Schweitzer Fachinformationen
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Polizisten nannten es Instinkt. Nicht Gespür, Fertigkeit oder Talent - Instinkt. Entweder man besaß ihn, oder man besaß ihn nicht. Die Wahrheit aus einer Lüge zu filtern. In einer überfüllten Straßenbahn den Gauner zu wittern. Eine Mutter zu überreden, den eigenen Sohn zu verraten. Den Kniff zu finden, der einem Mann die Zunge löste. Verdrehung des Handgelenks um dreihundertsechzig Grad? Ein Stoß in die zarte Haut der Kniekehle? Kartoffelsack um den Hals binden? Und vor allem: zu merken, wenn man kaltschnäuzig belogen wurde. Da hatte er massive Defizite. Zumal, wenn die betreffende Person eine Frau war, noch dazu die eigene Frau. Nein, das war ungerecht - Maze hatte ihn nie belogen. Jedenfalls soweit er wusste. Und hätte Maze ihn belogen, dann hätte er das nicht gemerkt, deshalb war es sowieso egal. So funktionierte sein Gehirn nun mal, in geschlossenen Kreisläufen, es stellte sich stets in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage.
Bill verfügte über zwei Fähigkeiten, die jeder Polizist brauchte: eine genaue Beobachtungsgabe und ein gutes Gedächtnis. Er hatte beide zusammen mit auf den Weg bekommen, sie glichen dem zweiköpfigen Jungen, der mit beiden Mündern grinste. Beobachtung und Gedächtnis, das waren treue, alte Gefährten, die ihn nie im Stich gelassen hatten, wenngleich sie im letzten Jahr eher Fluch als Segen gewesen waren. Neunzehn Minuten waren verstrichen, seit sich Obitz und Dodson von ihm und Charlie Breaux getrennt hatten, und er konnte sich fotografisch genau an jede Person erinnern, die er danach erblickt hatte. In der Clio Street einen ausgemergelten Kahlkopf, der einen Erdnusskarren schob, krumm wie ein Baum bei Sturm, wahrscheinlich im Schlaf. Zwei Frauen im Highschoolalter, aber sicher nicht eingeschrieben, schwebten über die Kreuzung der Erato Street, ihre Seidenkleider fegten den Dreck. Ein etwa dreißigjähriger Hüne mit langem Trenchcoat und dunklem Homburg bog mit federnden Schritten oben in der Thalia um die Ecke. Und kurz vor der Terpsicore blockierte eine Schnapsleiche den Bürgersteig, auf dem Bauch liegend, die Wange voller Matsch. In einer gewöhnlichen Nacht hätten sie die Schnapsdrossel auflesen lassen. Nur war dies keine gewöhnliche Nacht, weil ein durchgedrehter Straßenräuber sein Unwesen trieb.
Die stille Straße war ein Vorwurf, aber was hatte Bill erwartet? Bürgerwehren auf Patrouille? Eine marschierende Kapelle? Die Familien in diesem Viertel, eingeklemmt zwischen dem Massiv namens Irish Channel und dem Strudel namens Storyville, viele kürzlich mit dem Dampfer aus Nestern wie Naples oder Queenstown gekommen, igelten sich nachts ein und überließen die Straßen den Besoffenen, Gaunern und Dieben. An allen größeren Kreuzungen standen elektrische Straßenlaternen, aber die meisten Glühbirnen waren kaputt. Der reine Irrsinn: Die Stadt verpulverte sechs Millionen Dollar für den Bau eines überdimensionierten Kanals, der den Mississippi River mit dem Lake Pontchartrain verbinden sollte, verschlampte aber die Wartung der Straßenlaternen? Andererseits nützten sogar funktionierende Lampen wenig, weil die Blocks sehr lang und über weite Strecken in Finsternis getaucht waren.
Charlies Hinkebein schlurfte über den Kies, eine unbeholfene Perkussion, die den dunklen Häuserreihen ihr Nahen verriet. Schritt-Schlurf, Schritt-Schlurf, Schritt-Schlurf.
«Gefällt mir nicht, Billy», sagte Charlie. «Ist verdächtig.»
«Zu still? Zu dunkel?»
«Zu verdächtig.»
Drei Uhr früh. Bill hatte seit der letzten Mütze Schlaf eine ganze Tagesreise hinter sich gebracht. Er war in aller Frühe aufgestanden, um bei einer Veranstaltung im Rathaus, bei der im Rahmen eines Frühstücks für den Kauf von Kriegsanleihen geworben werden sollte, für Sicherheit zu sorgen; mittags wurde er zur Ecke Annunciation, Second Street gerufen, wo eine Sechsjährige vor die Straßenbahn gelaufen war; um siebzehn Uhr, er hatte für die Aufnahme des Mädchens im Charity Hospital gesorgt, sollte er auf der Wache eine Einweisung für eine Streife erhalten, die wegen des schwarzen Straßenräubers für die ganze Nacht angesetzt war. Sie fand mit drei Stunden Verspätung statt, weil Superintendent Mooney mit dem Verhör von Andrew Maggio beschäftigt war, Bruder des abgeschlachteten italienischen Lebensmittelhändlers. Mooney wirkte bei den spektakulärsten Fällen gern federführend mit, und vor dem Raubzug des Straßenräubers war das der Mord am Ehepaar Maggio. Der einzige Verdächtige war Andrew Maggio, ein Friseur, der angab, das Gemetzel mitangehört zu haben, dann aber auf freien Fuß gesetzt werden musste, weil man ihn nicht weichkochen konnte. Mooney wies seine Leute erst gegen einundzwanzig Uhr ein. Bill und Charlie waren jetzt sechs Stunden ohne Ablösung auf Streife.
«Ich bin hundemüde», sagte Charlie. «Meine Füße summen schon.»
«Müde. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das ist. Müde.»
«Das ist, als hätte dein Gehirn höllischen Durst.»
«Mein Gehirn hat längst vergessen, was Müdigkeit ist.»
«Das ist, als würden deine Füße einem Fremden gehören.»
Bill empfand vor allem panische Rastlosigkeit. Er wusste, dass der Verrückte irgendwo lauerte, und deshalb waren seine Sinne aufs Äußerste geschärft. In der quälenden Stille der Baronne Street schrie alles in seinen Ohren, das Knirschen von Charlies demoliertem Knie, das gespenstische Schlurfen seiner Schritte, das Quietschen der eigenen Militärstiefel.
Deshalb glich der Schuss einem Donnerschlag.
Noch ein Polizeiinstinkt: auf Schüsse zulaufen. Bill hatte diesen Instinkt nie besessen und sich obendrein oft gefragt, ob es ihn tatsächlich gab, aber seit seiner Rückkehr nach New Orleans sehnte er sich nach einer Feuertaufe, und dies war die erste Gelegenheit. Er folgte Charlie nach Downtown, wo die Schüsse ertönt waren. Ihre Beine flogen auf und ab wie Kolben, grüne Schleimfäden spritzten auf ihre Hosen.
Kurz vor der Calliope Street stießen sie auf zwei Männer, die auf der Treppe eines Shotgun Cottage aufeinanderlagen. Der größere - bestimmt neunzig Kilo schwer und gut einen Meter achtzig groß - mit unnatürlich hochgerecktem Gesäß auf dem anderen. Seine Mütze lag auf dem Boden, der Mond erhellte seine strohblonden Haare und die Messingknöpfe der Uniformjacke. Der kleinere, unter ihm liegende Mann war kaum zu sehen. Bill begriff sofort, dass es Harry Dodson war, der von Teddy Obitz plattgedrückt wurde.
«Runter von mir.» Dodson klang wie ein Ballon, dem die Luft ausging.
Charlie blieb mitten im Gehen stehen, wie ein Automat, der auf einmal keinen Saft mehr hatte. «Bist du das, Harry?»
«Zieht ihn runter!»
Sie zerrten an den Schultern des Hünen, aber Big Blond rührte sich nicht vom Fleck. Harry ächzte gequält.
«Was is'n los, Big Blond?», fragte Charlie. «Du tust Harry weh.» Der arme Charlie war seit jeher ein Schwachkopf, und wenn er Schiss hatte, verblödete er fast völlig.
«Teddy wurde erschossen, Charlie.»
«Big Blond wurde erschossen?»
Sie nahmen einen neuen Anlauf. Dieses Mal zogen sie an Obitz' mächtigen, steifen Schultern. Er fiel mit einem grotesken schmatzenden Geräusch zurück, und als sein Kopf gegen die Säule vor der Tür knallte, klang es, als würde eine Axt in einen Baum schlagen. Das Geräusch hallte durch die verwaiste Straße. Obitz' blonde Haare waren feucht. Seine offenen Augen schauten ungläubig drein. Auf seiner Brust zeichnete sich eine dunkle, klebrige Sauerei ab. Ebenso auf Harrys.
«Hat's dich auch erwischt?», wollte Charlie wissen.
Harry schüttelte den Kopf. Er saugte die Nachtluft ein und verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte er sie vor noch mehr Schmutz schützen. «Ist Teddys Blut», sagte er. «Aus dem Bauch.»
«Das war dieser Mistkerl», sagte Bill. «Wo steckt er?»
Harry hustete feucht und schleimig. Er atmete komisch. Er quetschte Laute hervor, die wie «Telefon» klangen.
«Welches Telefon?», fragte Charlie.
«Unten in der Baronne. Richtung Battlefield.»
Mehr musste Charlie nicht hören. Er rannte los - es war ein krummbeiniger, hoppelnder Sprint. Genug Instinkt für zwei.
Angesichts der beiden Kollegen, die auf der Treppe saßen und ihn anglotzten - einer japsend wie ein Fisch auf dem Trockenen, der andere mausetot -, wurde Bill klar, dass er etwas sagen musste, etwas Beruhigendes. Er suchte nach passenden Worten, aber die Gewalt hatte ihn erschüttert. «Ich verspreche .», begann er. «Ich verspreche .»
«Los!», rief Harry.
Charlie war schon fast einen Block weiter. Bill rannte ihm nach, stolperte aber nach den ersten paar Schritten über einen losen Stein und knallte auf das Straßenpflaster. Als er auf die Beine kam, war Charlie verschwunden. Dieser Abschnitt der Baronne hatte keine Lücken - die Häuser standen dichtgedrängt -, und als er die Ecke erreichte, war niemand zu sehen. Das einzige Lebendige war ein Köter mit deformierter Vorderpfote, der mit gesenktem Kopf und wütend mahlendem Kiefer ständig im Kreis lief. Rechts hinter dem Hund befand sich der Lee Circle. Links die Union State Plaza, dahinter der Battlefield-Park. Bill blieb stehen und horchte, hörte aber nur das klagende...
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