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Offen sein und schreiben, mehr wollte Rilke nicht: ein bescheidener und zugleich anspruchsvoller Wunsch. Als Autor erfuhr er »das ganze Leben [...], als ob es mit allen seinen Möglichkeiten mitten durch ihn durchginge«. Allerdings auch mit all seinen Widersprüchen: Rilke floh vor seinen Musen und konnte ohne sie nicht sein, beklagte die Folgen des menschengemachten Fortschritts und begeisterte sich für die Technik, er liebte das einfache Leben und hatte eine ausgeprägte Vorliebe für schöne Dinge und Wohnsitze. Er schuf mit den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge einen der ersten modernen Romane und epochemachende Gedichtzyklen, deren Ausdruckskraft bis heute nachwirkt.
Sandra Richter, Literaturwissenschaftlerin und Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, arbeitet mit neuen Quellen, die mit Ankauf des großen Rilke-Archivs 2022 nach Marbach gelangt sind. In ihrer Biographie erscheint der Autor in neuem Licht: Nicht der weltabgewandte Einsiedler, zu dem er sich gern stilisierte, sondern robust, durchsetzungsfähig, alert in Gesellschaft, heiter und selbstironisch und in Finanzdingen beschlagener, als man gemeinhin annimmt. Diese Biographie macht deutlich, warum es sich heute in besonderer Weise lohnt, Rilke wieder zu lesen: Er lebte in schwierigen Zeiten, und er verarbeitete sie mit einer Wucht, die vielleicht nur im Angesicht existenzieller Bedrohung glaubhaft wirkt.
Offen sein und schreiben, mehr wollte Rilke nicht: ein bescheidener und zugleich anspruchsvoller Wunsch. Seine Literatur sollte aus innerer Dringlichkeit erwachsen, alle Wesen, Lebensformen und Weltanschauungen wahrnehmen und in seinem literarischen Kosmos aufheben. Zivilisation und Natur, Tod und Leben, Körper und Geist, die einander angeblich durch das Christentum feind geworden waren, wollte Rilke miteinander versöhnen, in einem rhythmisierten hohen Ton, der alles poetisieren sollte. Auf diese Weise empfahl er seine Literatur für die vorderen Plätze im literarischen Kanon Europas und der Welt. Tatsächlich schrieb Rilke einen der ersten modernen Romane in deutscher Sprache, das wichtigste Prosastück des Ersten Weltkriegs und epochemachende Gedichtzyklen, deren Ausdruckskraft bis heute nachwirkt.
Aber obwohl Rilke sich auf dem Altar der Literatur opfern und alles Widerstreitende vereinen, ohne Unterlass an seinem eigenen Kosmos arbeiten wollte, polarisierte er, und zwar aus ästhetischen wie aus moralischen Gründen. Martin Heidegger, einer der einflussreichsten und aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus umstrittensten Philosophen des 20. Jahrhunderts, betrachtete Rilke nach dem Zweiten Weltkrieg als Bundesgenossen, der seinsphilosophische Fragen stellte und mit den Mitteln der Lyrik beantwortete. Rilke erschien Heidegger als sehender Dichter, er löste aus dessen Versen große, bildhafte Begriffe heraus, um sie in den Ideenhimmel seiner Fundamentalontologie einzuordnen: Rilke künde von einem »Weltinnenraum«, meinte Heidegger, der alle Wesen wie in eine »heile Kugel« aufnehme, Dingen, Tieren und Menschen einen »reinen Bezug« aufeinander ermögliche.1 In diesem Raum gibt es weder wahr noch falsch, weder gut noch schlecht, denn hier ist alles durch sein bloßes Dasein gerechtfertigt.
Theodor W. Adorno hingegen, in den 1960er- und 1970er-Jahren die Autorität in ästhetischen und literaturkritischen Fragen, stempelte Rilkes Gedichte als protofaschistisch ab, auch um sich von Heidegger abzugrenzen. Schon das Selbstverständnis Rilkes ist aus Adornos Sicht falsch: Der Autor begreife sich als Sänger eines dunklen Gottes, propagiere eine amoralische Kunstreligion und schreibe in einem »Jargon der Eigentlichkeit«, der »auf dem Grat« zum Faschismus schlafwandele.2 Noch das Schrecklichste, etwa die Armut, romantisiere Rilke in weltfremden Versen: »Bettler können dir Bruder sagen, / und du kannst doch ein König sein«3, heißt es in seinem frühen Königslied aus dem Jahr 1896. Rilke dichte bräunlichen Kitsch für eine kulturell ignorante »Konsumgesellschaft«, verfertige Trostsprüche als »Massenartikel«4, schimpft Adorno.
Die Rilke-Interpretationen von Heidegger und Adorno wirken bis heute nach; sie bilden Extrempole der Wahrnehmung Rilkes. Erst nach und nach, durch die sorgsame Arbeit der Rilke-Forschung, zeigt sich, dass die beiden großen Philosophen Rilke gezielt missverstanden haben. Heidegger und Adorno erfassen einzelne Merkmale von Rilkes Werk, scheitern mit ihren Auslegungen seiner Verse aber jeweils an der selbstgewählten Zuspitzung: Rilkes Kosmos war nicht in einem philosophischen Sinne harmonisch; er veredelte nicht einfach die Wirklichkeit und bejahte alles Irdische, auch wenn er das behauptete,5 sondern schlug auch kritische Töne an, sah Schönes im Hässlichen und umgekehrt, Hässliches im Schönen. Sich selbst empfand Rilke als Mängelwesen, krank, überempfindlich, unterprivilegiert. Sein Gott, der ihn angeblich zum Schreiben inspirierte, war ein selbsterschaffenes, imperfektes Perpetuum mobile, das ihm mit Vorliebe den Dienst versagte. Und obwohl Rilke behauptete, die Einsamkeit zu suchen und apolitisch zu sein, war er bei wichtigen historischen Ereignissen mittendrin, und sein Werk weist Spuren von politischen Ideologien auf.
Gerade aufgrund dieser Vielschichtigkeit lohnt es sich heute in besonderer Weise, Rilke wieder zu lesen: Er lebte in schwierigen Zeiten, und er verarbeitete sie mit einer Wucht, die vielleicht nur im Angesicht existenzieller Bedrohung glaubhaft wirkt. Diese Wucht entfaltet sich durch Rilkes Gestus, auch das Kleinste, Nebensächlichste radikal mit Bedeutsamkeit aufzuladen. Ein solcher Anspruch kann leicht in sein Gegenteil umschlagen. Rilke riskierte den »Balanceakt zwischen Gedankenkitsch und hoher Kunst«6. Er stilisierte sich zum Pilger, Propheten und dichtenden Seher,7 zum esoterischen Einzelgänger. Bislang kaum bekannte und neue Quellen zeigen jedoch,8 dass er einer der mit dem Literatur- und Kunstbetrieb seiner Zeit eng verbundenen Autoren der europäischen Moderne war, der die Geselligkeit ebenso schätzte wie die Einsamkeit, die ihn zum Lebensende hin sogar belastete.
In diesem Buch, dem es um den Menschen Rilke geht, liegt mir daran, mich dem Autor nicht in Ehrfurcht zu nähern, sondern Leben und Werk mit der nötigen, gelegentlich ironisch gebrochenen Distanz zu begegnen. Ziel ist es, das vom Autor und von seinem Verleger errichtete Dichtermonument Rilke9 in ein neues Licht zu rücken und zugleich das Eigensinnige wie das Fragwürdige an Rilkes Werk zu erörtern.
Als Autor erfuhr Rilke, so wollte er es, »das ganze Leben [.], als ob es mit allen seinen Möglichkeiten mitten durch ihn durchginge«.10 Auch sein Werk begriff Rilke - in romantischer Tradition - als unabschließbar: Er erklärte alles zum Werk, auch seine Briefe,11 sodass die Grenzen von Werk und Lebenszeugnissen verschwimmen. Rilkes Leben lässt sich schon aufgrund dieser selbsterklärten Durchlässigkeit nicht einfach von der Wiege bis zur Bahre erzählen, auf sein Werk abbilden, bewerten und kanonisieren. Zudem waren Rilkes Sichtweisen auf sich selbst und die äußere Wirklichkeit in stetigem Fluss. Er veränderte seine Identität, spielte unterschiedliche Rollen, leugnete reale Zusammenhänge und schrieb sie um.
Vor dem Hintergrund dieser stetigen und rasanten Wandlungen teilt man Rilkes Entwicklung in verschiedene Phasen ein: Am Anfang steht das früheste Werk des jungen Mannes von den ersten, noch in Prag verfassten Texten bis zu seiner Begegnung mit Lou Andreas-Salomé. Das frühe Werk umschließt die Folgejahre, Worpswede und Westerwede vor allem, bis zur Abreise nach Paris. Es folgt das mittlere Werk des Dreißigjährigen, das in die Kriegserfahrung des Anfang Vierzigjährigen hineinreicht, aber auch schon ins späte Werk übergeht, das von den beiden großen Gedichtzyklen Duineser Elegien und Sonette an Orpheus, publiziert im Jahr 1923, bestimmt wird. Das späteste Werk beginnt danach und reicht bis zu Rilkes Tod, wobei die Zugehörigkeit der Sonette an Orpheus umstritten ist.12 Die fünf Werkphasen sind tatsächlich nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden, und im Detail ist hier noch vieles zu vergleichen und zu diskutieren.
Zahlreiche Biographien haben dazu beigetragen, Verschiebungen und Entwicklungen im Werk Rilkes zu beschreiben und »die exklusive Existenzform« Rilkes darzustellen;13 sie sind unverzichtbare Grundlagen, auch für dieses Buch. Indem ich Begebenheiten aus Rilkes Leben näher beleuchte, die bislang nur in groben Zügen dargestellt wurden, möchte ich den von Rilke selbst verwischten Spuren nachgehen, Wirklichkeitskerne aus Rilkes Texten herausschälen und das Literarische an ihnen beschreiben. Die Auswahl der Begebenheiten orientiert sich an Biographemen, also prägenden Ereignissen, die Rilke dauerhaft beschäftigten und über die er sich immer wieder äußerte,14 darunter das schwierige Verhältnis zur Mutter, die Erzählung von der vermeintlich adligen Vaterfamilie, der körperliche Zwang in der Militärschule der k.u.k. Monarchie. Biographeme wie diese sind Dreh- und Angelpunkte von Rilkes Handeln, Schreiben, Sich-Verweigern und zugleich Gegenstand der Selbstdeutung in seinen Briefen, Gedichten, Dramen, Erzählungen.
Rilke suchte seine Anregungen dort, wo kaum jemand sie sonst finden wollte: bei »gefallenen Mädchen« in der tschechischen Provinz, in den Krankenhäusern von Paris, im Kampf mit einer schwedischen Mücke und, nachts, am Fuß der Sphinx. Als Kind der Moderne, das die Großstadt...
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