WER WAR DIESER MANN?
An Stelle eines Vorworts
Als ich in den Jahren 1956 bis 1958 Gottlieb Duttweilers Biografie schrieb, beschäftigte mich immer wieder die Frage: Wie soll das enden? Wo? Wann? Ich schrieb damals:
«Es ist sehr schwer, unter ein Buch über Gottlieb Duttweiler den Schlussstrich zu ziehen, weil er selbst bisher noch keinen Schlussstrich gezogen hat. Immer frische Ideen, immer neue Kämpfe. Und das wird wohl erst aufhören, wenn er nicht mehr ist.»
Er lief damals sozusagen ständig seiner eigenen Biografie - und seinem Biografen - davon. Kaum glaubte ich aufhören zu dürfen, da ging auch schon das Telefon. Er hatte etwas Neues unternommen. Etwas, das ihm wichtiger erschien als alles, was er bisher getan hatte!
Dies war überhaupt sein hervorstechendstes Charakteristikum: dass er sich in jeden neuen Kampf, in die Verwirklichung jedes neuen Projektes mit der Überzeugung warf, gerade dieses neue Projekt, gerade dieser Kampf, müsse auf jeden Fall noch durchgeführt werden, gerade der augenblicklich bevorstehende Kampf sei von besonderer Bedeutung und müsse, was immer es koste, beendet und natürlich siegreich beendet werden. Alles, was er geschafft hatte, schien ihm in solchen Augenblicken von minderer Bedeutung. Nur das, was vor ihm lag, was noch geschafft werden musste, war von Wichtigkeit.
«. wird wohl erst aufhören, wenn er nicht mehr ist.» Und nun ist er nicht mehr.
Und mir will scheinen, als sei es trotzdem schwerer denn je, einen Schlussstrich zu ziehen. Weil sein Werk sich weiterentwickelt, weil es - längst vor seinem Tod - Eigenleben gewonnen hatte, weil vieles von dem, was er erst plante oder auch nur als Möglichkeit ahnte, über Nacht Wirklichkeit geworden ist. Und weil so täglich neue Wirklichkeiten entstehen.
Wie sie werten? Wie sie in das Lebenswerk des nun Toten eingliedern? Ach, und er ist nicht mehr da, um mir mit Rat zur Seite zu stehen, um zu helfen, um einen Weg zu bahnen durch dieses Dickicht von Ideen, Plänen, aus dem Boden gestampften vollendeten Tatsachen, Ereignissen, das sein Leben war.
Er war es, der mir von Anfang an half; und sei es auch nur, indem er etwa sagte: «Sie müssen nicht auf das hören, was ich Ihnen erzähle. Sie müssen mit meinen Gegnern sprechen. Die sehen das ganz anders.»
Ich sehe noch vor mir, wie es begann. Der Verleger hatte den Vorschlag gemacht, ich solle ein Buch über Duttweiler schreiben. Ich? Ich wusste doch so wenig über ihn .
Zwei oder drei Tage später kamen ein paar Kisten ins Haus. Sie barsten von Material über Duttweiler, über die Migros, über den Hotelplan, über die Kämpfe, die er hatte durchstehen müssen, es war auch viel Politisches dabei und von ihm selbst Geschriebenes. Ich las und las -und war verzagt. «Aber es ist doch schon alles über ihn und von ihm geschrieben worden!» sagte ich.
Es schien in der Tat so. Es war aber nicht so, wie ich begriff, als ich ihn, wieder ein paar Tage später, kennenlernte. Das war in einem Restaurant in Bern, er kam gerade von einer Session, er war ja Nationalrat, hatte sich als solcher mit unzähligen Problemen zu beschäftigen, die mit den zahllosen Migros-Projekten und Geschäften überhaupt nichts zu tun hatten. Auch das noch! dachte ich.
Es schien, als ahne er, was mir durch den Kopf geht, denn plötzlich sah er von seinem Teller auf, starrte mich durch seine Brillengläser belustigt an und meinte: «Ich beneide Sie nicht, dass Sie ein Buch über mich schreiben sollen!» Dann lächelte er spitzbübisch und fuhr fort: «Ich habe einen guten Titel für das Buch. müssen Sie es nennen.»
Es vergingen Monate, die ich damit verbrachte, zu lesen, zu lesen, zu lesen. Ich wälzte mich durch ganze Berge, will sagen, Kisten von Material. Das Erstaunliche, ich möchte fast sagen Einmalige: ich erfuhr jede Stunde etwas Neues - ich meine nicht das Sachliche, sondern etwas Neues über Gottlieb Duttweiler, über den Menschen. Er erschien mir in immer neuer Gestalt, in immer anderem Licht. Wer ist dieser Mann? fragte ich mich mehr als einmal.
Ich dachte, als ich mich nun entschlossen hatte, das Buch zu schreiben, es wäre das beste, wenn ich ihn einmal bei der Arbeit sehen könnte. Schriebe ich über einen Boxer, würde ich mir seine Kämpfe anschauen; wenn ein Sänger die Hauptfigur meines Buches wäre, würde ich ihn mir so oft wie möglich anhören. Warum sollte ich einen Kaufmann nicht in seinem Büro aufsuchen?
Ich ging also zur Migros, einer Firma, von der ich damals so gut wie nichts wusste, es sei denn, dass sie mit Lebensmittelhandel zu tun hatte. Es hätte auch irgendein anderer Tag sein können. Duttweiler hatte ja gesagt: «Kommen Sie, wann Sie Lust haben!» Er war bereit, mich zu empfangen, wann immer es durchaus nötig sein würde, mir die Archive des Migros-Genossenschafts-Bundes vorbehaltlos zur Verfügung zu stellen, vor allem auch die Publikationen seiner Gegner, und mir Gespräche mit seinen Mitarbeitern zu ermöglichen.
Er wünschte mir guten Tag und hatte mich dann sofort vergessen. Er war vermutlich so, wie er jeden Tag ist.
Und das war imponierend genug. Was mir sogleich auffiel was eigentlich jedem auffallen musste, der Duttweiler gegenüber sass: er sah gar nicht so aus, wie man sich eigentlich einen grossen Unternehmer vorstellt. Ja, wie sah er denn eigentlich aus? Zuerst hätte man auf einen Mann mit einem «geistigen Beruf» getippt, vielleicht einen Anwalt, einen Arzt. Aber da war noch etwas anderes, etwas schwer Definierbares. Auch wenn Duttweiler ernst blieb -und es handelte sich ja fast durchweg um ernsthafte Geschäfte, die er abzuwickeln hatte-, schien er zu lächeln. Irgend etwas in seinem Gesicht lächelte, war ständig belustigt, stand gewissermassen über der Situation. Also ein Philosoph? Oder ein Komödiant? Immer wieder musste ich daran denken, wie ähnlich er gewissen Schauspielern sah, die ihre Rolle spielten und mit einigem Amusement beobachteten, wie sehr die Leute mitgingen, wie sie Rolle und Wirklichkeit verwechselten . Der Mann sah imponierend aus. Was um ihn herum war, wirkte weit weniger imponierend. Duttweiler sass keineswegs in einem eleganten oder auch nur würdigen Direktions- oder Verwaltungsgebäude. Um zu ihm vorzudringen, hatte ich durch einen schmalen Hof gehen müssen, nein, nicht gehen, mich schlängeln müssen, denn der Hof stand voll von Lieferautos, es roch nach allen möglichen Lebensmitteln; Arbeiter und Arbeiterinnen, Chauffeure machten sich zu schaffen, liefen vorbei; es war so voll in diesem relativ schmalen Hof, in dem Waren aus- und eingeladen wurden, dass man nicht einmal das kleine Schild «Verwaltung» vor einem der bescheidenen Eingänge entdecken konnte. Auch das Büro Duttweilers war etwas enttäuschend - wenigstens für mich; es war nicht gerade so, wie man sich das Arbeitszimmer eines Magnaten vorstellt, der über ein riesiges industrielles Reich herrscht. Ein mittelgrosser Raum mit einem Schreibtisch, ein paar Stühlen, einem Konferenztisch - aber keineswegs dem üblichen grossartigen mit den vielen Sesseln drum herum, sondern einem ganz einfachen Tisch, wie man ihn injedem Arbeiterhaushalt finden könnte. Alles in Esche. Um in das Allerheiligste zu gelangen, das so gar nicht wirkte wie ein Allerheiligstes, musste man andere Büros durchqueren, kein distinguiert möbliertes Vorzimmer, wie man es erwartet hätte; da war kein livrierter Diener, der einen hereinführte. Dafür öffnete sich die Tür unaufhörlich, und irgendwelche Mitarbeiter kamen höchst unzeremoniell herein, brachten Papiere, machten eine Meldung und verschwanden wieder.
Er war gerade dabei, einen Artikel für den «Brückenbauer» zu verfassen. Er diktierte ruhig, langsam, aber sehr fliessend, machte nur selten eine Pause, um zu überlegen. Wenn dies geschah, murmelte er leise vor sich hin: «Ja, ja - Hm, hm.» Er verbesserte sich kaum. Der Satz stand schon beim ersten Anhieb. Er sprach leise, aber sehr deutlich.
Ich fragte ihn, ob er sich nicht vorher irgendwelche Notizen mache. Duttweiler lächelte flüchtig. «Selten. Meine Sachen gehen ja doch durch die Zensur.» Er meinte, dass seine Mitarbeiter jeden Artikel noch einmal lesen und jede von ihm angegebene Zahl, jedes Faktum kontrollieren müssten.
Inzwischen war ihm die Post vorgelegt worden. Er erklärte:
«Ich erhalte ungefähr dreissig Briefe am Tag . Ich meine persönliche Briefe, die ich beantworten muss.»
In der Post dieses Tages befand sich die Einladung zu einem Vortrag, der Hinweis auf eine Verabredung mit irgendeiner Persönlichkeit, eine Aufforderung, in einem Seminar in Wiesbaden über die Automation der WarenverTeilung zu sprechen, der Brief eines amerikanischen Freundes, der Brief eines Presseagenten aus Paris, ein Schreiben, in dem Duttweiler aufgefordert wurde, etwas für das Frauenstimmrecht in der Schweiz zu tun, ein anderes mit der Bitte, sich zur Bergbauernfrage und über die St. Gallische Bauernhilfskasse zu äussern. Er sollte nach Bonn kommen. Er sollte nach Boston kommen, um eine Auszeichnung in Empfang zu nehmen. Wollte er ein Hotel in Wien übernehmen? Wollte er in Brasilien ein Migros-Unternehmen starten? Einer kleinen Gemeinde zu einem neuen Pfarrhaus verhelfen?
Duttweiler steckte sich eine neue Zigarre an. Er bestellte auch Kaffee, aber vermutlich nur, weil ich da war. Er blätterte in einer grossen Zahl von Dossiers: «Wenn ich anderen erst erklären soll, was sie tun müssen und warum sie es tun müssen, erledige ich es doch viel schneller selbst.» Er paffte: «Das ist natürlich falsch bei einem Siebenhundert-Millionen-Konzern - dass ich so viel selbst mache . Meine Arbeit sollte es sein, den anderen Arbeit zu machen .»
Jemand brachte...