutter sein musste, kam hinter ihr her. Sie beachteten ihn gar nicht, so sehr waren sie miteinander beschäftigt.
«Überleg es dir noch einmal, bitte!», verstand er.
Eine Autotür wurde aufgerissen und schlug wieder zu. «Warum bist du eigentlich nicht bei der Feier? Dein Typ ist doch auch dort!», schrie die junge Frau.
«Bin ich allein an allem schuld, denkst du das?»
Der Motor sprang an.
«Ich beende es, bitte bleib!»
Herzberg hörte ein bitteres Lachen. «Ich habe jahrelang wie eine Verrückte zwischen meinen eigenen Eltern zu vermitteln versucht. Ich hab die Nase voll! Lasst euch eben scheiden!»
Der grüne Polo stob mit durchdrehenden Reifen davon.
Besser, er fragte jemand anderen als die zurückgebliebene Mutter nach dem Weg. Immerhin, die Tochter hatte etwas von einer Feier gesagt. Eine solche Veranstaltung fand im Pfarrhaus oder der Kirche statt oder im Gutshaus. Theoretisch.
An der Kirchentür gab es einen Aushang. Herzberg starrte den Zettel an, dann musste er ein paar Schritte zurückgehen, um durchzuatmen. Dennoch lief ihm der Schweiß bächeweise den Rücken herunter. Er sah noch einmal hin. Es...
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