1 - Inhalt [Seite 6]
2 - Vorwort [Seite 10]
3 - Teil 1: Theorie der Medizin: 1 Medizintheoretische Grundlagen [Seite 12]
3.1 - 1.1 Medizin als Anwendung von Arbeitshypothesen [Seite 14]
3.2 - 1.2 Funktion und Funktionalisierbarkeit von Geschichte [Seite 18]
4 - Teil 2: Geschichte der Medizin: 2 Antike Medizin [Seite 22]
4.1 - 2.1 Der Heilgott Asklepios [Seite 24]
4.2 - 2.2 Die Anfänge der antiken Naturphilosophie [Seite 25]
4.3 - 2.3 Hippokrates [Seite 26]
4.4 - 2.4 Der Hippokratische Eid [Seite 27]
4.5 - 2.5 Hellenistische Medizin [Seite 28]
4.6 - 2.6 Medizin in Rom [Seite 29]
5 - 3 Medizin im Mittelalter [Seite 32]
5.1 - 3.1 Die «Mönchsmedizin» des Frühmittelalters [Seite 32]
5.2 - 3.2 Kulturtransfer im mediterranen Raum [Seite 34]
5.3 - 3.3 Die mittelalterliche Universität [Seite 35]
5.4 - 3.4 Das Hospital [Seite 37]
5.5 - 3.5 Seuchen [Seite 37]
5.6 - 3.6 Die Nosologie der mittelalterlichen Medizin [Seite 38]
5.7 - 3.7 Chirurgie im Mittelalter [Seite 39]
5.8 - 3.8 Magie [Seite 41]
6 - 4 Die Medizinder frühen Neuzeit [Seite 42]
6.1 - 4.1 Epochenschwelle [Seite 42]
6.2 - 4.2 Die Entwicklung der Iatrochemie/Chymiatrie [Seite 44]
6.3 - 4.3 Die Wiederentdeckung der «Natur» [Seite 44]
6.4 - 4.4 Die Entdeckung des Blutkreislaufs [Seite 45]
6.5 - 4.5 Iatrophysik und Iatromechanik [Seite 46]
6.6 - 4.6 Anatomia subtilis [Seite 47]
6.7 - 4.7 Empirische Medizin [Seite 47]
6.8 - 4.8 Chirurgie [Seite 48]
6.9 - 4.9 Geburtshilfe [Seite 48]
7 - 5 Medizin im Zeitalterder Aufklärung [Seite 50]
7.1 - 5.1 «Dialektik der Aufklärung» [Seite 50]
7.2 - 5.2 Der Mensch als Maschine [Seite 51]
7.3 - 5.3 Solidarpathologie [Seite 52]
7.4 - 5.4 Vitalismus, Animismus, Dynamismus [Seite 52]
7.5 - 5.5 «Verzeitlichung» der Natur [Seite 54]
7.6 - 5.6 Chirurgie [Seite 55]
7.7 - 5.7 Geburtshilfe [Seite 56]
7.8 - 5.8 Öffentliches Gesundheitswesen [Seite 57]
7.9 - 5.9 «Klinische» Medizin [Seite 58]
8 - 6 Das 19. Jahrhundert [Seite 60]
8.1 - 6.1 Industrialisierung und Großstadt [Seite 61]
8.2 - 6.2 Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: «Romantische» Medizin [Seite 62]
8.3 - 6.3 Die «Geburt der Klinik» [Seite 64]
8.4 - 6.4 Die naturwissenschaftliche Grundlegung der Medizin in der Physiologie [Seite 66]
8.5 - 6.5 Zellularpathologie [Seite 68]
8.6 - 6.6 Hygiene und Bakteriologie [Seite 69]
8.7 - 6.7 Die Chirurgie als «Königin der Medizin» [Seite 71]
8.8 - 6.8 Anfänge der Psychiatrie [Seite 73]
8.9 - 6.9 Professionalisierung [Seite 76]
8.10 - 6.10 Naturheilkunde und Lebensreform [Seite 78]
9 - 7 Das Trauma des 20. Jahrhunderts: Medizin im Nationalsozialismus [Seite 82]
9.1 - 7.1 Vorgeschichte [Seite 82]
9.2 - 7.2 «Neue deutsche Heilkunde» [Seite 84]
9.3 - 7.3 Sozialmedizinische Maßnahmen und NS-«Leistungsmedizin» [Seite 85]
9.4 - 7.4 Antisemitismus [Seite 86]
9.5 - 7.5 Eugenik [Seite 88]
9.6 - 7.6 Krankentötungen [Seite 88]
9.7 - 7.7 Menschenversuche [Seite 90]
10 - 8 Die Medizin auf dem Weg ins 21. Jahrhundert [Seite 92]
10.1 - 8.1 Nobelpreise als Spiegel der Medizin [Seite 92]
10.2 - 8.2 Entwicklungslinien und Perspektiven [Seite 99]
11 - Teil 3: Ethik der Medizin: 9 Grundlagen [Seite 106]
12 - 10 Das Arzt-Patient-Verhältnis im Wandel [Seite 112]
12.1 - 10.1 Bedingungen ärztlichen Handelns [Seite 113]
12.2 - 10.2 Der «autonome» Patient [Seite 114]
12.3 - 10.3 Modelle der Arzt-Patient-Beziehung [Seite 117]
12.4 - 10.4 Aufklärungspflicht [Seite 119]
12.5 - 10.5 Wahrheit am Krankenbett [Seite 121]
13 - 11 Ethische Probleme am Lebensanfang [Seite 124]
13.1 - 11.1 Molekulargenetik als umstrittene Leitwissenschaft [Seite 124]
13.2 - 11.2 Frühstadien menschlichen Lebens [Seite 126]
13.3 - 11.3 Abtreibung [Seite 130]
14 - 12 Die gerechte Verteilung knapper Ressourcen [Seite 134]
14.1 - 12.1 Finanzknappheit im Gesundheitswesen [Seite 134]
14.2 - 12.2 Organtransplantation [Seite 140]
15 - 13 Forschung [Seite 144]
15.1 - 13.1 Tierversuche [Seite 144]
15.2 - 13.2 Forschung am Menschen [Seite 148]
15.3 - 13.3 Wissenschaftliches Fehlverhalten [Seite 152]
16 - 14 Ethische Probleme am Lebensende [Seite 156]
16.1 - 14.1 Ethische Probleme im höheren Lebensalter [Seite 156]
16.2 - 14.2 Der sterbende Patient [Seite 158]
16.3 - 14.3 Das sterbende Kind [Seite 159]
16.4 - 14.4 Patientenverfügung [Seite 160]
16.5 - 14.5 Suizid [Seite 162]
16.6 - 14.6 Aktive und passive Sterbehilfe [Seite 163]
17 - Literatur und Internetadressen [Seite 168]
18 - Personenregister/Sachregister [Seite 170]
1Medizintheoretische Grundlagen
Was ist der Forschungsgegenstand der Medizintheorie?
Welche medizinischen Konzepte und Ätiologien gibt es?
Auf welchen erkenntnistheoretischen Vorannahmen beruhen diese Konzepte?
Wie kommt die naturwissenschaftlich basierte Medizin (im Unterschied zu traditionellen Heilweisen) zu ihren Erkenntnissen?
Was bedeutet science of medicine, was art of medicine?
1.1
Medizin als Anwendung von Arbeitshypothesen
Unter den verschiedenen Wissenschaften hat die Medizin einen besonderen Status: Sie ist keine (angewandte) Naturwissenschaft und gehört erst recht nicht zu den Geisteswissenschaften, auch wenn sie Elemente beider Wissenschaftsarten enthält. Wegen ihrer zweckhaften Ausrichtung auf die Behandlung jeweils eines bestimmten leidenden Menschen (homo patiens) wurde sie als Handlungswissenschaft bezeichnet. Als solche ist sie gekennzeichnet durch ständige Wechselwirkungen zwischen Theorie und Praxis sowie durch den Zwang zur Überprüfung der Erfolge und zur Rechtfertigung der Misserfolge. In der Handlungswissenschaft Medizin gilt «Wer heilt, hat recht», und tatsächlich ist es in gewissen Grenzen möglich, vordergründig empirisch und ohne theoretische Fundierung Medizin zu betreiben, wenn man das Prinzip von Versuch und Irrtum anwendet und ggf. mit statistischen Methoden kombiniert. Deshalb neigen viele Mediziner dazu, unkritisch das heutige Wissen und die gegenwärtige Praxis für das einzige Mögliche und «objektiv» Richtige zu halten. Die Medizintheorie dagegen betrachtet die aktuelle westliche Heilkunde als eine von vielen und als ein Konglomerat aus verschiedenen Arbeitshypothesen und Modellen; sie interessiert sich dafür, wie und warum wir uns im «praktischen Vollzug» von «Wissenschaft» für bestimmte Optionen entscheiden und andere verwerfen. Medizintheorie beschreibt dabei auch das «Wissensdilemma», das darin besteht, dass nicht das gesamte zu einer Zeit grundsätzlich verfügbare Wissen im konkreten Fall auch tatsächlich zur Verfügung steht, sowie die «erkenntnistheoretische Kluft» zwischen biomedizinischem Grundlagenwissen und klinischem Handeln.
Die Theorie der Medizin besteht aus vier Gebieten: der Wissenschaftstheorie, der Praxistheorie, der Werttheorie sowie der Wissenschaftsforschung der Medizin. Die Wissenschaftstheorie der Medizin untersucht das ärztliche Erkennen, Forschen und Wissen unter logisch-analytischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Aspekten: Was ist eine medizinische Theorie, wie entsteht sie, wie wird sie begründet und widerlegt, was macht «Wissenschaftlichkeit» aus, was bedeutet «Erfahrung» usw.? Die Praxistheorie der Medizin befasst sich mit den logisch-analytischen, handlungstheoretischen und methodologischen Grundlagen des ärztlichen Handelns in seinem jeweiligen Kontext: Was ist Krankheit, was ist eine Diagnose, wie wird sie bestätigt, warum ist sie manchmal falsch, was ist ein diagnostischer Widerspruch, wie gelangt man vom Wissen zum Handeln usw.? Beide Richtungen lehnen sich teilweise in Fragestellung, Begrifflichkeit und Vorgehensweise an die Allgemeine Wissenschaftstheorie als ein etabliertes Teilgebiet der Philosophie an, wollen jedoch ihre Erkenntnisse für die Medizin konkret nutzbar machen (wenn auch bisher mit geringer Resonanz). Die Werttheorie der Medizin umfasst die Medizinische Ethik und Metaethik, wovon im dritten Teil dieses Lehrbuchs die Rede sein wird; die Deutungsoffenheit der grundlegenden, aber in der Medizin normativen Begriffe Gesundheit und Krankheit bildet hier eine wichtige Schnittstelle. Die Wissenschaftsforschung der Medizin untersucht empirisch die Entstehung des medizinischen Wissens sowie des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens. Sofern die methodische Annäherung über historische Quellen erfolgt, schließt dies die Medizingeschichte ein.
Unter dieser Perspektive erscheint der Begriff «Krankheit» als ein soziales Phänomen mit Konstruktcharakter, das in einen bestimmten historischen Kontext eingebunden (Historizität), kulturabhängig und einem ständigen Wandel unterworfen ist. Das Gleiche gilt für die Akteure und das von ihnen erwartete Verhalten. Das medizinische Handeln lässt sich zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen kulturellen Kontexten auf die Umsetzung einer überschaubaren Zahl von Konzepten zurückführen, wobei der Wortbestandteil «Iatro-» die spezifisch medizinische Ausrichtung anzeigen soll (siehe Tab. 1-1).
Krankheiten können also sowohl auf Vorgänge im Inneren des Körpers zurückgeführt werden als auch auf äußere Einflüsse: Intrinsische Ursachen können vom Körper und seinen Strukturen bzw. organischen Funktionen ausgehen (Physikogenese), aber auch von der «Seele» mit Persönlichkeitsentwicklung, intellektueller, mentaler und affektiver Ausstattung (Psychogenese). Dazu kommen Faktoren des «Lebens» selbst, wie die bei unterschiedlichen Individuen unterschiedlich ausgeprägte «Lebenskraft», die Konstitution, die evolutionäre Entwicklung oder heute die genetische Prädisposition. Die extrinsische Ätiologie umfasst Mitwelt (Soziogenese), Umwelt (Ökogenese) und ggf. auch die Welt des Übernatürlichen (Spiritugenese).
Tabelle 1-1: Medizinische Konzepte
naturalistische Konzepte
Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogien,
Iatroastrologie
Viersäftelehre (Humoralpathologie),
Iatrochemie
Iatromechanik, Iatrophysik, Iatrotechnik
Iatromathematik, Biomodelling
Iatromorphologie
dynamistische Konzepte
supranaturalistische Konzepte
Dämonologie
Iatromagie
Iatrotheologie
psychologisch-soziologische Konzepte
Alle vorgestellten Modelle basieren im Wesentlichen auf vier Axiomen des Erkenntnisgewinns, also auf Vorannahmen, die sich weder widerlegen noch beweisen lassen und die untereinander inkompatibel sind (epistemisches Dilemma):
Existenz von «übernatürlichen» (nicht messbaren, nicht «objektiv» nachweisbaren) Personen oder Kräften
Korrespondenz bzw. Analogie von Dingen oder Phänomenen
kausalgesetzlicher, mechanisch-deterministischer Ablauf natürlicher Prozesse
Möglichkeit des intersubjektiven Verstehens durch die Interpretation von Zeichen.
Das erste Axiom ist wegen der Unkalkulierbarkeit dieser Kräfte schlecht für Prognose und Therapieplanung, es eignet sich jedoch sehr gut für die (nachträgliche) Erklärung von Ereignissen und kann daher sinnstiftend wirken. Wegen seiner unmittelbaren Plausibilität hat das zweite Axiom eine lange Tradition: Nicht nur viele magische Praktiken, sondern auch die Viersäftelehre (Humoralpathologie), die Astromedizin mit ihren Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogien, die Homöopathie, die traditionelle chinesische Medizin mit dem Gegensatzpaar Yin und Yang sowie der altindische Ayurveda beruhen auf diesem Grundsatz. Das dritte Axiom scheint das moderne, westliche Verständnis von Naturwissenschaft zu beschreiben, allerdings nur auf den ersten Blick. Spätestens seit Kant kommt ihm nur noch der Stellenwert einer statistisch begründbaren Arbeitshypothese zu, da man immer nur ein Nacheinander (post hoc), kein «Wegeneinander» (propter hoc) beobachten kann. Selbst im Bereich der exakten Naturwissenschaften gilt das Axiom heute nur noch in der Newton’schen Physik; für die Anwendung auf organische Vorgänge ist es wenig geeignet. Analytische Exaktheit und strikte Kausalität sind denn auch Forderungen, die seit der «antipositivistischen Wende» Mitte der 60er-Jahre für die Medizin nicht mehr erhoben werden. Das letzte Axiom findet sich nicht nur im divinatorisch-intuitiven Bereich von Wahrsagungen und Traumdeutung oder als Basis von Psychosomatik, Psychoanalyse und Psychotherapie, sondern beschreibt auch die meist implizit bleibende Vorgehensweise in der sonstigen Medizin, die sich somit als systematisiertes Zeichendeuten erweist, mit allen Gefahren der Zirkularität und der Fehlinterpretation, die damit verbunden sind. Eine Absicherung dieser schwankenden Grundlage geschieht durch Akkumulierung von Daten, die erst in «normal» und «pathologisch» getrennt und dann mittels komplexerer mathematischer Verfahren zu Krankheiten gruppiert werden.
Auf der Basis unterschiedlicher Axiome ergeben sich unterschiedliche methodische Herangehensweisen und damit auch unterschiedliche Bilder vom kranken Menschen (siehe Tab. 1-2). Die Subjektivität des Kranken spielt in der modernen, naturwissenschaftlich begründeten Medizin allenfalls eine untergeordnete Rolle, was im medizinethischen Kontext noch einmal zu diskutieren sein wird. Die Faszination, die für viele unzufriedene Patienten von der Komplementärmedizin ausgeht, liegt darin, dass dort keine derartige Divergenz von professioneller und laienhafter Deutung von «Zeichen» besteht. Außerdem kommt die Berücksichtigung der kulturgebundenen Symbolik und Metaphorik von Körperphänomenen und deren Bezeichnungen dem subjektiven Kausalbedürfnis vieler Menschen entgegen.
Ohne Zweifel beruhen die Erfolge der heutigen Medizin auf...