Schweitzer Fachinformationen
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Verona, Italien
April 1943
Schon als Kind war Elodie immer mit Musik im Kopf eingeschlafen. Und wenn sie morgens aufgewacht war, hatte sie sie schon wieder gehört. »Bei den Engeln schlafen«, so nannte ihr Vater es, wenn Träume von Musik untermalt waren. Aber Elodie konnte sich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht im Schlaf Musik gehört hätte. Ihr Vater spielte noch oft bis spät in die Nacht, wenn er alle im Schlaf wähnte. Leise und ruhig spielte er eine Nocturne oder hin und wieder auch eine Romanze.
Er stand immer an den hohen Fenstern, die zur Straße hinausgingen, das weiße Hemd am Kragen aufgeknöpft, die Geige unter das Kinn geklemmt.
Sein Geigenspiel war das Wiegenlied ihrer Kindheit. Wenn er Mozart spielte, dann tat er das aus Freude über gute Neuigkeiten; wenn er nervös war, spielte er Brahms; und wenn er Vergebung von ihrer Mutter suchte, spielte er Dvorák. Sie kannte ihren Vater besser durch seine Musik als durch seine Worte.
Wie sie, sprach auch er sehr wenig. Es war nicht so, dass er keine Gedanken oder Gefühle hatte. Eher hatte er von beidem im Überfluss. Er besaß keinen kühlen Kopf. Er empfand die Dinge zu tief. Musik war für ihn schon in frühester Jugend zu einem Elixier geworden, und er hatte drei Instrumente perfekt spielen gelernt: Geige, Cello und Klavier.
Elodies Mutter war selbst keine Musikerin, aber sie hatte sich in ihn verliebt, als sie ihn auf der Bühne gehört hatte.
Er war eingeladen worden, in ihrer Geburtsstadt zu spielen, einem Labyrinth im Wasser. Ein Ort, wo im Winter der Nebel aus dem Meer stieg. Orsinas Vater besaß ein Hutgeschäft in Venedig, er war Spezialist für Vogelfedern, damit verdiente er seinen Lebensunterhalt. Er reiste drei Monate im Jahr bis nach Afrika, um seltene Federn für seinen Laden zu sammeln, der ein Treffpunkt war für alle Modebewussten der Stadt, an einer Ecke der Piazza San Marco. Von jeder Reise brachte er eine Truhe voller Federn mit: Straußenfedern, Pfauenfedern und Federn von gelben und blauen Papageien, eine exotischer als die andere.
Orsina konnte den Anblick des wunderschönen Betts ihrer Mutter nicht vergessen, das über und über mit Federn geschmückt war. Seidige Federn, wohin man blickte; eine Federndecke in Türkis, Ultramarinblau und Grün. Ihre Mutter nahm sich der extravaganten Mitbringsel ihres Vaters an, verarbeitete sie zu den schönsten Hüten und stellte sie in den Schaufenstern des Geschäfts aus. Mit ihren flinken, schlanken Fingern nähte sie Saatperlen, seidene Ansteckbuketts und zarte Schleier an die Hüte. Orsina lernte von ihrer Mutter früh die Unterscheidung der verschiedenen Stile: Glockenhüte für die Damen und englischen Touristinnen, breitrandige Hüte für den Kirchgang und für Hochzeiten und die Flapper-Stirnbänder mit Perlen und weißen Federn für diejenigen, die gern tanzen gingen. In der Werkstatt ihrer Mutter lagen immer große Stapel Modemagazine, die Elodies Vater aus Paris schickte, damit seine Frau über den dernier cri auf dem Laufenden war. Orsina verbrachte ihre Tage damit, in den Magazinen zu blättern und sich von den Lagunen ihrer Kindheit weg nach Frankreich zu träumen, wo ein ganz anderes Licht herrschte. In Städte, die nicht schwammen, die dennoch schön waren. Sie stellte sie sich wie Zuckerwatte vor, leicht und luftig wie Gaze.
Orsina hätte sich nicht träumen lassen, dass ein Konzert in I Gesuiti sie dazu veranlassen würde, Venedig zu verlassen. Aber als ihre Eltern an einem Freitagabend kurz nach ihrem zwanzigsten Geburtstag das Geschäft vorzeitig schlossen und sie zu einem Konzert mitnahmen, erfuhr ihr Leben eine Wendung. Sie war hingerissen von dem jungen Geiger, der sie mit seiner Musik in eine andere Welt entführte.
Sie ging mit ihren Eltern in die Kirche, wo das Konzert stattfinden sollte, ihr Vater in einem dunklen Anzug, ihre Mutter in einem lavendelfarbenen Kleid und mit einem pflaumenfarbenen Glockenhut, der ihr Gesicht umrahmte. Orsina hatte etwas völlig anderes für sich gewählt; sie trug das Haar offen und ein gelbes Chiffonkleid.
Nachdem sie auf der hölzernen Kirchenbank Platz genommen hatten, schienen sich die Geräusche in der Kirche zu verschieben. Verschwunden war plötzlich die düstere Atmosphäre der Sonntagsmesse. Es war, als wären der blassgrüne Marmor mit seinen komplexen Mustern und die Steinfriese elektrisch aufgeladen. Freudige Erregung breitete sich in den heiligen Hallen aus. Niemand schenkte mehr seinem Gebetbuch Beachtung. Alle reckten die Hälse, um einen Blick auf den gut aussehenden Geiger zu erhaschen, der gerade sein Instrument stimmte.
Er stand auf, hielt die Geige neben sich und lächelte bescheiden, während der Chorleiter der Kirche ihn stolz als den kürzlich entdeckten Virtuosen aus Verona vorstellte. Das Publikum klatschte, und der junge Mann, der später Elodies Vater sein würde, begann zu spielen.
Elodie hörte immer wieder gern zu, wenn ihre Mutter von den ersten Tönen schwärmte.
»Wie Magie«, sagte sie. »Mein ganzes Leben lang hatte ich mit Federn zu tun, und seine Noten kamen mir vor wie Federn, die durch die Luft schwebten. Arabesken in Bewegung, die mich ganz schwindlig machten.« Ihr verschlug es jedes Mal die Sprache, wenn sie an den Moment zurückdachte, und die Erinnerung raubte ihr buchstäblich den Atem.
»Als er eine Romanze von Beethoven spielte, geriet das Publikum regelrecht in Verzückung. Mein Vater tätschelte mir das Knie und sagte: >Das wirst du niemals vergessen<, es ist das erste Mal, dass du ein Genie hörst!«
»Aber er brauchte mir nicht zu sagen, dass ich diesen Moment nie vergessen würde. Ich war völlig berauscht von der Musik.« Bei diesen Worten huschte jedes Mal ein Lächeln über ihr Gesicht. »Und ich wusste auch, dass ich einen Mann, der es vermochte, so viel Schönheit zu erschaffen, würde lieben wollen.«
Elodies Vater lachte und nahm die Hand seiner Frau.
»Ich bin froh, dass ich die Geige immer mit geschlossenen Augen gespielt habe . Hätte ich deine Mutter in der ersten Reihe sitzen sehen, mit ihrem dunklen Haar, das ihr über die Schultern fiel, und diesen Augen, so grün wie Tulpenblätter, hätte ich auf der Stelle jede Note vergessen. Zum Glück habe ich sie erst nach dem Konzert gesehen.«
Orsina strahlte. »Ich habe deiner Großmutter gesagt, dass ich genauso spielen lernen wollte. Aber sie hat nur den Kopf geschüttelt und gemeint, dass man so etwas nicht lernen kann. Dass es ein Geschenk des Himmels ist.
Nach dem Konzert standen die Leute Schlange, um deinem Vater die Hand zu schütteln. Der Chorleiter musste ihn regelrecht vor der Menge abschirmen.« In Orsinas schwarzem Haar zeigten sich zwar mittlerweile graue Strähnen, aber wenn sie lachte, konnte Elodie sich genau vorstellen, wie ihre Mutter als junge Frau gewesen war.
»Du bist mir sofort aufgefallen, Orsina«, sagte ihr Vater. Und dann sah er sie wieder wie beim ersten Mal. Das blassgelbe Chiffonkleid, das pechschwarze Haar, die strahlenden Augen. Liebevoll erinnerte er sich daran, wie ihre Hände gezittert hatten, als sie ihm das Programm hingehalten hatte, um darauf ein Autogramm zu bekommen.
»Er hat mich von meiner schönen Lagune weggelockt«, sagte Orsina viele Jahre später. »Aber ich bereue es nicht.« Manchmal jedoch, in sehr heißen Nächten, bemerkte Elodie einen Anflug von Schwermut in der Stimme ihrer Mutter, die ausgedörrt und durstig klang. Und wenn der Sommer dann mit seiner erbarmungslosen Hitze zuschlug, hörte Elodie in den Worten ihrer Mutter traurige Sehnsucht.
»Es ist die trockene Hitze hier. Ich bin das nicht gewohnt .« Jeden Sommer stimmte sie dasselbe Klagelied an. Voller Mitgefühl beobachtete Elodie, wie sich ihre Mutter mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Wo ich aufgewachsen bin, war rundherum nichts als Wasser. Tiefblau. Grün und schwarz. Wir haben die Jahreszeiten am Wasser festgemacht, am Nebel und am Dunst. Meine erste Erinnerung ist der Kontakt mit Wasser. Mein erster Geschmack war der des salzigen Meerwassers.«
Ihre Mutter hatte sich stets bemüht, an allen Dingen nur das Schöne wahrzunehmen. Sie sah das Leben durch ein einzigartiges Prisma. Sie hatte einen optimistischen Blick. Man brauchte nur die Perspektive ein wenig zu verschieben, schon konnte man eine neue Facette entdecken und sie zum Erstrahlen bringen.
Ihre Mutter hatte immer Blumen im Haus. Venezianische Vasen in allen möglichen Pastellfarben quollen über von Flieder im Frühjahr und Rosen im Sommer. Sie kochte die Speisen ihrer Kindheit: Baccalá, Polenta und Tintenfischrisotto, und zum Nachtisch gab es Burano-Kekse, die ihr Vater in süßen Wein tunkte. Aber die Musik überließ sie ihrem Mann und ihrer Tochter. Nur wenn ihre Mutter allein im Bad war, hörte Elodie sie singen.
Ob jeder Mensch sein Lied hatte? Elodie fragte sich manchmal, ob vielleicht auch bei den Menschen, die nicht mit musikalischem Talent gesegnet waren, eine sehr persönliche Melodie in ihrem Innern schlummerte. Ihre Mutter sang nur, wenn sie in der Badewanne lag. Die Stimme erschien Elodie wie sanftes Bienensummen. Sie schwebte in den Dunstschwaden des Badezimmers. Elodie sah ihre Mutter mit hochgestecktem Haar vor sich. Den langen Schwanenhals und ihre feingliedrigen Wangen. Sie hörte sie Lieder im venezianischen Dialekt singen. Liebeslieder und hin und wieder auch eine der melancholischen Balladen der Gondolieri.
Aber am meisten hatten es ihrer Mutter die neuesten französischen Chansons angetan. Ihr Faible für Paris war der Grund dafür, dass sie ihrer Tochter einen französischen Namen gegeben hatte. »Dein...
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