Prolog
Der Wind strich wie ein unsichtbarer Diener durch die Ritzen des Fensters, hob die kleine Flamme an und ließ die Schatten der Vorhänge auf der getäfelten Wand tanzen. Harriett saß am schmalen Schreibpult, das Percivals Mutter vor Jahrzehnten an diese Stelle hatte rücken lassen, weil man hier, gleich neben dem Fenster, das Lachen aus dem Rosengarten hören sollte. Heute trug der Nachtzug kein Lachen, nur das ferne Murmeln des Flusses und das leise Ächzen von Holz und Mörtel, als atme das Haus im Halbschlaf.
Sie tauchte die Feder in den Napf und hielt inne. So nah an der Flamme schimmerte die Tinte grünlich, dann wuchs der Tropfen an der Spitze, bereit zu fallen. Ihr Atem ging ruhig, obgleich die Handfläche feucht war. Eine dünne Perlenkette lag auf dem Nachttisch ihr Hochzeitsgeschenk, ein makelloses Band, das jedes Mal zu eng am Hals gesessen hatte, wenn Percivals Finger den Verschluss schlossen. Das Mondlicht betastete die Perlen, als wären es kleine, kalte Monde.
Sie setzte an, und die Kratzspur der Feder war das Erste, das der Stille widersprach.
Heut war der Fluss so klar, dass ich am Grund die runden Steine sehen konnte. Arthur sagt, in solchen Stunden ließe sich Wahrheit erkennen, wenn man nur still genug schaute.
Der Strich ihres Ls geriet länger, als sie beabsichtigt hatte. Die Hand gehorchte, doch das Herz drängte. Sie strich die Feder am Porzellanrand ab und schrieb langsamer:
Ich wage nicht zu denken, wie diese Seiten eines Tages gelesen werden könnten. Ich schreibe, weil dieses Zimmer mir die Luft abschnürt, wenn ich schweige. Weil die Stunden ohne Worte zu Waffen werden. Ich schreibe, weil die Wahrheit, die ich gefunden habe, in mir keinen Raum mehr findet.
Der Satz stand auf dem Papier, als hätte er um die Kerze gebeten. Harriett hob den Blick. Der Morgenmantel hing über der Stuhllehne; die Nähte am Kragen hatte sie erst heute nach dem Tee erneuert Beatrice' Augen entgingen solche Dinge nicht, und ihre Bemerkungen trafen wie Nadelstiche: nie blutig, aber zermürbend. Auf dem Tisch zwischen Bett und Kamin stand ein Glas Wasser, die Oberfläche glatt. Sobald sie den Fuß aufsetzte, meldete der Boden sich mit dem vertrauten, kaum hörbaren Klicken: eine lockere Fuge im Parkett.
Unter diesem Brett lag ihr Geheimnis: nicht nur die Seiten, die sie seit Wochen füllte, sondern die zarten, getrockneten Blumen, die Arthur ihr gereicht hatte, ohne ein Wort, an dem Abend am Fluss. Vergissmeinnicht, deren Blau die Presse überstanden hatte; und zwei Glockenblumen aus dem Wald, deren Rundung sich in kantige, brüchige Linien verwandelt hatte, tapfer und schön in ihrer Verwandlung. Sie hatte sie eingewickelt, als wären es Kinderfinger, die man vor der Kälte bewahrt.
Sie schrieb ein einziges Wort, das seit Tagen in ihrem Kopf leuchtete:
Hamburg.
Nur dies. Keine Erklärung, kein Stammbaum. Die Luft roch plötzlich stärker nach Tinte und Wachs, als hätte das Wort selbst einen metallischen Glanz. Hamburg nicht als Sehnsucht, sondern wie eine Koordinate, ein Anker für eine Geschichte, die nie ausgesprochen worden war. Ihre Mutter hatte ihr als Kind ein Abendgebet beigebracht, dessen Melodie sich anders legte als die englische Lautung; runder und dunkler in den Vokalen, mit einer sanften Härte an den Kanten mancher Konsonanten. Und als Harriett im Winter die Familienbibel öffnete so schwer, dass man sie wie einen Türflügel hob hatte sie auf dem Vorsatzblatt, kaum sichtbar und mit Goldstift überpinselt, eine Zeile entdeckt, die sich wehrte, gelesen zu werden. Die alten deutschen Buchstaben waren wie Ranken. Doch darunter lag ein Name, fremd und doch eindeutig: Klara M. Langen, geb. am Elbufer. Mamas Hand hatte darüber eine englische Version gesetzt, als wäre es schon immer so gewesen.
Sie notierte, spitz und vorsichtig:
Mutter hieß anders, ehe sie hierherkam. Sie verließ nicht nur ein Land, sie ließ einen Teil von sich zurück. All die Jahre kein Wort von der Elbe. Nur vom Regen.
Sie hielt die Feder über dem Papier wie eine Nadel über Stoff. Die Finger wollten an den Falz greifen, Presskanten fühlen, die sie im Januar so sauber gezogen hatte, dass der Rand einem Messer glich. Diese Hände kannten die Arbeit: Verbände anlegen, Fieber prüfen, Ränder glätten, Falten ziehen, die das erste Zittern unter der Haut beruhigten. Arthur hatte ihre Hände angesehen, als wären sie Werkzeuge der Gnade. Es war nicht nur sein Blick. Seine Stimme hatte an der Stelle ein winziges Aussetzen, wenn er sie ansprach, als müsse er zählen, bevor sie zu ihm hinsah.
Er hatte heute Nachmittag geschrieben vor ihren Augen einen Terminzettel an die Mamsell, neutrale Buchstaben, das kalte Gesicht eines Doktors, der in den Fluren des Hauses geht, als richte sich der Gang der Dinge an seinem Schritt aus. Die Mamsell hatte den Zettel gefaltet, in ihren Strumpf gesteckt, als wäre es ein frommes Bild. Niemand fragte, warum sie plötzlich wusste, was bereitstehen müsse, wenn Percivals Mutter klagte. Niemand fragte, warum Arthur den Blick hob, als die Mamsell fort war, und ihn für einen Herzschlag lang bei Harriett ließ ohne Signal, nur mit diesem winzigen Atemholen, das sagte: Ich sehe dich.
Im Hof hatte Thomas, der alte Kutscher, heute länger beim Ölstand verweilt, als nötig gewesen wäre. Ida ließ "aus Versehen" zwei Schilling auf der Stufe liegen und Harriett sah, wie Thomas' junger Neffe die Münzen einsteckte, ohne aufzublicken. Man redete im Haus nicht darüber, aber jede Kutsche rollte leichter, wenn ein paar Räder mit Schweigen geschmiert waren.
Sie tauchte die Feder erneut, legte die Spitze auf die Seite und schrieb, als hörte sie die Uhr im Nebenzimmer atmen:
Er kommt morgen früh zu Lady Rosewood zurück. Ich werde ihm das Tuch bringen, das ich genäht habe; Percival wird glauben, es sei nur ein höfliches Geschenk. Er ahnt nicht, dass jeder Stich mir vorkam, als nähte ich an einem anderen Leben, das mir verwehrt blieb.
Der Name ihres Mannes stand auf dem Papier wie ein kalter Nagel, an dem der Blick hängen blieb. Percival. Earl von Rosewood. Er mochte es, wenn die Dienerschaft den Titel aussprach, als sei er das Salz, das allem Geschmack verleiht. Er mochte, wenn Harriett an seinen Arm trat, den Abstand wahrte, lächelte. Er mochte sie, wenn sie schwieg.
Beim Dinner hatte er beiläufig erwähnt, am Donnerstag Dr. Halberd aus London aufs Gut zu holen "für deine Nerven, Harriett" und zugleich "die Personalfrage" zu klären. Harriett hatte in diesem Plural vor allem eines gehört: Arthur soll gehen, und ich soll wieder funktionieren.
Sie hob den Blick. Die Wände trugen das müde Grün alter Seide. Im Kreis der Flamme lag das Blatt wie eine Insel; jenseits davon wartete die Tür. Hinter dieser Tür der Korridor, an dessen Ende Beatrice' Zimmer lag. Seit die Dinnergesellschaft zuletzt über Harriett sprach nicht mit ihr, in den Raum hinein, mit Sätzen wie: "Eine so feine Erscheinung" schlief Beatrice leicht. Ihr Tonfall danach hatte das Kompliment wie eine Warnung gekappt.
Harriett beugte sich wieder über das Blatt.
Arthur trug heute die dunklere Weste; in der sieht er aus, als berechne die Welt mit jedem Atemzug ihre Statik neu. Die Tasche hielt er wie einen Talisman. Als der Deckel schloss, trug das Klicken den Ernst einer Entscheidung. Wir sprachen nicht über Morgen. Wir sprachen über die Farbe des Wassers, wenn der Nachmittag in den Abend sinkt. Er sagte, die Strömung sei trügerisch an der Biegung. Ich lachte leise, damit der Fluss uns nicht verriet. Er küsste die Stelle an meinem Handgelenk, nah am Puls, und ich glaubte, sein Atem könnte mir in die Adern wandern.
Ihre Finger krümmten sich unwillkürlich, als erinnerte sich die Haut. Sie legte die Hand flach aufs Papier, bis die Wärme der Kerze sie wieder band.
Wenn ich fortgehe, werde ich es nicht Flucht nennen. Ich nenne es Geburt. Spät, schmerzhaft, aber die meine.
Das Wort füllte den Raum. Sie sah zum Fenster. Der Mond stand zwischen zwei Wolken über dem Hügel, der tags eine Graslinie und nachts ein schweigendes Geheimnis war. Vom Fluss zog ein leises Murmeln herauf, als würden Steine atmen und Wasser die Geschichten weiterschieben, die man ihm anvertraut.
Sie atmete tiefer, ließ die Schultern sinken, bis der Schmerz zwischen den Schulterblättern sich löste. Ihre Finger suchten die Kanten der Seiten, strichen über den Einband. Das Leder war an den Rändern aufgefasert, eine helle Linie, entlang derer sie den Daumen führte, wenn sie nach Worten suchte. Dies war die vierte dieser Nachtstunden seit jenem Abend in der Bibliothek gewesen, als sie zum ersten Mal einen medizinischen Bericht nicht für eine sonderbare Abweichung des weiblichen Wesens, sondern für das las, was er war: ein Irrtum, kunstvoll verteidigt.
Arthur hatte die Stelle halblaut gelesen "Hysterie als Fehldeutung von Intelligenz" und die Stimme gesenkt, als spräche er ein Gelöbnis.
Sie lächelte in sich hinein, ein gebrochener, schöner Schmerz. In seinem Deutsch hatte sich der Akzent gelichtet, die Silben fielen weich. Es war keine höfische Rücksicht gewesen, kein Gönnern. Es war Achtung.
Sie legte die Feder ab, presste die Handballen an die Mulde unter den Augen, als könnte sie das Brennen löschen. Auf dem Kaminsims stand die kleine Schachtel aus Birnbaumholz, ein Geschenk der Mutter. Sie hatte nie gefragt, ob das Holz von einem englischen Baum stammte oder einem, dessen Wurzeln einst die Elbe tranken. In der Schachtel lag das schmale blaue Seidenband, das monatelang an der Innenseite ihrer Handtasche gerieben hatte, als Harriett noch glaubte, Besitz könnte ihr gehören. Jetzt schmeckte der Gedanke an Besitz wie bitterer Tee.
Sie nahm das Band...