Schweitzer Fachinformationen
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Sie ging. Alma konnte den ruhigen Takt der Bornholmer Uhr nicht mehr hören, aber sie konnte ihn noch immer im Herzen spüren. Etwas in ihr sagte, dass sie zusammenhingen, die beiden. Die alte Standuhr und ihr Herz. Sollte sie eines Abends vergessen, die Bornholmerin aufzuziehen, würde ihr Herz zusammen mit ihr stehen bleiben. Das war kein Gedanke, der ihr Angst machte. Es war einfach eine Gewissheit, an die sie sich gewöhnt hatte. Sie hatte sich seit dem vergangenen Winter an so vieles gewöhnen müssen. In erster Linie daran, allein zu sein. Aber auch das ging, bis auf Weiteres.
Die Standuhr im Wohnzimmer aufzuziehen war das Letzte, das Alma tat, bevor sie sich schlafen legte. Zuerst machte sie sich fertig für die Nacht und streifte sich mit Mühe ihr Nachthemd über, während sie auf dem Bett saß. Wenn sie dann das Schlafzimmer verließ und in den Flur hinaustrat, musste sie sich an den Wänden abstützen. Das Haus, in dem sie wohnte, war nicht groß, und trotzdem gab es Abende, an denen der Flur sehr lang erschien und das Wohnzimmer nur wie ein schwaches Licht am Ende des Tunnels. Nichtsdestotrotz schätzte Alma ihre abendliche Routine. Allein schon ein Ziel zu haben war angenehm. Dass es für sie etwas zu tun gab. Jemanden, der auf sie wartete.
Auch wenn es nicht weit bis zur Uhr war, musste sie immer aufpassen, dass sie nicht hinfiel. Ihre Beine waren nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren, ihr Rücken auch nicht, er krümmte sich mehr, als ihr lieb war. Morgens war es am schlimmsten. Offenbar richtete der Tag sie teilweise auf, bevor die Nacht sie wieder zusammenknautschte.
Im Wohnzimmer konnte Alma sich auf die Möbel stützen. Sobald sie die Flurwand losgelassen hatte, stand ein Esstischstuhl bereit, um mit seinem kräftigen Rücken ihre rechte Hand zu ergreifen. Vier vorsichtige Schritte später packte eine schwere Kommode ihre linke. Die Möbel erwarteten sie mit ihrem sicheren Stand. Und am Ende eines persischen Läufers, an der hintersten Wand des Wohnzimmers, wartete die alte Bornholmer Uhr.
Der Aufziehschlüssel hing an einem roten Faden an dem Schlüssel, der im Schloss des Uhrenkastens steckte. Sie waren wichtig, diese Schlüssel.
Schlüssel waren Eingänge. Und Ausgänge.
Die beiden Aufziehlöcher waren übereinander im Ziffernblatt platziert, und um heranzukommen, musste Alma zuerst den Glasdeckel öffnen, der davorsaß. Noch reichte sie gerade so dort hinauf, aber viel krummer durfte ihr Rücken dann auch nicht mehr werden. Sie stützte sich gern mit ihrer freien Hand am Uhrenkasten ab, wenn sie den Deckel vor dem Ziffernblatt öffnete, und vor allem, wenn sie danach den Aufziehschlüssel in das erste Loch steckte und zu drehen begann.
Früher war er derjenige gewesen, der das getan hatte. Jahrein, jahraus, jeden Abend zum exakt gleichen Zeitpunkt.
»Vierzehn«, sagte er jedes Mal, wenn er mit einem Loch fertig war.
Er zählte immer die Umdrehungen, und es waren immer vierzehn.
Alma machte sich nicht die Mühe zu zählen. Sie drehte einfach, bis es nicht weiter ging.
Wenn sie fertig war, öffnete sie die Holztür zum rechten Uhrenkasten. Sie klemmte ein wenig, und es gab eigentlich keinen Grund, sie zu öffnen. Trotzdem musste Alma sich vergewissern, dass die Gewichte nun auch ganz nach oben gezogen waren, wo sie sein sollten, und dass das Pendel zuverlässig unter ihnen hin- und herschwang.
Es ging trotz allem um ihr Leben.
Aber es war nicht nur das. Sie musste auch sichergehen, dass auf dem Boden des Kastens eine alte Zigarrenkiste lag, und darauf noch ein weiterer Schlüssel: ein kleiner flacher Schlüssel zu einem stabilen Vorhängeschloss. Ein unschuldiges Stück Metall, hätte man meinen können, und doch befiel Alma jedes Mal ein kurzes Unbehagen, wenn sie den Schlüssel dort in der Dunkelheit liegen sah. Es konnte passieren, dass sie einen Augenblick innehielt und ihn anstarrte, aber sie ließ ihn immer liegen.
Danach drückte sie die Holztür des Uhrenkastens mit beiden Händen zu, drehte den Schlüssel im Schloss um und hängte den Aufziehschlüssel zurück an seinen Platz. Abend für Abend zog sie nun dieselbe Schlussfolgerung, die sie freundlich der Bornholmer Uhr und dem Rest des Wohnzimmers mitteilte: »Ja, das war also dieser Tag.«
Alma konnte kaum noch hören, was sie selbst sagte, aber wenigstens konnte sie sehen. Weder der eine noch der andere Star hatte es geschafft, sich in ihren Augen niederzulassen. Nicht eine einzige Brille hatte sie ihr langes Leben hindurch gebraucht.
»Sie haben Adleraugen, Frau Sørensen«, hatte einmal jemand gesagt, und der Adler hatte offenbar die Stare all die Jahre über ferngehalten. Sie wusste nicht mehr, wie viele es waren.
Die Jahre flossen ineinander. Ohne jemanden, mit dem sie sie zählen konnten, waren sie nichts anderes als Zeit, die verging und gleichzeitig nicht vom Fleck kam.
***
Ja, sehen konnte Alma noch immer. Ab und zu konnte sie sich auch erinnern. Sie erinnerte sich daran, dass sie einmal auf einer Düne gesessen und auf einen Punkt am Horizont gezeigt hatte. Einen Punkt, der ein Fischkutter war. Das Mädchen hatte den Punkt nicht entdecken können.
Um sie herum waren Strandhafer und Sand und das brausende Geräusch des Meeres, das von den Schreien der Möwen und spielenden Kinder durchbrochen wurde. Von Zeit zu Zeit strich ein lauer Wind über die Gräser, die sich unter ihm wegduckten, während Haarsträhnen ihre Sicht störten und fliegende Sandkörner ihr in die Fußgelenke zwickten.
Die Beine des Mädchens waren sonnengebräunt und seidenglatt, genau wie die Füße. Die Zehennägel rot, der Lack schon etwas abgeplatzt; an den kleinen Zehen war nur noch ein winziger Fleck übrig. Die Zehen gruben sich mit weichen Bewegungen in den warmen Sand, als versuchten sie ihn festzuhalten. Und obwohl der Sand viel zu fein war, um festgehalten zu werden, fuhren die Zehen geduldig mit ihren Versuchen fort. Sie hatten alle Zeit der Welt.
Almas Füße waren auch da. Sie waren älter und blasser, aber nicht alt, nicht hässlich. Nur erwachsen. Die weißen Spanne verschwanden unter den Riemen eines Sandalenpaars, und auf der anderen Seite des Leders guckten die Zehen hervor. Ihre eigenen Zehen. Zehn kleine wippende Stücke gepflegtes Perlmutt in der Sommersonne.
Sie sprachen über den Lack. Das Mädchen wünschte sich nächstes Mal Perlmuttlack auf den Nägeln. Wie der, den Alma hatte. »Perlmutter«, sagte sie mit ihrer perlenden, hellen Stimme. Und »Mutter«.
Alma sagte zu dem Mädchen, dass sie ein schickes kleines Fräulein werden würde.
Sie wünschte, sie könnte den Kopf drehen und das Gesicht des Kindes sehen, seinen Körper. Das ganze Kind. Aber der Augenblick in den Dünen war ein Film, oder das Bruchstück eines Films, den Alma nicht steuern konnte. Er spielte sich selbst ab wie ein wiederkehrender Albtraum, aber ohne den Alb auf der Brust. Eigentlich sogar ganz ohne Brust, und, was das Schlimmste war, ohne Gesicht. Ein abgeschnittenes Glück, aufgenommen in fernen Zeiten, irgendwo zwischen Himmel und Strandhafer.
Nur mit nackten Zehen.
Es gab eine Zeile aus einem Lied, die ab und zu aus dem Nichts in Almas Gedanken auftauchte. Der Wind hat mir mein Haar verweht. Das hatte einmal jemand für sie gesungen, und sie hatte gelacht, weil es so albern war. Ein ganz verkehrter Text zu einer bekannten Melodie. Sie konnte sich noch an den Melodiefetzen erinnern, aber es gelang ihr nie, sich den richtigen Text ins Gedächtnis zu rufen, nur diese dumme Zeile mit dem Haar.
Sie begriff, dass es lustig war, aber nicht mehr, warum. Etwas fehlte, ein Körper, ein Zusammenhang. Der Ernst, aus dem der Humor gewachsen war.
Alles war aus etwas gewachsen, auch Alma. In einem Rahmen auf dem Sekretär standen sie wie zwei kleine farblose Gestalten und verblassten in ihren Sonntagskleidern. Ihre Eltern. Viel zu fein, um für Zeit und Ewigkeit auf Papier festgehalten zu werden. Je mehr der Kontrast zwischen dem Schwarz und dem Weiß seine Kraft verlor, desto mehr verschwanden sie allmählich, Hand in Hand, in einem grauen Nebel. Nein, auch ihre Eltern waren nicht unsterblich, weder im Leben noch im Tod. Aber sie lächelten bis zuletzt.
Wenn Alma sich selbst im Spiegel betrachtete, entdeckte sie manchmal alle beide. Sie hatte Lachfältchen im Überfluss. Die hatte auch die Mutter im Rahmen gehabt, bevor der Nebel und die Zeit sie geglättet hatten. Sie sahen aus, als wären sie oft benutzt worden, Almas Lachfältchen, besonders an den Augen, und allein ihr Anblick brachte sie manchmal dazu, ihrem eigenen steinalten Spiegelbild zuzulächeln. Sie erinnerten sie daran, dass sie gelacht hatte.
Lächeln bedeutet nicht immer Freude, das wusste sie wohl. Lächeln bedeutet auch Trauer, Trost. Aber es ist doch ein Lächeln, dachte sie, und in jedem Lächeln wohnt eine Wärme. Ein kleines Glück, etwas, das ist oder war oder kommen wird.
Es lag eine Sicherheit darin zu wissen, dass man gelächelt hatte.
Trotz allem.
Die Erinnerungen an das Mädchen kamen in der Regel in Form von Blitzlichtern - mit dem Kind, aber gleichzeitig ohne das Kind: ein Blitzlicht von dem großen Bauch, von einem Kinderwagen im Garten im Schatten einer Apfelrose, von einer Torte mit sechs Kerzen, einem kleinen Fahrrad. Die beiden Polizisten in der Tür und ihre traurigen, betretenen Blicke. Es tat ihnen leid.
Überfahren. Sie erinnerte sich an das Wort »zerquetscht«.
Hinuntergelassen. Der kleine Sarg.
Dann verschwanden die Bilder wieder, so wie ein Traum verschwindet, wenn man sich im Bett bewegt. Nur ein Gefühl blieb...
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