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»OH LORD, won't you buy me a Mercedes Benz«, röhrt Janis Joplin durch den Kinosaal. Ich greife in die Popcorntüte. Besser jetzt essen, bevor mir nachher der Appetit vergeht. Der >Baader Meinhof Komplex< verschwindet als Schriftzug von der Leinwand. Die Musik spielt weiter. Lange habe ich auf diesen Film gewartet. Er beginnt mit einer Strandszene. Sylt im Sommer 1967. Sylt und FKK.
O Herr, kannst du mir statt eines Benz' nicht Handtücher kaufen, damit ich sie all den Nackedeis überwerfen kann - jetzt, sofort? Ich schaue links und rechts die Sitzreihen entlang, ob jemand kichert. Oder »typical Germans« murmelt. Alles ruhig. Nur Baxter, unser Freund und Lieblingssurfer, lächelt entspannt in sich hinein. Vielleicht wartet er darauf, dass David Hasselhoffs Name auf der Leinwand erscheint. Baxter behauptet, dass The Hoff der berühmteste Schauspieler in Deutschland sei. Er kennt bisher erst zwei Menschen aus diesem fernen Land, und die anständig bekleidet: Lukas und mich.
18 000 Kilometer vom Deutschen Herbst entfernt sitze ich im Kinosessel und mache mir mal wieder Sorgen, wie wir rüberkommen. Kollektivschämen nennt man das. Genauer: Immigrantenparanoia. Dabei sind Nudisten noch das harmloseste der Klischees, die mich verfolgen. Meine Sorgen sind diesmal unbegründet. 143 Minuten später, als Schleyers Leiche im Herbstlaub liegt und der Abspann beginnt, atme ich auf. Ob das Mammutwerk nur ein Abziehbild der deutschen Terrorjahre zeigt, darüber sollen sie sich in Kreuzberger Antifa-Gruppen den Kopf zerbrechen. Für mich zählt: Endlich sieht der am weitesten entfernte Rest der Welt, dass aus meinem verspießerten Leberwurstland auch solche Typen kommen. Keine Lederhosen, keine Blasmusik, keine Befehle. Okay, Befehle dann doch ein paar. Schießbefehle.
Ich bin aufgewühlt, als ich ins Kinofoyer trete. Zwei Stunden lang war ich wieder in dem Land, aus dem ich Bundesrepublikflucht begangen habe. Baxter wippt in seinen Flipflops vom Ballen zur Ferse und sieht eher ratlos aus. Er zieht sich eine Wollmütze auf die vom Salzwasser gebleichten Haare. Auf seinem verwaschenen Rock-'n'-Roll-T-Shirt sind zwei kleine Fächerschwanzvögel über dem Schriftzug >Fly My Pretties< abgebildet.
»Ganz schön viel Action«, sagt er zu Lukas, der sich in ein Cordjackett aus dem Second-Hand-Shop windet. Baxter überlegt. »Aber wer jetzt wer ist, und warum, hab ich dann am Ende nicht mehr kapiert. Das war alles zu schnell. Aber echt cool, die Leute.«
Er studiert den Flyer vom Christchurch Filmfestival.
»Was ich auch nicht verstehe«, sagt er, »RAF - das ist doch die Royal Airforce?«
Lukas erklärt die >raff<. Oder versucht es, mit radikalen Thesen im Taschenformat. Dabei lag mein Mann 1968 noch im Kinderwagen.
»Mhhm, interessant«, sagt Baxter und strebt dem Ausgang zu. »Klingt wie die IRA, aber mit mehr Sex. Lagen denn die Frauen wirklich nackt auf dem Dach in Palästina rum? Echt krass.«
Ich werde wieder rot. Er kratzt sich unter der Mütze.
»Und der Mauerfall damals, da war ja auch was los bei euch, oder?«
Baxter hat >Das Leben der anderen< beim letzten Filmfestival gesehen und davor >Der Untergang<. Mit dieser Trilogie sind wir abgehandelt. Mehr verwirrt.
»Demnächst das italienische Filmfestival, okay? Ist vielleicht lustiger.« Lukas knufft ihn in die Schulter. Ich umarme Baxter zum Abschied, aber vorsichtig, denn ich fühle mich wie ein exotisches Tier aus dem Zoo. Bei dem weiß man auch nicht, ob es noch beißt.
Lukas ist im Auto stiller als sonst. Er lässt das Steuer mit einer Hand los und greift in die halb leere Popcorntüte auf meinem Schoß.
»Ach, Anke, bevor ich's vergesse«, sagt er und kaut, »sie machen bald schon wieder ein Fest.« Irgendwie klingt er belegt. Stuttgart-Stammheim kann daran aber nicht schuld sein.
»Eine Spätsommerparty.«
Ein Fest, wie nett. Immer gut drauf, diese Kiwis - besonders seine Kollegen. Das mag ich.
»Was ist denn diesmal das Motto?«
Ich bin bereits ein alter Hase. Seit unserer Ankunft jagt eine Motto-Party die nächste. Jedes Mal wird sich dafür so originell wie möglich kostümiert, das ist man der britischen Tradition schuldig. Auch wir scheuen keine Kosten und Mühen, um mitzuhalten. Die Second-Hand- und Scherzartikelläden der Stadt haben wir längst geplündert. Zu meinen ersten Anschaffungen als Neueinwanderin gehörten falsche Augenwimpern und Netzstrümpfe. Lukas war Tarzan, ich Jane, er Che Guevara, ich Frida Kahlo. Bei einer Geburtstagsfeier - Motto: >Total daneben< - tanzten wir zwischen einem Aborigine, der an der Flasche hing, und einem Galeerensklaven, verkörpert von einem Afro-Amerikaner. Draußen auf der Terrasse hielt Mutter Teresa ein Feuerzeug an einen Bong.
Lukas greift das Lenkrad fester.
»Sie wollen >The Battle of Britain< machen.«
»Wie - Zweiter Weltkrieg?«
Ich verschlucke mich fast an meinem Rest Popcorn. Lukas wirft mir einen entschuldigenden Seitenblick zu, dann starrt er wieder auf den Verkehr.
»Mmmh. Luftschlacht um England.«
Ich habe kein Problem mit dem Verkleiden, wirklich nicht. Schließlich wuchs ich im Kölner Karneval auf. Vor vielen Jahren ging ich auf die Faschingsfete eines Kollegen als Monica Lewinsky und verkleckerte vorher gezielt Joghurt auf meinem Blazer. Das ergab authentische Flecken. Mein Freund ging als Bill Clinton und ließ ein Wiener Würstchen aus der Hose baumeln. Bald darauf haben wir geheiratet. Lukas und ich sind beide nicht zimperlich und teilen einen ziemlich fragwürdigen Sinn für Humor.
Mein Mann ist Urologe. Spricht man es auf Englisch aus, was in letzter Zeit häufiger vorkommt, dann verstehen die meisten statt >urologist< zuerst >neurologist<. Ehrfürchtiges Raunen, bewundernde Blicke. Nein, korrigiere ich stets, nix Gehirnchirurg. Er ist nur ein Nierenklempner. »Oh, really«, kommt es dann zurück, nicht mehr ganz so beeindruckt. Eher mitleidig. Mit einem Mann zu leben, der rein professionell den Finger in fremde Hintern steckt, um die Prostata zu ertasten, stellt man sich wohl nicht so schön vor.
Mich fasziniert dieser Beruf. Seit ich mit Lukas zusammen bin, ist mir nichts Menschliches mehr fremd. In den Anfangsjahren half ich ihm manchmal, Dias für Vorträge zu rahmen. Jetzt sind es medizinische Bilder auf seinem Laptop, die mich begeistern. Unvergessen bleibt das Röntgenbild mit der Sicherheitsnadel, die sich in die Harnröhre eines masochistischen Patienten verirrt hatte. Ein Poster für einen Kongress zeigte ein Peniskarzinom in zwanzigfacher Vergrößerung. Das sind Lichtblicke eines Ehelebens.
Jetzt also ein weiteres Highlight: Der Krieg um England. Auf diese Herausforderung ist unsere karnevalsgestählte Beziehung noch nicht vorbereitet. Dagegen verblasst die erste Grillparty von Ottos Klasse an Halloween, wo außer den Schülern auch die Eltern verkleidet kamen - bis auf uns. Wir waren damals noch Anfänger. Den Patzer versuchten wir bei Jakobs Schuldisco drei Wochen später durch besonderen Eifer wettzumachen. Lukas verkörperte John Travolta, ich eine etwas zu kurz geratene Grace Jones. Mir wurde heiß unter meinem Schoko-Make-up, als ich die Turnhalle betrat und die Gesichter der anderen Mütter sah. Außer den Kindern waren wir die einzigen im Kostüm. Diesmal möchte ich alles richtig machen.
Die Festivität der Urologen soll im Museum der Luftwaffe am anderen Ende von Christchurch stattfinden. Dort sind viele blank geputzte Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg ausgestellt.
»Sie haben sich auch schon die Tischdekoration überlegt.« Lukas klingt immer gequälter. Er hält sich am Lenkrad fest und schaut mich nicht mehr an. »Kerzen in Soldatenhelmen und so.«
Das wird sicher saukomisch. Wenn da keine Stimmung aufkommt. Spätestens, wenn die Band einsetzt, wird sich irgendein betrunkener Pilot oder ein bestens gelaunter Offizier mit Spielzeugorden und Mottenkugelgeruch zu unserem Tisch durchkämpfen, eine Hand nach vorne reißen, zwei Finger unter die Nase halten und brüllen: »Hey, ihr zwei, Heil Hitler! Ha ha!« Man darf dieser Frohnatur nicht mal böse sein. Denn was schert es den gemeinen Neuseeländer, dass am anderen Ende der Welt gerade der Befreiung von Auschwitz gedacht wurde? Wahrscheinlich nicht mehr als den gemeinen Deutschen, nur fehlt dem bekannterweise der Humor. Schon blöd, wenn man so wenig zu lachen hat, wenn's um die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geht.
Also Augen zu und durch. Andere Länder, andere Sitten. Wir müssen uns anpassen. Das geht schließlich allen so. Aber mit Joghurt und Würstchen wird auf dieser Motto-Party nicht viel zu reißen sein. Als den einzigen Deutschen dort eilt uns ein Ruf voraus. Müssen wir den verteidigen?
»Bandagiertes Bombenopfer«, schlägt Lukas vor. Er parkt das Auto in der Einfahrt und zieht den Schlüssel ab. »Verbände kann ich aus dem Krankenhaus besorgen. Und dazu mit einer weißen Fahne wedeln.«
»Passt gut. Ich habe in letzter Zeit viel Yoga gemacht. Jetzt kann ich mein Bein so abknicken, dass es wie ein Stumpf aussieht.«
Ich steige aus dem Wagen und will ihm demonstrieren, wie gut ich als lebendes Anti-Kriegs-Mahnmal ausschaue. Lukas lächelt nicht, sondern bleibt im Auto sitzen. Er ist im Sitz in sich zusammengekrochen. Selbst seine sonst so verstrubbelten Haare hängen, als ob sie kapitulieren.
»Oder Flucht nach vorn. Irgendwas mit einem Hakenkreuz drauf?«
Sag noch mal einer, wir...
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