Schweitzer Fachinformationen
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Wie viel Leid erträgt ein Mensch?
Iwan Solowjow konnte nur noch hören und die Augen bewegen. Einzig seine Erinnerung teilte ihm mit, dass der Marmorboden kalt war, auf dem er nackt lag. Jeder Versuch, den Kopf zu drehen, scheiterte. Er fühlte nichts mehr, war gelähmt, aber bei Bewusstsein. Sein Blick war starr zur Decke gerichtet. Romanische Rundbögen stützten die Decke über dem Altar, auf deren Frontseite goldene Engel das Jesuskind schützend flankierten, welches geborgen in Marias Armen lag. In dem fahlen Mondlicht, das durch die Buntglasfenster ins Kirchenschiff drang, warfen die Gebetsbänke graue Schatten. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam gefühlt.
Was war mit ihm geschehen?, fragte er sich, während er nach Luft rang.
Solowjow erinnerte sich an den Geruch von Weihrauch, als er die schweren Flügeltüren zur Kathedrale aufgestoßen hatte. Am eindrücklichsten war die Stille gewesen, die ihn umgab, als er wie verabredet - draußen war es bereits dunkel - das Hauptschiff betrat und zum Beichtstuhl hinüberging. Dort setzte er sich auf die kleine Holzbank, die unter seinem Gewicht knarrte, und zog den Vorhang zu. Man hatte ihm gesagt, er solle dort warten und auf keinen Fall seinen Platz verlassen, bis ihm jemand die Erlaubnis dazu gab. Kurz darauf vernahm er Schritte, die vor dem Beichtstuhl verstummten. Jemand betrat die gegenüberliegende Kammer, setzte sich und schob das Verbindungstürchen zwischen ihnen auf. Die Dunkelheit und das Flechtwerk aus Holz schützten die Identität seines Gegenübers.
»Du bist hier, um die Wahrheit zu erfahren?«, fragte ihn eine unbekannte Stimme.
»Ich bin hier, um zu erfahren, was Sie wissen«, antwortete er leise.
»Ich weiß mehr, als du glaubst«, war die knappe Antwort. »Wer führt euch an?«
»Von was reden Sie?«
»Wer führt euch an?«, kam erneut die Frage. Die Stimme klang nun ungehalten.
»Wir wissen es nicht.«
»Bei dir finden die Treffen statt. Du musst es wissen.«
Solowjow schwieg.
»Ich habe euch gesehen.«
Anscheinend hatte man ihn und die anderen beobachtet. Er wusste, worauf der Unbekannte ihn ansprach. Solowjow hatte trotzdem keine Ahnung, wer der Führer war. Er war nie bei den Treffen anwesend. »Den Führer kennt niemand«, verteidigte er sich.
»Du lügst!«
»Verdammt noch mal! Ich lüge nicht«, schrie Solowjow zurück. »Niemand kennt ihn. Wenn Sie angeblich alles wissen, kennen Sie ja auch unser ungeschriebenes Gesetz. Wer versucht, seine Identität in Erfahrung zu bringen, spielt mit seinem Leben!«
Es entstand eine Pause. Der Unbekannte schien abzuwägen, ob er ihm glauben konnte.
»Du und die Deinen haben meinen Engel gestürzt«, brach der Unbekannte das Schweigen. »Und so werdet ihr gestürzt vom Thron des Hochmuts.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dir sollen erst deine Sünden vergeben werden.«
Das Verbindungstürchen wurde ganz geöffnet. Solowjow versuchte zu erkennen, wer zu ihm sprach. Doch es war zu düster, um gegenüber mehr als nur einen Schatten zu sehen. Aus der Dunkelheit streckte sich ihm eine weiße, feingliedrige Hand entgegen. Am Geruch nach Gummi erkannte er, dass der Unbekannte Latexhandschuhe trug. Diese Tatsache irritierte ihn. Er hatte keine Zeit, sich über die Gründe klar zu werden, denn man reichte ihm in diesem Moment eine Oblate und bat ihn, den Mund zu öffnen.
»Was soll das?«
»Nimm den Leib und das Blut Christi«, forderte ihn die Stimme auf.
Widerwillig nahm er die Hostie. »Sagen Sie mir, was Sie wissen. Und nennen Sie mir den Preis für Ihr Schweigen.«
Anstatt einer Antwort wurde ihm aus dem Dunkel ein Kelch gereicht. »Nimm den Leib und das Blut Christi«, forderte ihn die Stimme energisch auf.
Verärgert stieß Solowjow den Kelch weg. Erneut nahm er den penetranten Geruch von Gummi wahr. Einen Moment lang geschah nichts. Plötzlich schnellte die Hand nach vorne und sofort wieder zurück. Er spürte, dass etwas Scharfes seine Wange gestreift hatte. Erschrocken wich er zurück.
»Spinnen Sie?«
Der Schatten schwieg.
»Also, was wollen Sie?«, nahm er das Gespräch wieder auf. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. Er wartete, dass man ihm nun weitere Anweisungen geben würde. Doch aus dem Dunkel kam nur beharrliches Schweigen. »Was wollen Sie, verdammt noch mal?«, wiederholte er ungeduldig.
»Wir warten.«
»Auf was?« Als Solowjow wieder keine Antwort erhielt, verlor er seine Beherrschung: »Hören Sie! Ich bin hier, wie Sie es gewünscht haben! Auch wenn ich ein gläubiger Mensch bin, so haben wir Wichtigeres zu tun, als hier ein Abendmahl abzuhalten. Meine Geduld ist nicht unerschöpflich!«
Als Antwort knallte das Verbindungstürchen vor seinem Gesicht ins Schloss.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Warum kommen Sie nicht zu uns? Ich bürge für Sie. Werden Sie Teil unserer Gemeinschaft!«, versuchte er nun die Gestalt auf der anderen Seite zu überreden.
»Du bist ein Ungläubiger!«, kam die Antwort aus dem Dunkel. »Du hast mir nichts zu bieten.«
»Jetzt reicht es! Nennen Sie mir Ihre Forderungen oder vergessen Sie das Ganze.« Er hörte, wie sein Gegenüber sich mit einem Ruck erhob und den Beichtstuhl verließ.
»Ihr seid alle ungläubige Ketzer! Ihr, die ihr meinen Engel gestürzt habt«, schallte die Stimme nun heiser durch das Kirchenschiff. »Nun wird euch die Rache desjenigen treffen, der meinem Engel am nächsten war!«
»Sie sind verrückt«, kommentierte Solowjow genervt die Drohungen und wollte aufstehen. Innerhalb weniger Sekunden breitete sich ein Kribbeln - von seiner Wange ausgehend - über sein ganzes Gesicht und dann im ganzen Körper aus. Als er etwas sagen wollte, konnte er die Zunge bereits nicht mehr bewegen. Mit aller Kraft versuchte er noch einmal aufzustehen. Erfolglos. Seine Beine entzogen sich seiner Kontrolle. Die ersten Krämpfe warfen ihn zurück in den Stuhl, Hitzewallungen durchflossen seinen Körper. Seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr. Panik stieg in ihm auf. Er fiel vornüber durch den Vorhang des Beichtstuhls auf den kalten Steinboden und verlor das Bewusstsein.
Als Solowjow wieder erwachte, sah er schemenhaft die dunkle Gestalt, die ihm die Kleidung auszog. Er wollte sich wehren, doch seine Glieder waren nach wie vor gelähmt. Jetzt erblickte er die Engel über ihm. Er wusste nicht, warum, aber er spürte, dass er nun sterben würde. Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Lichtstrahl, der langsam näher kam, bis er ihn blendete.
Nun stand die große, dunkle Gestalt über ihm und beugte sich herunter. Er richtete einen fragenden Blick an sie, doch sie schien ihn nicht wahrzunehmen.
Er existierte für diesen Menschen nicht mehr, dachte er in diesem Augenblick und wünschte sich nichts sehnlicher, als reden zu können, um nach dem Warum zu fragen.
Die Gestalt tauchte ihren Finger in ein Tongefäß, das sie in der Hand hielt, und fuhr mit dem Finger über seine Stirn. An der Bewegung konnte Solowjow erkennen, dass sie ein Kreuz auf seine Stirn zeichnete. Nackt und schutzlos lag er auf dem Steinboden der Kathedrale und war dieser unbekannten Gestalt ausgeliefert.
Er musste wieder für einen Moment das Bewusstsein verloren haben, denn als er die Augen öffnete, sah er zu seinem Entsetzen, dass ein Schlauch in seinem Mund steckte. Er musste würgen. Der Schlauch - das spürte er jetzt - führte in seine Luftröhre. Heftig röchelte er nach Luft. Er hatte das Gefühl, allein zu sein. In seinem Blickfeld waren weder das Licht noch die unbekannte Gestalt zu sehen. Er bekam kaum Luft und voller Panik atmete er schneller und schneller.
Er würde ersticken!, schoss es ihm durch den Kopf. Tränen rannen ihm über das Gesicht.
Dann stand der Schatten wieder über ihm. Erleichtert hoffte er einen Moment lang, seinem Leiden würde ein Ende gemacht und er von dem Todeskampf befreit.
Der Schatten beugte sich über ihn und berührte wieder seine Stirn. Von seiner Berührung spürte er nichts, sondern hörte nur, was er sagte: »Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes. Der Herr, der dich von den Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich.« Die Gestalt drückte Solowjows Unterkiefer nach unten und legte ihm eine Hostie auf die Zunge. Anschließend wandte sie sich nach hinten und nahm etwas vom Boden auf. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, streckte sie feierlich die Arme aus.
Er sah einen Messingkrug in den Händen der Gestalt. Leises Murmeln, das sich wie ein Gebet anhörte, drang an sein Ohr. Die Stimme wurde lauter und die Bedeutung der Worte wurden Solowjow klar.
»Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er erquickt meine Seele; er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und wenn ich auch wanderte im finsteren Todestal, so fürchte ich kein Unglück; denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Dein Stab, die trösten mich .«
Die letzten Sätze hörte er nicht mehr. Die Gestalt beugte sich zu ihm herunter und goss eine kalte Flüssigkeit in den Schlauch. Sie schoss direkt in seine Lungen. Für einige Sekunden erfasste ihn grenzenlose Panik, bis ihn die Dunkelheit für immer zu sich holte. Sein letzter Gedanke war: Warum...
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