Schweitzer Fachinformationen
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Sie steht mit dem Rücken zum Abgrund. Nackt. Im Fenster des fünften Stocks. Altbau. Die verputzte, ungestrichene Wand fällt steil und bedrohlich herab wie ein lautloser Wasserfall. Unter ihr, keine fünfzig Meter entfernt, liegt ein Friedhof. Kann man sich nicht aussuchen. Die beiden Fensterflügel sind nach innen geöffnet, der untere Teil des Fensters ist fest verbaut, und sie steht außen, auf einem gemauerten Absatz, der für Schuhgröße 36 taugt, mit dem Rücken gen Friedhof, und hält sich am Fensterrahmen fest. Der vordere Teil ihres Fußes, die Ballen und Zehen, stehen auf dem Sims, die Ferse ragt in die Luft und könnte runterfallen, wäre sie nicht am vorderen Fußteil festgewachsen. Füße sind zumeist aus einem Guss. Wenn man Füße hat. Wenn man nicht ohne Füße geboren wurde. Das kann passieren. Wie man auch ohne Unterleib geboren werden kann; eine seltene Krankheit, >Kaudales Regressionssyndrom< genannt, die einem unter Hunderttausend passiert. Ein afroamerikanischer Junge wurde damit geboren und wurde ein berühmter Wrestler. Die Geschichte der schrecklichen Kindheit, ausgestoßen, versehrt und gemobbt - und dann wird man ein Star, leistet Übermenschliches, macht Kunst, Wissenschaft oder wrestelt. Geschichten, die man gern selbst erlebte, nur ohne den Scheißanfang, ohne die Quälerei, die fucking Pubertät, die harte Arbeit und das Besser-sein-Müssen, ohne Demütigungen, Verletzungen und Beleidigungen, lieber direkt beim guten Teil beginnen, der am Ende kommt und Ruhm und Reichtum bringt. Dann ist der Film aus.
Oder das Leben.
Sie hat Füße. Sie hat nur keine Kraft mehr. Auf dem Weg zu diesem jetzigen heutigen Moment gab es Verluste innerhalb ihres Systems. Amputation von Gefühl oder was.
Ich sollte gewisse Gedanken nicht mehr denken, denkt sie. Ich habe auch keine Zeit für die Werbung vor einem Youtube-Video. Ich bin zu alt dafür, das geht doch alles von der Gesamtzeit ab.
Sie fühlt als Phantomschmerz das, was nicht mehr ist. In Menschen sind Gedärme. Gebärmütter. Blut, Schleim, Gestank. Auch das Herz, das vielbeschworene, das für Gefühl steht, ist letztlich ein Muskel, der Blut pumpt und neulich zum ersten Mal in einem 3-D-Printer aus Fleischmaterie ausgedruckt wurde. Sah wohl gut aus, aber Pumpen war nicht.
Sie wünscht, sie könnte so gut auf Händen wie auf Füßen stehen. Die Zehen sind inzwischen blutleer. Oder blutlos? Wortklauberei auf den letzten Metern.
Es ist Nacht. Of course. Sie hat sinnigerweise in der Wohnung das Licht ausgemacht, sonst stünde sie da wie eine Installation, weithin sichtbar, sogar aus Flugzeugfenstern zu sehen, auf dem Weg zur Landebahn oder weg von ihr. Aber der City-Flughafen ist stillgelegt, da fliegt außer Kitern nichts mehr, insofern muss sie sich keine Sorgen über voyeuristische Blicke aus dem Dunkel über ihr machen. Abgesehen vom Mond. Der scheint heute nur so mittel. Natürlich, wenn sie eine dramatische Tat vollbringen will, zieht kein klarer voller Mond oder gar ein Blutmond auf. Er ist sichelig und hinter Haze versteckt. Sie sieht ihn nur in der Reflexion der Fensterscheibe, der Mond hängt hinter ihr und kann ihr auf den Po schauen.
»Ich muss mal«, sagt sie in die Nacht hinein und erschrickt über die eigene Stimme, die plötzlich und unangekündigt zu sprechen beginnt. An was man alles denken muss. Bis zum Schluss. Und keiner kann das machen für dich, keiner kann das einfach mal übernehmen, dein Leben oder wie man das nennt. Du bleibst immer in dir drin, nichts zu wollen, kein Fluchtweg. Diese Unnötigkeit eines körperlichen Reflexes. Da ist nichts Hehres oder Klares in diesem Moment, vielleicht dem letzten, da gibt es keinen Erkenntnisgewinn. Was bis hierher nicht gewonnen wurde - rien ne va plus, schschschrrr, das Rollen der Kugel auf der sich drehenden Roulettescheibe, Mads Mikkelsen in Casino Royal, er trägt eine Augenklappe, raucht hier jemand? Nichts geht mehr.
Was bisher nicht gewonnen wurde, tja. Zukünftig wird es nach der Tat weder Gewinn noch Sieg geben. Aber eben auch keinen Verlust mehr, kein Verlieren. Die Kälte wird sie nicht mehr spüren. Hoffentlich. Sie stellt es sich kalt und dunkel vor, und nur die Abwesenheit von Gefühl macht, dass man die Kälte nicht spürt. Wie eine Vollnarkose, so wird es sein, die so angenehm ist, weil es ein Nachher gibt. Die retrospektive Betrachtung und Verwunderung macht das Nichts und den narkotisierten Zustand so angenehm. Sie denkt an ihre Vollnarkosen: Blinddarmdurchbruch, Knie-OP, die Zyste im Unterleib. Vollnarkose fand sie super.
Eindeutig zu wenig meditiert, eindeutig. Sonst könnte sie diese Denkerei ausschalten. Alles zu wenig. Unterm Strich zu wenig gelebt, bringt einem ja keiner bei, und den Abtritt eben auch nicht. Wenn man das üben könnte. Oder wenn einem wie in einem Videogame neue Leben zur Verfügung stünden: »Frage Freunde nach neuen Leben«, das wär's, doch welcher Freund gäbe sein Leben, die haben ja auch nur eins. Und wie überlässt man physikalisch oder wissenschaftlich betrachtet sein Leben einer anderen Person. Das Leben ist kein Spiel, sag ich ja. Und auch kein Ponyhof, wie es auf der Außenwand eines Hipstercafés der Stadt steht, in der sie lebt, die eine Hauptstadt ist, aber keine Metropole.
Sie muss mal und lässt es unter sich gehen, pinkelt einfach los. Wie ein Tabubruch. Nackt auf dem Fenstersims die Wand runterpinkelnd. Wow, das ist ein Ende.
Der Mond ist runtergefallen, auf die Startbahn Tempelhof. Night-Kiter schmeißen sich in sein Licht hinein und cruisen auf den Wellen, die sich beim Aufprall gebildet haben. Eine Welle aus Mondlicht auf dem alten Naziflughafen. Das wär's. Das hat sie nicht geschafft: im Mond baden. Und jetzt kann sie nicht einmal sehen, wie das Gepinkelte die Mauer runterläuft. Oder doch? Sie beugt den Kopf nach unten, oh, keine gute Idee, die Oberschenkel werden weich, runtersehen ist nicht gut, die Höhenangst. Schnell den Blick abwenden, nach vorn sehen, in die dunkle Wohnung hinein und atmen. Atmen ist leben. Atem ist meine neue Droge, sagte ihr unlängst ein Kumpel und kiffte trotzdem weiter.
Ihre Beinchen. Werden weich oder steif oder beides. Das hat sie nicht bedacht, dass der Körper hier zum Gegner des Willens wird. Sie hält sich am Fensterrahmen fest, der in der Mitte einen Holm hat, an dem sich beide Fensterhälften treffen. Dort splittert schwarze Lackfarbe ab. Ihre Knöchel zeigen ihr ihren emotionalen Zustand, sie sind weiß, sie krallt sich eher fest, als dass sie sich hält. Die heiße Flüssigkeit innen am Oberschenkel und die Tropfen auf den Füßen haben sich abgekühlt, ihr Geschlecht wird kalt von dem zügig erkalteten Urin. Sie spannt ihren Beckenbogen an, versucht männlich die letzten Tropfen von ihren Schamlippen abzuschütteln. Wenn sie ein Artist wäre, könnte sie sich die Schamlippen selber ablecken. Kann sie aber nicht. Blasenentzündung wird wahrscheinlich.
Würde ihr jetzt Sperma die Beine herunterlaufen statt Pisse, dann hätte das irgendwie noch eine Bedeutung, wenn man wollte. Das Leben, das aus ihr herausläuft, bevor sie es beendet, irgendwie so. Nicht wichtig. Sex war wichtig. Und die Liebe. Scheißliebe, die hat sie ja hierhergebracht.
Ich kann nicht mehr. Ich weiß nichts mehr. Was soll das hier. Soll ich einfach wieder reinklettern? Oder soll ich mich fallen lassen?
Der Mond ist der Einzige, der sie sieht, er hat heute nur ein Auge, er sieht unscharf und ist auch unscharf für seine Betrachter. Er interessiert sich nicht für die Menschen und leuchtet nachts, so wurde er geboren, was soll er machen, er kann sich nicht aus dem Fenster stürzen. Sie kann es ja offensichtlich auch nicht. Soll er in ihre Gedanken kriechen? Das kann er, aber warum? Sie ist irgendeine. Irgendeine mittelalte Weiße, weiblich, europäisch, Städterin, mit hübschen Beinen und langen Haaren, die farblich unbestimmt über den Rücken hängen und anscheinend nicht besonders gekämmt oder gewaschen sind.
»Ich brauche eine Brille«, denkt der Mond einen pragmatischen Gedanken.
Sie zieht sich kurz am Holm hoch, reibt ihre Zehen abwechselnd gegen ihre Waden zur Durchblutung. Steht dann wieder auf ihren Ballettzehen. Atmet bis vier ein, hält bis acht an, atmet bis vier aus. Gut. Das ist gut. Noch mal. Und noch mal. Sie spürt ihren Körper ein wenig, als wäre das Leben eine gute Sache. Meint, sich näherzukommen, was auch immer das bedeutet, denn es ist zu diesem Zeitpunkt vollständig überflüssig. Es ist nicht mehr nötig, mit sich selbst etwas zu tun haben zu wollen. Aber sie möchte es bis zum Schluss richtig machen, sie möchte ordnen, will mit Würde und Übersicht gehen statt im Chaos.
Sie hat ein Testament gemacht. Hat gedauert, weil sie sich dabei so geschämt hat. Sie fand sich dramatisch und will nicht dramatisch sein, auch nicht kompliziert oder kapriziös. Dämlich statt herrlich.
Das Testament.
Gibt wenig zum Vererben. Die Instrumente halt. Bass, Gitarren. Das Hexenhaus auf dem Land. Kein Mann, kein Kind, keine Eltern. Obwohl - den Eltern hinterlässt man ja testamentarisch naturgemäß nichts, weil die Ordnung verlangt, dass die Eltern vor den Kindern sterben und somit die Eltern für die Kinder ein Testament machen statt andersrum. Aber gesetzt den Fall, ich hätte Eltern, ich hätte noch Eltern, dann hätte ich sie in meinem Testament berücksichtigt. Hätte ich? Nein, ich stünde nicht hier, wenn Mama noch lebte. Diese Gedanken sind...
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