Schweitzer Fachinformationen
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Vor gar nicht allzu langer Zeit lauerten an den Rändern unserer Landkarten noch geheimnisvolle Kreaturen. Drachen und Monster streiften durch die Landschaft, und Seeungeheuer zertrümmerten die Boote und Knochen all jener, die sich zu weit in ihre Gewässer vorwagten. In den Untiefen der Ozeane warteten Leviathan und der Kraken darauf, Schiffe in ihr Verderben zu ziehen; Sirenen, Schlangen, gigantische Seegurken und Riesenhummer bevölkerten die Albträume der Seeleute. Durch die Köpfe der Kartografen des Mittelalters und der Renaissance spukten fantastische Bestien, wenn sie die Berichte von schrecklichen Ungeheuern draußen im Meer auf ihren Karten zu gedruckten Legenden machten. Mythos und Realität verschmolzen, als diese Karten Abenteurer noch in ferne Länder lockten, um die Existenz der Bestien und der Schätze, die vermutlich unentdeckt in deren Gefilden lagen, zu beweisen. Sollten die Geschichten sich als wahr herausstellen, waren Ruhm und Reichtum gewiss.[1]
Doch dann verschwanden die Kreaturen und Monster nach und nach von den Landkarten, bis sie Ende des 17. Jahrhunderts schließlich ganz ausstarben. Dank der Fortschritte in Schiffsbau und Navigationstechnik hatten Europas Kartografen einiges über die Welt erfahren und gelernt, diese akkurater darzustellen. Ein Zeitalter der Wissenschaft und Vernunft war angebrochen und verdrängte die frühen künstlerischen Ausschmückungen und fantasievollen Geografien.[2] Dennoch sind die alten Karten bis heute von großer Bedeutung, weil ihre akribisch gezeichneten Ungeheuer uns einen bemerkenswerten Einblick in die Köpfe der Kartenmacher, Weltreichgründer, Abenteurer und Seefahrer gewähren, die einst die Meere durchkreuzten und den Globus kartierten. Sie enthüllen uns deren Hoffnungen und Ängste, bevor Fortschritt und Technik diese zähmten und aus einer bis dahin unbekannten die bekannte Welt wurde.
Doch diese Darstellungen unerforschter Landstriche und ihrer mysteriösen Bewohner hatten auch einen entscheidenden Einfluss darauf, was die Menschen über die Welt dachten, wie sie darüber sprachen oder sie sich erträumten. Kartografische Abbildungen verwischten Fakten und Fiktion zu Weltbildern, die sich wiederum auf das Verhalten der Menschen in und gegenüber der Welt auswirkten. Heute erscheinen uns diese Karten oft wie Hirngespinste, die von Mythen und Übertreibungen nur so strotzen. Aber vielleicht sollten wir mit den mittelalterlichen Meistern, die sie schufen, nicht allzu hart ins Gericht gehen. Denn wer garantiert uns, dass unser heutiges Weltbild nicht genauso von Mythen geprägt ist wie das damalige? Und dass uns die Karten und Systeme, die wir heute benutzen, um uns in der Welt zurechtzufinden, nicht genauso in die Irre führen?
Mythen gehören traditionell ins Reich des Übernatürlichen und Spirituellen, wo Erzählungen von der Geburt, dem Leben, den Abenteuern oder dem Tod menschlicher Protagonisten eng verwoben sind mit jenen von Göttern, Helden, Nymphen, Najaden, Elfen, Trollen oder auch Tieren und Pflanzen, um der Welt eine Bedeutung zu geben.[3] Mit dem Aufstieg der organisierten Religion gefolgt von einem Zeitalter der Wissenschaft und Vernunft verloren Mythen zwar an Rätselhaftigkeit und Bedeutung. Geht es jedoch darum, die Welt zu ordnen, sind sie so lebendig wie eh und je. Mythen der Geografie befasst sich mit einer ganzen Reihe dieser für unser Zeitalter relevanten Mythen und offenbart dabei deren anhaltende Macht und weshalb sie grundlegend sind für unser Verständnis der Welt und deren Geografie.
Wie die Mythen der Antike sind auch diese Narrative so tief in unserem Bewusstsein verwurzelt, dass wir sie häufig schon gar nicht mehr als Produkte unserer eigenen Fantasie erkennen. Die heutigen imaginären Geografien sind vielleicht nicht mehr dieselben wie die der Vergangenheit, doch auch sie können der Grund dafür sein, dass wir uns wie Don Quijote auf die Suche nach El Dorado machen oder losziehen, um einen Drachen zu töten, den es nie gegeben hat. Dieses Buch beschäftigt sich mit einigen fundamentalen Überzeugungen, die unser Leben definieren und unsere Wahrnehmung der Welt formen.[4] Es zeigt, dass Mythos und Geografie in vielerlei Hinsicht ein und dasselbe sind.[5]
Die Mythen, um die es hier geht, sind imaginäre Geografien: Auffassungen von der Erde, ihren Ländern, Kontinenten, Grenzen und Regionen, die in den Köpfen von uns allen existieren. Sie bilden die Welt nicht so ab, wie sie tatsächlich ist, sondern lediglich eine Vorstellung von ihr. Überall um uns herum tauchen sie auf und werden permanent wiederholt, in Bildern, Büchern, Geschichten, Karten, Schulbüchern, Reden, Theateraufführungen, Filmen, den Medien. Jeder dieser Mythen prägt, wie wir die Welt wahrnehmen und in ihr leben. Aber genau wie die Furcht einflößenden Monster, die einst die Landkarten bevölkerten, spiegeln sie nicht immer wider, was dort draußen tatsächlich existiert, sondern unsere Sorgen, Wünsche und Ängste. Diese Mythen sind Linsen, durch die wir uns selbst sehen.[6]
Die acht in diesem Buch beschriebenen Mythen nehmen wir in uns auf, seit wir als Kinder fasziniert einen Globus bestaunt oder Karten und Flaggen bunt ausgemalt haben. Jedes der nachfolgenden Kapitel nimmt sich eine dieser tief sitzenden Vorstellungen, die wir von der Welt haben, vor, krempelt sie um und zeigt, dass Mythen leichter Berge versetzen oder Kontinente erschaffen können als jeder geophysikalische Prozess. Sie setzen sich intensiv mit den Märchen, die wir uns über die Welt erzählen, auseinander und fragen: Welche Auswirkungen hat es, wenn unsere für selbstverständlich erachteten geografischen »Realitäten« plötzlich gar nicht mehr so real sind? Und wenn selbst einige der angesehensten Kartografen der damaligen Zeit die Welt »auf dem Kopf« gezeichnet haben, welche alternativen Betrachtungsweisen mag es dann noch geben? Könnte es sein, dass manche der grundlegendsten Vorstellungen, die wir von der Welt haben, nichts weiter sind als eine Täuschung? Und welche Konsequenzen hat es, in einer Welt zu leben, die nicht ist, wie sie ist, sondern so, wie wir sie uns vorstellen?
Dieses Buch stellt das lange vorherrschende Weltbild des Geodeterminismus infrage, dessen Ursprünge im alten Griechenland liegen und dem die Idee zugrunde liegt, dass Klima und physikalische Umgebung Einfluss auf die menschliche Intelligenz und gesellschaftliche Entwicklungen haben.[7] Eine Überzeugung, die später dann ausgezeichnet zum rassistischen und hierarchischen Denken des Kolonialismus passte und die notwendige Rechtfertigung für die imperiale Herrschaft über ferne Länder und deren Menschen lieferte. Jahrhunderte deterministischen Denkens haben bewirkt, dass auch die darin enthaltenen Vorurteile über Geografie und Umwelt sich als erschreckend hartnäckig erweisen.[8] Sie haben zu der falschen Annahme geführt, dass Geografie Schicksal ist und in gewisser Weise die Erklärung für den Aufstieg oder Niedergang einer Zivilisation, die vorherrschende Weltordnung und unsere geopolitische Zukunft. In diesem essenzialistischen Weltbild ist die Geografie gegeben und die Karten folgen ihr.
Die Beziehung zwischen dem Menschen und der Geografie ist jedoch wechselseitig. Wir haben Einfluss auf die Gestaltung unserer Welt wie beispielsweise an der Nordsee, wo wir eine neue Landschaft geschaffen haben, indem wir dem Meer Boden abgerungen und die Grenzen der Niederlande neu gezogen haben, oder im Amazonasgebiet, wo durch das Abholzen der Regenwälder große Anbauflächen entstanden sind. Auch die Erfindung neuer Technologien zeugt von der Wechselseitigkeit dieser Beziehung, angefangen bei Atomwaffen und modernen Drohnen, die einst strategisch wichtige Gebiete plötzlich unbedeutend machen, bis hin zum Klimawandel mit seinen tiefgreifenden Veränderungen für Landschaften und Meere, bei dem der Mensch ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt. Dieses Buch sieht uns, unsere Vorstellungen und unseren Erfindungsreichtum als Teil der Geografie und zeigt, dass diese uns gar nicht so sehr einschränkt, wie wir vielleicht glauben, und dass die Weltkarten und Atlanten, über denen wir seit unserer Schulzeit brüten, weder unveränderlich noch akkurat sind. Vielmehr sind wir zu Gefangenen bestimmter Ideen und Darstellungen von der Welt geworden.
Dieses Buch zeigt eine Welt, in der geografische Fakten nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Es begibt sich auf eine Reise durch Zeit und Raum, angefangen bei der Entstehung der Kontinente über den Aufstieg Chinas bis zum Krieg in der...
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