Schweitzer Fachinformationen
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Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 1948
Die erste Reise mit UNICEF habe ich unternommen, als das World Trade Center noch stand. Man durfte Milchfläschchen mit in das Flugzeug hineinnehmen. Nicht dass ich die Absicht gehabt hätte, Milchfläschchen nach Rumänien mitnehmen zu wollen, aber vielleicht eine Flasche Wasser oder eine Kanne Tee. Damals war das noch möglich. Geraucht habe ich nicht, was man absurderweise zu noch früherer Zeit durfte, in den letzten drei Reihen vorm Klo. Jetzt nicht mehr, die Welt ist sicher, sicherer, am sichersten: ohne Rauchen, mit Milchfläschchen, so kommt man ans Schwarze Meer. Es war Frühling.
Anfang des Jahres 2001 lebte meine Mutter noch. Meine Tochter war sieben Jahre alt und in der ersten Klasse. Meinen ersten Text über meine erste Reise schrieb ich, fünf Tage bevor die Türme fielen und ich unbeweglich vor dem Fernseher saß und mich bei dem Gedanken erwischte: Wie gut, dass Mama das nicht mehr erlebt hat. Sie wäre in Panik geraten, wie sie ihr Lebtag schnell in Panik geriet aufgrund der erschütternden Erlebnisse in ihrer Familie während der Zeit des Nationalsozialismus, wie unter anderem die Verbringung ihrer Mutter in eine Irrenanstalt, aus der sie nicht zurückkehren sollte.
Im Jahr 2001 änderte sich die Währung, von Deutscher Mark zu Euro, es war die Interimszeit. Rumänien war noch nicht in der EU, das kam erst sieben Jahre später. Wir mussten Geld wechseln, von D-Mark in Lei.
Claudia Berger vom deutschen Team UNICEF begleitete mich, wie sie mich zukünftig auf fast allen Reisen begleiten wird. Sie hält zumindest den Deutschlandrekord, was Reisen in den globalen Süden angeht, sie war mehrmals around the globe. Die vielen Projektreisen, die sie unternahm und die intensiven Erlebnisse, die darin enthalten sind, haben weder ihr Herz verkümmern noch ihre Sprache verbittern lassen. Im Gegenteil, ihre vielen schönen blonden Haare strahlen wie ihre türkisfarbenen Augen, und sie wird zu einer Freundin werden, von dieser rumänischen Reise an, verbunden durch gemeinsame Erlebnisse und Begegnungen an Orten, die kein Tourist jemals sah. Sogar als wir einer westafrikanischen Zauberin auf der Insel Gorrée vor Dakar begegneten, die uns sagte, dass sie mit Hilfe von Cowryshells (Muscheln) in der Lage wäre, uns die Zukunft vorauszusagen, haben wir uns entschlossen, auch das gemeinsam zu erleben. Was sie voraussagte, findet man im Kapitel Senegal.
Wir fahren also los, und ich gab zwei riesige Koffer auf. Schleppkoffer. Keine Rollkoffer, die hatte ich damals noch nicht. Es gab sie zwar schon, aber ich hatte so etwas Neumodisches leider noch nicht. Ich schleppte also meine Koffer die fünf Stockwerke aus meiner Wohnung hinunter, gefüllt waren sie mit Kleidung meiner kleinen Tochter, die ihr nicht mehr passte oder die zu viel war. Jacken, Pullis, Hosen, Schuhe. Und ein paar Tierchen. Tage vorher war ich losgegangen und hatte Papier und Blöcke, Stifte und Süßigkeiten eingekauft. Ich war noch neu, ich wusste nicht, was man darf und was nicht, wie das standard procedere bei UNICEF aussieht.
Die Koffer waren also voller Mitbringsel für Kinder, denn das Thema der Reise hieß: Heimkinder. Meine Sachen hatte ich ins Handgepäck geworfen. Es ging los, mir war schlecht vor Aufregung. Meine Mutter war bei meiner Tochter, sie machten sich eine schöne Zeit, da war ich mir sicher, es waren ja nur ein paar Tage, sie würden sicherlich jeden Tag gemeinsam zur Schule fahren, Mama würde eine Runde durch den Wald spazieren und ihr Enkelkind dann wieder abholen. In der ersten Klasse ist ja bereits um 11.30 Uhr Schulschluss. Sie würden zusammen in einen Blumenladen gehen, und Paula dürfte sich eine Blume aussuchen, die meine Mutter ihr dann auf den Nachttisch stellen würde, weil man Blumen braucht und Farbe und Duft und die Schönheit, vor allem, wenn es noch kurz vor Frühling ist. Darum sagte meine Tochter mit Anfang 20 zu mir, als wir einen Blumenladen betraten: »Ach, Blumenläden erinnern mich immer so an meine Kindheit.«
Ich wusste, meinen Liebsten wird es gutgehen, während ich diese erste Reise unternehmen würde. Meine Mutter war vielleicht etwas unruhig, aber sie ließ es sich nicht anmerken und bat lediglich um gelegentliche Anrufe, damit sie wisse, dass es mir gutgehe. »Ja, Mama.«
Wir flogen los. In den Osten des europäischen Kontinents. In ein Land, dessen Diktator elf Jahre zuvor, am 21. Dezember 1989, vor laufender Kamera von dem Willen und Hass seines Volkes ermordet worden war. Nicolae Ceausescu, der sich einen Palast in Bukarest hatte bauen lassen, der eines der größten zusammenhängenden Bauwerke der Welt ist. Die Gigantomanie der Diktatoren. Die großen Straßen, achtspurig, zwölfspurig. Zubringer zur Macht. Ceausescu hatte die Idee, die Kinder des Landes in Institutionen unterzubringen und heranwachsen zu lassen. Zum Zeitpunkt unserer Projektreise, im Jahr 2001, lebten noch immer 100000 Kinder in 500 Heimen. Eine institutionalisierte Gesellschaft schwebte ihm vor. Als könne man Menschen in Schachteln praktisch unterbringen und übereinanderstapeln, und alles, was da nicht reinpasst, kommt in eine extra Schachtel für die Ausschussware, für das unwerte Leben, wie die Nazis es nannten.
Die Stärke einer Gesellschaft misst sich an ihrem Umgang mit den Schwachen. In Rumänien konnte man auch 2001, zehn Jahre nach den Fotos, die einmal um die ganze Welt gegangen waren und Entsetzen ausgelöst hatten, auf denen Kinder zu sehen waren, die in Schweineställen aufgefunden wurden oder an Heizungskörper gekettet worden waren, die Nachwirkungen dieser Institutionen noch erleben.
Die Koffer habe ich ausgepackt, nachdem ich Dr. Matusa in Constanta kennengelernt, nachdem ich einige ihrer 250 Kinder kennengelernt hatte. Die lovejunkies.
Die Klinik in Constanta wirkt, als läge sie auf einem Hügel, obwohl man nur einen kleinen ansteigenden Weg aus Geröll zu ihr hochgeht, aber sie hat Charakter ohne Schönheit, und sie schaut mich an. Die Klinik hat Ähnlichkeit mit den Einrichtungen, die überall in der Welt den Eindruck vermitteln, dass man abhängig sei, dass man an diesem Faden hängt, den andere durchschneiden können. Krankenhäuser, Gefängnisse, Altenheime, Irrenanstalten, Schulen. Das sind große Häuser mit vielen Menschen darin. Wir sind im Osten. Das sieht man auch ohne Straßenschild. Trotz Mauerfall und Perestroika und dem Ende des Kalten Krieges. Das Sowjetreich ist zerfallen, die Länder begannen sich unabhängig zu machen, die Armut springt einem ins Auge, wir sind bei jenen, die wahrlich Hilfe, Nähe, Zuneigung und Berührung benötigen.
Wir besuchen die Kinder. Wir besuchen sie in einem Krankenhaus, weil sie krank sind. Sie sind HIV-infiziert oder haben Aids. Wir besuchen sie in einem Krankenhaus, das ihr Zuhause geworden ist, weil sie keine Familie mehr haben, weil sie zurückgelassen oder abgegeben wurden oder weil die Eltern bereits an Aids gestorben sind. 90000 Kinder in Rumänien wurden abgegeben oder zurückgelassen. Die Familien sind überfordert, die vielen Kinder, die auf des Diktators Wunsch im ganzen Land geboren wurden, überforderten die Finanzkraft der Familien. Mütter gebaren ihre Kinder in Kliniken und verschwanden. Andere legten ihre kranken Kinder vor das Krankenhaus, weil sie nicht wussten, wie sie die fünf gesunden Kinder und das eine kranke Kind versorgen sollten. 1989/90 wurden Tausende von Babys geimpft und durch die Impfung mit HIV angesteckt. Man vermutet, dass die Nadeln nicht steril waren.
Zur Erinnerung: Es gibt einen Unterschied zwischen HIV-positiv und Aids. HIV ist der Erreger, das >Humane Immundefizienz-Virus<. Aids ist die Krankheit, der Name ist die englische Abkürzung für ein >erworbenes Immundefektsyndrom<.
Wir gehen die Treppe hoch in den zweiten Stock, in dem sich die HIV-positiven und mit Aids infizierten Kinder aufhalten. Die Gänge sind breit, leer und dunkel, Kabel und Glühbirnen hängen von der Decke, aber es leuchtet nichts. Ein Trakt ist zugesperrt. Hier leben die Kinder, die keinen Ort, keinen Menschen haben, sondern deren Ort hier ist und deren Menschen die Ärzte und Betreuer sind - und heute sind wir es, wie wir gleich sehen werden. Ich werde in den Essensraum geschoben, in dem alle die Kinder zum Mittagessen versammelt sind und winken. Ich winke zurück. Ich weiß nicht, was ich tun soll, es scheint mir so absurd, hier zu sein, also stehe ich mit dem Rücken an der Wand und versuche mich mit der Frau Doktor zu unterhalten, um zu verstehen, was hier geschieht, doch da ertönt lautes Schreien aus einem anderen Zimmer, und sie rennt los. Nach kurzer Zeit hört das Weinen auf, und laute Stille bleibt zurück.
Die Kinder sind fertig mit dem Essen und laufen auf mich zu. Ein ganzer Haufen kleiner Mädchen und Jungen. Hände, Arme, rote und bleiche Gesichter und verwuschelte Haare, manche ohne Haare, manche mit Kopftuch, sie ergreifen meine Hand, sprechen zu mir hin, ziehen mich aus dem Raum, umarmen mich, lassen meine Hände, meine Arme nicht mehr los, versuchen, an mir hochzuklettern, drücken sich an mich. Was geschieht hier?
Elena, so nenne ich sie, ist zwölf Jahre alt und lebt hier seit zwölf Jahren. Durch eine Bluttransfusion wurde sie mit dem Virus infiziert, ihre Mutter ist tot. Sie teilt sich das Zimmer mit sieben anderen Kindern. In einem Knäuel gehen wir hinüber in das Zimmer, ich soll es mir ansehen, sie wollen mir ihre Sachen zeigen, eine Puppe, ein Bild, ein...
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