Schweitzer Fachinformationen
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Erstes Kapitel
Milla stieß die Fensterläden auf und lehnte sich weit hinaus.
Der Ruf des Muezzins hatte sie geweckt; zuerst hatte sie ihm schläfrig gelauscht, später hellwach. Eine Welle aus Licht und Luft flutete herein, durchsetzt mit einer Vielzahl fremdartiger Aromen, die sie begierig einsog. Unter ihr ein Gewimmel schattiger Gassen, über ihr der Spätsommerhimmel, so indigoblau, als bestünde er aus allerfeinstem Muranoglas. Sie hörte die rostigen Schreie der Möwen, die sich um Fischabfälle stritten, vermischt mit den klagenden Lauten der Maulesel, die als Lasttiere dienten. Dazwischen erklangen Männerstimmen, fluchend oder sich etwas zuschreiend, und sie verstand die Stimmung, auch wenn sie nicht wusste, was die Worte bedeuteten.
Die überdachten Markthallen, in deren Nähe Nikos’ stattliches Haus lag, waren offenbar gerade dabei zu erwachen. Im Vorübergehen hatte sie schon gestern ein paar Blicke darauf werfen können, genug, um ihre Neugierde zu wecken.
Und noch etwas war erwacht: Die alte Angst, die Milla in den Tagen auf See immer wieder tapfer niedergekämpft hatte.
Doch seit die Galeere gestern Abend im Hafen von Konstantinopel angelangt war, hatte sie neue Nahrung erhalten, wie ein Feuer, das eine Weile unter einer Ascheschicht geglüht hatte, um beim ersten Windstoß erneut aufzuflammen. Nicht einmal Lucas Gegenwart konnte Milla davon heilen, deshalb behielt sie ihre Befürchtungen, alles könnte vielleicht trotz ihrer Anstrengungen doch noch ins Leere laufen, lieber für sich. Er war mitgekommen, um sie bei der Suche nach dem Feuerkopf zu unterstützen, ebenso wie seine Freunde Nikos, Alisar und Ganesh, die hier zu Hause waren.
Doch wie sollten sie Millas Vater Leandro Cessi in diesem Labyrinth ausfindig machen? Und was würde geschehen, wenn Milla ihm nach all den Jahren der Trennung tatsächlich wieder gegenüberstand?
Alles, was sie in Händen hielt, war sein Brief, der das Wasserzeichen des Sultans trug – die Tulpe, die sie hier Lale nannten.
Bislang war es das einzige Wort in der fremden Sprache, das sie kannte.
Und dennoch war es Milla an diesem frühen Morgen, als rufe Konstantinopel sie geradezu. Die feinen Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf, so deutlich meinte sie es zu hören.
»Ich bin da«, flüsterte sie. »Ich bin da!«
Die Stadt war alt und riesengroß, und sie steckte voller Geheimnisse, das spürte Milla bei jedem Atemzug. Wie ein lebendiges Wesen ergoss sie sich mit ihren Holzhäusern über die Hügel, an manchen Stellen von massiven Gebäudekomplexen aus Stein unterbrochen: Moscheen, Kirchen, Markthallen und einer weitläufigen Palastanlage unweit des Wassers, die von hohen Mauern schützend umgeben war.
Sie drehte sich zu dem breiten Bett um, in dem ihre Mutter schlief.
Savinias blonder Zopf hatte sich beim nächtlichen Herumwälzen gelöst. Helle Wellen umschmeichelten ihr Gesicht mit der geraden Nase und den vollen Lippen und ließen sie fast mädchenhaft aussehen. Aber es gab auch die steile Falte zwischen den Brauen und den eingekerbten Fältchenkranz um die Augen, die von durchweinten Nächten, Resignation und altem Kummer zeugten. Venedig zu verlassen, um sich auf diese Suche mit ungewissem Ausgang zu begeben, war für sie, die jede Veränderung scheute, eine ungleich größere Herausforderung als für Milla.
Und dennoch hatte sie diesen mutigen Schritt gewagt.
Was allerdings noch lange nicht hieß, dass Mutter und Tochter nicht mehr aneinandergerieten. In schwierigen Situationen konnten sie sich uneingeschränkt aufeinander verlassen, das hatten die aufregenden Ereignisse am Himmelfahrtstag bewiesen. Ging es jedoch um Unwichtigeres und alltägliche Lappalien, prallten ihre Dickköpfe immer noch rasch gegeneinander, und sie begannen nach wie vor zu streiten. Zu Hause hatte dann meist Ysa dafür gesorgt, dass in solchen Fällen genügend Luft zwischen ihnen war, doch Leandros einzige Schwester hatte sie nicht auf diese gefährliche Reise begleitet. Jetzt mussten Tochter und Mutter lernen, ohne ihre erprobte Schiedsrichterin auszukommen.
Und noch jemand fehlte – Marco!
Beim Gedanken an ihn hatte Milla das Gefühl, ein großer, kalter Stein läge in ihrer Brust.
Der Plan, ihn gemeinsam mit einer List aus den Klauen des Admirals zu befreien, war schon im Ansatz kläglich gescheitert. Der bösartige alte Habicht hatte seinen einstigen Vertrauten nicht wie von ihnen vermutet in die pozzi werfen lassen, jene feuchten Zellen unterhalb des Dogenpalasts, in denen auch Milla und Ysa eingekerkert gewesen waren. Stattdessen hatte er offenbar dafür gesorgt, dass Marco an einen anderen Ort geschafft wurde. Nicht einmal das neu geknüpfte Netz aus Wasser- und Feuerleuten war tragfähig genug gewesen, um dieses geheime Versteck aufzuspüren. Was sie auch unternommen hatten, in ganz Venedig war nicht herauszubekommen gewesen, wo Marco Bellino steckte. Schließlich hatten sie abwägen müssen, entweder ihre Suche nach ihm fortzusetzen, oder die Galeere nach Konstantinopel zu versäumen.
Nach endlosen Diskussionen, ebenso hitzig wie tränenreich, hatten sie sich für Letzteres entschieden, doch Milla war sich noch immer nicht sicher, ob es auch wirklich die richtige Wahl gewesen war. Immer wieder drängte sich ein Gedanke in ihren Kopf, so entsetzlich und bedrohlich, dass sie ihn jedes Mal gleich wieder wegschob.
Was, wenn Marco nicht mehr am Leben war?
Und was, wenn der heimliche Herrscher des Arsenals Marcos beherztes Eingreifen, das die stolze Stadt im letzten Moment vor Schutt und Asche bewahrt hatte, mit dessen Tod gerächt hatte?
Offiziell war natürlich nichts darüber bekannt geworden.
Aber besaß Venedig nicht genügend Kanäle, in denen man jede unerwünschte Leiche leicht verschwinden lassen konnte?
Das konnte, das durfte nicht geschehen sein – aber was, wenn doch?
Plötzlich konnte Milla die Wände des Schlafzimmers nicht länger um sich ertragen, selbst wenn es noch so großzügig geschnitten und mit Polstern und kostbaren Teppichen ausgestattet war.
Die Kisten, die überall herumstanden, waren noch zugenagelt, doch ihnen gehörte ohnehin nur eine einzige, die irgendwo dazwischengeraten sein mochte. Alle anderen waren randvoll bestückt mit Nikos’ Handelswaren.
Also angelte sie nach ihren Kleidern vom Vortag, auch wenn sie lieber etwas Frisches angezogen hätte, schlüpfte in Rock und Pantinen und schnürte ihr rosenfarbenes Mieder über dem weißen Hemd zu. Die Locken fühlten sich vom Salz klebrig an und standen, wie Millas Finger ertasteten, vom Kopf ab wie vorwitzige Feuerspiralen. Da nirgendwo ein Spiegel aufzutreiben war, bändigte sie sie kurzerhand mit einem breiten Band.
Und Wasser?
Irgendwo hier im Haus mussten sich die sagenhaften Baderäume befinden, mit denen Alisar ihr die ganze Fahrt über in den Ohren gelegen hatte, während Sonne, Wind und Salz sie malträtiert hatten, bis Haut und Haare mit winzigen weißen Kristallen übersät gewesen waren. Doch Milla war jetzt nicht danach, sich auf eine langwierige Suche zu begeben. Sie begnügte sich mit dem Krug und der blau lasierten Schale, die auf einem schmalen Emailletisch standen, schüttete sich einen tüchtigen Schwall Wasser ins Gesicht und spülte den Mund sorgfältig aus.
Und jetzt hinaus – die neue Stadt riechen und schmecken!
Als sie behutsam die Tür öffnete, um niemanden zu wecken, wäre sie beinahe über den Kater gestolpert.
Puntino bewachte die Schwelle, unbeweglich und würdevoll wie eine Statue.
Hatte er etwa die ganze Nacht dort verbracht?
Wie er überhaupt auf die Galeere gelangt war, war ihnen bis heute rätselhaft, denn sie hatten ihn eigentlich wohlversorgt bei Ysa und Marin gewähnt. Doch er musste ausgebüchst und heimlich ihrem Tross gefolgt sein, und war dann offenbar auf das Schiff gesprungen, um sich dort zu verstecken. Sie befanden sich schon viele Knoten entfernt von Venedig, als er plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
Seitdem war sein bevorzugter Platz ganz vorn auf Deck, eine winzige Galionsfigur, die sich nur dann bewegte, wenn die Wellen zu hoch schlugen oder der anregende Geruch von Essen ihre Nase kitzelte.
Milla bückte sich, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Geschmeidig rieb er sich an ihrer Wade und maunzte leise.
»Du willst doch nicht etwa mit?«, fragte Milla.
Seine großen hellgrünen Augen musterten sie aufmerksam.
»Aber du wirst gut aufpassen, versprich mir wenigstens das!«
Puntinos Schwanz peitschte, was sie als Zustimmung nahm.
Als sie an Lucas Zimmer vorbeikamen, dessen Tür halb angelehnt stand, hielt sie unwillkürlich inne und warf einen Blick hinein. Zu ihrem Erstaunen war er nicht allein. Während der Nacht musste sich Ganesh zu ihm geschlichen und als schmales, bronzefarbenes Bündel am Fußende des Bettes zusammengerollt haben. Er schnarchte zum Gotterbarmen.
Luca lag auf dem Rücken, die Haare gegen das helle Kissen dunkel wie glänzendes Rabengefieder, die Lagunenaugen geschlossen. Das Laken war ein Stück herabgeglitten und enthüllte seine kräftigen Schultern und die glatte, gleichmäßig gebräunte Brust. Milla lächelte, als sie ihn ansah, dann wurde sie wieder ernst, weil sie erneut jenes tiefe, warme Glück im Bauch spürte, das sie noch immer atemlos machte.
Durch Feuer und Wasser waren sie Seite an Seite gegangen, um den alten Pakt neu zu...
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