Schweitzer Fachinformationen
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Herr Gries ist vor kurzem in das Pflegeheim eingezogen. Er ist ein Mann in den späten Siebzigern, dessen mürrisches Verhalten und scharfe Zunge Anna das Leben schwer machen. Er ist von kleiner Statur, mit schmalen Schultern, die sich leicht nach vorne neigen, als trüge er eine Last. Sein schütteres, graues Haar steht in starkem Kontrast zu seinen buschigen Augenbrauen, die ständig zusammengezogen scheinen, als wäre er immer in Gedanken vertieft oder unzufrieden.
Seine Augen sind von einem stechenden Blau, das durchdringend wirkt, wenn er jemanden ansieht. Sie haben etwas Kritisches, als ob er in jedem Moment etwas finden könnte, das ihm missfällt. Oft trägt er einen abgetragenen, grauen Bademantel, mit dem er sich auch tagsüber über den Flur bewegt.
Herr Gries' Verhalten scheint von einer tiefen Bitterkeit geprägt zu sein, die sich in seiner ständigen schlechten Laune und seinen abwertenden Kommentaren äußert. Es ist, als würde er sich an jeder Kleinigkeit stören und sei unfähig, das Gute in den Dingen zu sehen. Manchmal wirkt er, als würde er gezielt darauf aus sein, andere mit seinen Bemerkungen zu verletzen oder sie aus der Reserve zu locken.
Anna merkt schnell, dass sie Schwierigkeiten hat, mit ihm zurechtzukommen. Seine ständig schlechte Laune und die negativen Bemerkungen über alles und jeden machen es schwierig, eine positive Beziehung zu ihm aufzubauen.
Während Anna versucht, sich um andere Bewohner zu kümmern und ihnen Aktivitäten anzubieten, die sie genießen können, ist Herr Gries oft in der Nähe. Und er kommentiert ihre Bemühungen mit Sätzen wie »Das ist ja was für den Kindergarten. Fällt Ihnen nichts Besseres ein?« oder »Alle bekloppt hier!« Das belastet die Stimmung und macht Anna das Arbeiten schwer.
In ihrer Frustration entscheidet Anna, Herrn Gries einfach zu ignorieren und nicht auf seine provokanten Äußerungen zu reagieren. Sie denkt bei sich: »Wer nicht will, der hat schon...« Doch im Stillen fragt sie sich, ob es vielleicht einen besseren Weg gibt, mit Herrn Gries umzugehen, anstatt ihn einfach zu ignorieren.
Übung
Darf Anna Herrn Gries einfach ignorieren?
Warum verhält sich Herr Gries so?
Was kann Anna tun, damit sie Zugang zu Herrn Gries bekommt?
Anna reflektiert auf dem Weg nach Hause ihr Verhalten und erinnert sich an die person-zentrierte Haltung. »Da war doch was mit Empathie.?«
Anna überlegt, wie Herr Gries sich jetzt in dieser Situation fühlt. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie von einem Tag auf den anderen - ungefragt - in ein Pflegeheim ziehen müsste?
Herr Gries und auch alle Bewohner, die neu in die Pflegeeinrichtung ziehen, müssen mit zahlreichen Verlusten fertig werden. Besonders gravierend ist der Kontrollverlust:
Verlust der Selbstständigkeit
Verlust der Privatsphäre
Verlust der Freiheit
Verlust sozialer Kontakte
Verlust der gewohnten Umgebung
Anna stellt sich vor, wie das für sie wäre: Plötzlich entscheidet jemand anderes über ihren Tagesablauf. Andere Menschen bestimmen, was es zu essen gibt und wann Zeit für Freizeitaktivitäten ist. Anna läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Sie denkt weiter darüber nach und ihr wird klar, dass ein Bewohner beim Heimeinzug viele neue Aufgaben bewältigen muss:
Sich an einen neuen Lebensraum anpassen und sich darin zurechtfinden
Neue Menschen kennenlernen
Lebenslange gewohnte soziale Kontakte durch neue ersetzen
Sich in einer bestehenden Gruppe integrieren (Bewohner und Personal)
Neue Erfahrungen bewältigen
Abhängigkeit und Hilfsangebote akzeptieren
Die ersten Tage und Wochen im Pflegeheim können für die Bewohner sehr herausfordernd sein, da sie sich mit der Realität ihrer Endlichkeit, der Trennung von ihrem vertrauten Zuhause und ihrer gewohnten Lebensweise auseinandersetzen müssen. Dieser Übergang wird oft von Traurigkeit, Ärger, Angst und Unsicherheit begleitet.
Die Bewohner reagieren auf die Herausforderungen dieser Phase auf verschiedene Weisen. Einige zeigen ihre Emotionen offen, indem sie traurig oder wütend sind. Andere ziehen sich zurück und schweigen. Manche drücken sich auch durch Aggressionen oder Schimpfworte aus, was für das Pflege- und Betreuungspersonal herausfordernd sein kann.
Es ist in dieser Zeit des Heimeinzugs von entscheidender Bedeutung, dass das Pflege- und Betreuungspersonal eine einfühlsame und empathische Haltung einnimmt. Alle müssen verstehen, dass die Bewohner eine emotionale Achterbahnfahrt durchmachen und Hilfe benötigen, um sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden. Das erfordert Geduld, Verständnis und die Bereitschaft, den Bewohnern zuzuhören ohne zu urteilen.
Eine einfühlsame Haltung bedeutet auch, den Bewohnern Raum für ihre Gefühle zu geben, ohne sie zu verurteilen oder zu kritisieren. Es ist wichtig zu erkennen, dass Aggressionen oder Depressionen nicht persönlich gegen das Pflege- und Betreuungspersonal gerichtet sind, sondern eine Reaktion auf die tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Leben darstellen.
Durch einfühlsame Gespräche, Aktivitäten, die ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechen, und eine unterstützende Umgebung können die Bewohner allmählich Vertrauen aufbauen und sich in ihrem neuen Zuhause wohler fühlen. Die Eingewöhnungszeit kann dadurch erleichtert werden. Die Bewohner können allmählich eine gewisse Akzeptanz für ihre Situation finden.
Der sechswöchige Integrationszeitraum für neue Bewohner in einer Langzeitpflegeeinrichtung ist eine entscheidende Phase, um sicherzustellen, dass sie sich gut eingewöhnen und sich in ihrer neuen Umgebung wohl fühlen. Anna nimmt ihre Rolle als Betreuungskraft während dieses Zeitraums sehr ernst und arbeitet eng mit Herrn Gries zusammen, um sicherzustellen, dass er sich gut integriert.
In den ersten Tagen des Integrationszeitraums konzentriert sich Anna darauf, den neuen Bewohner, den sie beim Heimeinzug begleitet, mit dem Haus und den Abläufen vertraut zu machen. Sie zeigt ihm sein Zimmer, erklärt die Essenszeiten, den Speisesaal, den Aufenthaltsraum und andere wichtige Bereiche in der Einrichtung. Sie stellt ihm ihre Kollegen vor und ermutigt ihn, Fragen zu stellen und Bedenken zu äußern.
Anna lädt neue Bewohner zu den Gruppenangeboten ein, die in der Einrichtung angeboten werden, und dokumentiert seine Teilnahme oder Ablehnung. Auch muss Anna ein Biographiebogen ausfüllen. Diesen kann sie gemeinsam mit dem neuen Bewohner ausfüllen oder einem Angehörigen mitgeben. Themen aus dem Biographiebogen sind z. B.:
Familiäres Umfeld
Hobbies und Beruf
Essensvorlieben
Rituale wie Schlafgewohnheiten
Glauben und Religion
Usw.
Ein wesentlicher Teil von Annas Arbeit besteht darin, eine Beziehung zu den neuen Bewohnern herzustellen, aber auch beim Knüpfen von Kontakten zu anderen Bewohnern zu unterstützen.
Der grobe Ablauf des Integrationszeitraums ( Abb. 4) sieht vor, dass Anna in den ersten Wochen besonders intensiv mit dem neuen Bewohner arbeitet, um seine Bedürfnisse und Interessen besser kennenzulernen. Sie dokumentiert alle Fortschritte und passt die Betreuung entsprechend an. Durch diese einfühlsame und individuelle Herangehensweise wird sichergestellt, dass der neue Bewohner sich gut in der Einrichtung eingewöhnt und Unterstützung erhält, um seine neue Lebenssituation zu bewältigen.
Abb. 4: Heimeinzug und Integrationszeitraum.
Manchmal sind neue Bewohner allerdings so krank, dass sie während des Integrationszeitraums ins Krankenhaus müssen. Auch wenn Bewohner nachweislich mehr Zeit zur Integration benötigen, kann der Integrationszeitraum verlängert werden. Der Prozess endet mit dem Integrationsgespräch. Wenn der Bewohner sich selbst nicht mehr äußern kann, so werden Angehörige befragt.
Eines Nachmittags entschließt sich Anna, Herrn Gries erneut einzuladen, an einer ihrer Aktivitäten teilzunehmen. Sie hat Bingo vorbereitet, ein Spiel, das bei den meisten Bewohnern des Pflegeheims sehr beliebt ist. Die Teilnehmer sitzen bereits gespannt in einem Halbkreis im Gemeinschaftsraum, während Anna...
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