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Das »Stübchen« lag nur zwei Ecken von seiner Wohnung entfernt und war, wenn man ehrlich sein wollte, eine ziemlich heruntergekommene Spelunke. Beides kam Horst Jablonski sehr gelegen. So hatte er es nie weit, wenn ihm nach Gesellschaft und dem einen oder anderen Bier war und außerdem bestand wenig Gefahr, dass sich diese schrecklichen Studenten oder »Ich bin Schauspieler, vor allem experimentelles Theater«-Typen mit ihren schrägen Frisuren und seltsamen Brillengestellen, die alle diesen abwesenden und zugleich überheblichen Blick drauf hatten und sich hier wie eine langsam ausbreitende Krankheit breitmachten, in seine Kneipe verirrten. Und taten sie es doch einmal, sorgte Fred, der Besitzer/Gastwirt/bester Kunde mit seiner unnachahmlichen Ruppigkeit dafür, dass kaum einer von denen länger als auf ein hastig heruntergespültes Glas billigen Weißweins blieb. Um die wenigen, die diesen dezenten Wink zur Tür aus welchen Gründen auch immer nicht verstanden, kümmerte sich dann Jablonski oder einer der anderen Stammgäste. Ausschließlich verbal, versteht sich. Denn jeder, der hier regelmäßig verkehrte, meist schon seit Jahren oder wie der alte Günther seit Jahrzehnten, hatte eine klare Vorstellung davon, was er von seinem »Stübchen« erwartete. Und trendige Zugezogene gehörten nicht dazu. Da waren sich alle einig.
Horst Jablonski öffnete die schwere Holztür und atmete den herben Geruch nach verschüttetem Bier, kaltem Rauch und staubigen Sitzbezügen ein. Die Musikanlage, die bei angedrohter Prügelstrafe niemand außer Fred bedienen durfte, spielte leise die »Eagles«. Hotel California, wie jeden Abend, meist mehrfach. Jablonski blieb kurz an der Tür stehen und sah sich im dämmrigen Licht um. Fred, massiger Typ mit blankpolierter Glatze, stand an seinem Platz hinter dem Tresen und rauchte. Die Tische waren leer, nicht mal Günther war an seinem angestammten Platz in der Ecke, nur an der Bar saß Dieter, wie immer in einem seiner schicken Anzüge, die so gar nicht hierher passen wollten. Man kann nie zu gut gekleidet sein, sagte er immer und vermied es meistens, die Arme zu weit auf den Tresen zu legen, denn wenn Dieter bekannt war für seinen für die Verhältnisse des »Stübchens« extravaganten Bekleidungsstil, so war Fred bekannt für seine notorische Unlust, einen Wischlappen in die Hand zu nehmen.
»Dieter, grüß dich«, sagte Jablonski. Er wuchtete sich auf einen Barhocker neben Dieter Wellenbrink und klopfte ihm auf die Schulter. »Fred«, nickte er dem Wirt zu, der nur kurz mit dem Mundwinkel zuckte und dann ein Bierglas unter den Zapfhahn hielt. Es zischte verheißungsvoll, während das Bier schäumend in das Glas lief.
»Horst. Alles gut?« Dieter nahm einen langen Schluck und wischte sich anschließend den Mund mit dem Handrücken.
»Beschissener Tag«, sagte Jablonski.
»Wem sagst du das.«
Fred schob Jablonski das Bier hin. »Wohl bekomm's, Horst.«
»Danke. Schreib's auf, ja?«
»Was sonst?«, gab Fred mit einem angedeuteten Lächeln zurück.
»Sag mal«, sagte Jablonski nach einem Schluck Bier, »müssen hier eigentlich immer die schrecklichen Eagles laufen?« Er grinste Fred erwartungsvoll an.
»Pass auf, nur weil du zu meinen Stammgästen gehörst, breche ich dir jetzt nicht alle Knochen einzeln. Aber noch ein Wort gegen die Eagles und die Sache sieht ganz anders aus.«
Dieter erhob sein Glas und sagte in feierlichem Tonfall: »Hört, hört. Freds Regierungsansprache.«
Alle lachten und summten dann das Gitarrensolo von »Hotel California« mit. Schließlich sagte Jablonski: »Außerdem, Fred, du weißt, dass ich mal Boxer war.«
»Komisch, hab' nie von dir gehört. Wo war das, Weddinger Schulhof?«
»Das willst du gar nicht wissen, würdest dir nur ins Hemd machen«, gab Jablonski zurück.
Fred hielt sich gespielt ängstlich die Hände vor das Gesicht und widmete sich dann dem CD-Player. Umständlich wechselte er die silbernen Scheiben und kurz darauf plärrte »Smokie« aus den Boxen.
»Immer wenn man denkt, es kann nicht schlechter werden«, sagte Dieter leise zu Jablonski und ahmte das Geräusch von Erbrechen nach.
»Genau dasselbe habe ich mir heute auf dem Amt auch gesagt.« Jablonski stellte das Glas schwungvoll auf den Tresen zurück. »Stell dir mal vor, die haben mir einen neuen Sachbearbeiter zugewiesen.«
»Und?«, fragte Dieter.
»Und? Mensch, ich hatte so einen super Nichtangriffspakt mit dem Neumann. Ich ging ihm nicht auf die Eier und er hat mich dafür so halbwegs angenehm durchgeschleift.«
»Aber mal ehrlich Horst, so gar nicht arbeiten?«
»Damit bin ich durch. Nee, Dieter, ich habe mich jahrzehntelang krumm gemacht. Und wofür? Damit sich ein paar feine Pinkel die Taschen voll machen. Und als das nicht mehr gereicht hat, verkaufen die den Laden und tschüss. Das ist doch keine Art.«
»Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist. Aber irgendwie muss es doch immer weiter gehen, oder?«
Jablonski verzog den Mund. »Da weiß ich aber nicht, ob das hier der richtige Ort dafür ist.«
Dieter sah sich um, die Lippen geschürzt, blasierter Blick. »Wieso? Ist doch ein hochwertiges Etablissement mit hervorragender Küche und ausgezeichnetem Weinkeller. Das Borchardt ist schier grün vor Neid.«
Jablonski lachte kurz auf.
»Borchardt?«, fragte Fred.
Bevor Dieter antworten konnte, öffnete sich die Tür. Gewohnheitsgemäß drehten alle die Köpfe zum Eingang.
»Die Sonne geht auf«, rief Jablonski, erhob sich und latschte hinüber.
»Alter Charmeur«, gab Silke Bessin mit rollenden Augen zurück, ließ sich aber von Jablonski den Handrücken küssen und dann an den Tresen geleiten.
»Silke, schön dich zu sehen«, sagte Dieter.
»Wie immer?«, fragte Fred.
Silke nickte, wischte mit einem Taschentuch über das Tresenholz, legte dann ihre Tasche ab und schob sich einen Stuhl zurecht. Dieter grinste: »Musst du doch nicht machen. Nicht wahr, Fred, du wienerst hier alles mehrmals am Tag.«
»So wie ich dir gleich eine wienere«, sagte Fred ohne eine Miene zu verziehen und goss Mineralwasser zu dem Weißwein. »Hier, meine Liebe, deine Weißweinschorle.«
»Danke, Fred.« Silke setzte das Glas an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck.
»Heute noch Dienst?«, fragte Jablonski und deutete auf Silkes Uniformjacke.
»Hab noch eine Stunde Zeit.«
Dieter zeigte auf ihr Glas. »Und das?«
Silke zuckte mit den Achseln. »Wozu gibt es Pfefferminzbonbons. Außerdem, die Arbeit ist schrecklich eintönig und die Bezahlung schlecht. Wer will mir also nicht eine kleine Aufmunterung vorher gönnen?«
»Da hat unsere Silke vollkommen recht«, sagte Jablonski und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. »Überall nur Ausbeuter. Ich verstehe sowieso nicht, weshalb du da noch hingehst.«
Silke kniff die Augen zusammen. »Äh, ich brauche das Geld? Miete, Essen, Fahrkarte.«
Jablonski stieß verächtlich die Luft aus.
»Unser Horst hier«, sagte Dieter, »ist damit ja fertig. Dafür lässt er sich jetzt von jemandem, der halb so alt ist wie er, gängeln. Tja, ist natürlich viel besser.«
Jablonski leerte sein Glas und hielt es Fred entgegen. »Noch eins, ja? Und Dieter, das habe ich ja nicht gesagt. Ist alles scheiße. Und unfrei, irgendwie.« Er blickte auf die Reihe von Flaschen mit Korn, Kräuterlikör und billigem Whisky in dem Regal hinter dem Tresen. »Man müsste halt einmal Glück haben, den großen Fang machen. Und dann, adieu ihr Sorgen.«
Silke legt ihm zögerlich eine Hand auf den Arm. »Ach Horst, was soll's, oder?«
»Und außerdem«, warf Dieter ein, »du hattest doch deine Chance. Frau, Kind, Haus. Und hast es vermasselt.« Er strich sich über die Nase und fügte hinzu: »Genau wie ich.«
»Und das Ende vom Lied?«, grummelte Jablonski.
»Kopf hoch«, sagte Silke. »Wenn das nicht passiert wäre, hätten wir uns nie kennengelernt.« Sie suchte unsicher seinen Blick, aber Jablonski starrte immer noch geradeaus. »Also, wir drei«, bemühte sie sich betont locker anzufügen. Silke nahm ihre Hand zurück, drehte das Weinglas am Stiel langsam im Kreis.
»So, Kinder«, rief Fred in die entstandene Stille. »Jetzt mal nicht so traurig hier.« Er dreht die Musik etwas lauter.
Jablonski nickte. »Ich kann ihr ja nicht mal böse sein. Ich meine, es war doch klar, dass sie nicht lange allein bleibt. Sie ist immer noch hübsch, da würde doch keiner denken, dass sie Ende fünfzig ist, eher Anfang vierzig oder so. Schlank, schöne Haare, immer am Lächeln. Aber ganz ehrlich, so einen Sesselpupser von Beamtenarsch?«
»Wo die Liebe...