Schweitzer Fachinformationen
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Es war neun Uhr morgens, und Ana Martí starrte verschlafen auf ihre halbleere Kaffeetasse, als sie das Telefon im Treppenhaus klingeln hörte. Der Apparat hing in einer Nische unter dem Treppenaufgang in den ersten Stock, in einem Kasten, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Den Schlüssel hatten lediglich Teresina Sauret, die Hausmeisterin, und die Serrahima aus dem ersten Stock, denen das Haus gehörte. Wenn das Telefon klingelte, nahm die Hausmeisterin das Gespräch an und holte den betreffenden Nachbarn an den Apparat. Allerdings nur, wenn sie Lust dazu hatte, und das war nicht immer der Fall. Entscheidenden Einfluss auf ihre Bereitschaft, die Treppen hinaufzusteigen, hatten Trinkgeld und knisternde Umschläge am Jahresende.
An diesem Tag war es wohl die Aussicht, Ana an die zwei ausstehenden Monatsmieten erinnern zu können, die sie geschwind hinaufgehen ließ. Kurz nachdem das Klingeln des Telefons durch das Treppenhaus geschallt war, stand die Hausmeisterin vor Anas Wohnung im vierten Stock und klopfte.
«Señorita Martí, Telefon.»
Ana öffnete die Tür. Teresina Sauret stand vor ihr. Obwohl ihr massiger, in einen alten Bademantel gezwängter Körper den Ausgang versperrte, drang kühle Luft in die Wohnung. Ana griff nach einer Strickjacke, für den Fall, dass das Gespräch länger dauern sollte, und steckte die Schlüssel ein. Die Hausmeisterin nahm sicher an, sie hätte das Geld für die Miete gesucht, und trat einen Schritt beiseite, um es in Empfang zu nehmen. Ana nutzte die Lücke und schlüpfte aus der Wohnung. Schnell zog sie die Tür zu, die wenige Zentimeter vor dem Kopf der Hausmeisterin ins Schloss fiel, sodass ihr Gesicht fast an den runden, bronzenen Türspion stieß. Die drei anderen Türspione auf der Etage glänzten im Licht einer nackten Glühbirne. In den Stockwerken mit den Mietwohnungen gab es keine Lampen, nur im Hauseingang und in der Beletage hingen welche, vermutlich, um einen guten Eindruck auf die Besucher der Serrahima zu machen. Was für einen Eindruck die Mieter hatten, war den Hausbesitzern gleichgültig.
Die Hausmeisterin zischte etwas. Sie war vorsichtig genug, es so leise zu sagen, dass niemand im Haus den Wortlaut verstehen konnte; aber der giftige Ton reichte vollkommen, damit Ana, die säumige Schuldnerin, die Botschaft verstand.
Ana lief die Treppen hinunter und nahm in der Nische den Telefonhörer aus Bakelit in die Hand, den die Hausmeisterin auf dem Kasten abgelegt hatte.
«Ja, bitte?»
«Ana?»
Die Stimme von Mateo Sanvisens, dem Chefredakteur der Vanguardia.
«Sagt dir der Name Mariona Sobrerroca etwas?»
Was für eine Frage! Seit zwei Jahren schrieb Ana Artikel für die Gesellschaftsnachrichten, und natürlich war ihr Mariona Sobrerroca ein Begriff. Als Witwe eines stadtbekannten Arztes und Spross einer alten katalanischen Familie gehörte sie zur Stammbesetzung eines jeden gesellschaftlichen Ereignisses in Barcelona.
«Selbstverständlich kenne ich sie», antwortete Ana.
Teresina Sauret hatte sich von Anas Tür gelöst und stieg wieder die Treppen hinunter. Jetzt verringerte sie ihr Tempo, um möglichst viel von dem Telefongespräch aufzuschnappen. Nervenaufreibend langsam schlurfte sie an der Nische vorbei.
«Sag lieber, du kanntest sie.»
«Wieso?»
«Sie ist tot.»
«Und ihr braucht bis morgen den Nachruf.»
Der Text entstand schon vor ihrem inneren Auge. Von uns gegangen ist Mariona Sobrerroca i Salvat, Witwe von Dr. Garmendia, Wohltäterin und Förderin . Sanvisens unterbrach brüsk das Klappern der Schreibmaschine in ihrem Kopf.
«Ana, was ist los mit dir? Ist dir bei deinen zahlreichen Opernbesuchen der Verstand abhandengekommen? Meinst du, ich würde dich wegen eines Nachrufs anrufen?»
Sie hatte oft genug als Neger für Sanvisens' Abteilung gearbeitet, um zu wissen, wann man seine Fragen besser überhörte. Sie nutzte die kurze Stille, um sich mit einem Nicken von der Hausmeisterin zu verabschieden, die endlich am untersten Treppenabsatz angelangt war. Teresina Sauret verschwand in ihrer Wohnung, und das schlurfende Geräusch ihrer Hausschuhe brach wie erwartet direkt hinter der Wohnungstür ab.
«Sie ist umgebracht worden.»
Bei Anas überraschtem Ausruf musste die Hausmeisterin zusammengezuckt sein, denn Ana hörte, wie etwas mit einem dumpfen Knall gegen die Wohnungstür schlug. Hoffentlich hat sie sich ordentlich den Kopf gestoßen, dachte Ana.
«Ich hätte gerne, dass du die Berichterstattung übernimmst, ja?»
Zahlreiche Fragen stürmten auf sie ein. Warum ich? Warum nicht Carlos Belda? Was sagt die Polizei? Was soll ich machen? Warum ich? Sie stellte keine davon, sondern sagte nur ein Wort: «Ja.»
«Dann komm jetzt in die Redaktion.»
Ana legte auf. Sie rannte zu ihrer Wohnung hinauf, schnappte ihre Tasche und stürmte die Treppen wieder hinunter, vorbei an Teresina Sauret, die gerade den Kasten mit dem Telefon abschloss.
«Was für ein Gerenne! Manche Leute haben einfach keine Manieren!»
Ana hörte es gerade noch, als sie das Haus verließ. Sie strebte eilig in Richtung der Ronda, des Rings, der das alte Stadtzentrum von Barcelona umgab. Auf eine Hauswand hatte jemand ein Bild von José Antonio geschmiert und darunter, wie bei einem Appell, anwesend! geschrieben. Niemand hatte gewagt, gegen diesen Vandalismus vorzugehen, und so stand die Kritzelei dort schon seit Wochen.
Da gerade keine Straßenbahn in Richtung Plaza de la Universidad kam, machte sie sich zu Fuß auf den Weg. In der Zeitungsredaktion würde Sanvisens hoffentlich ihre Fragen beantworten. Vielleicht sogar die Frage, warum er sie und nicht Carlos Belda angerufen hatte, der üblicherweise für die Polizeiberichterstattung zuständig war.
«Carlos ist krank. Er kommt in einer, vielleicht auch erst in zwei Wochen wieder», erklärte ihr Sanvisens nach der Begrüßung. Als sie in der Redaktion angekommen war, hatte er auf seine Uhr geschaut, als ob er die Zeit zwischen dem Anruf und ihrer Ankunft stoppen wollte. Aus Höflichkeit fragte sie: «Was hat er denn?»
«Das Übliche. Er hat deswegen Penizillin bekommen und es nicht vertragen.»
Das Übliche war bei Belda ein Tripper, den er sich bei den Prostituierten im Barrio Chino holte.
«Vielleicht lag es am Penizillin.»
Das war nicht ungewöhnlich. Es kam immer wieder vor, dass Menschen an gepanschten Medikamenten starben oder schwer erkrankten. Das Versetzen von Penizillin wurde mit dem Tode bestraft. Auch das Panschen von Milch oder Brotteig stand unter Strafe. Trotzdem wurde all das praktiziert.
«Kann sein», entgegnete der Chefredakteur.
Mateo Sanvisens war kein großer Freund von Plaudereien. Er war wortkarg und trocken - harsch, sagten manche. Genauso war auch sein hagerer Körper. Er hatte die zähe Konstitution eines erfahrenen Bergsteigers, aus seinen Händen ragten spitz und kantig wie Gebirgsgrate die Knöchel. In seiner Jugend war es ihm gelungen, einige der hohen Gipfel in den Alpen zu besteigen, und die heimatlichen Pyrenäen kannte er besser als jeder Schmuggler. In seinem Büro hingen einige Fotos der höchsten Berge der Welt, auch eins vom Mount Everest.
«Der höchste Berg der Welt, wenn auch wahrscheinlich nicht der schwierigste. Man merkt so etwas oft erst beim Aufstieg. Bald ist er fällig», pflegte er zu sagen.
Daneben hing eine eingerahmte Seite der Vanguardia mit dem Bericht von der Erstbesteigung des Annapurna durch eine französische Expedition vor zwei Jahren, 1950.
Sobald Ana vor seinem Schreibtisch saß, fing Sanvisens an, sie ins Bild zu setzen.
«Ihr Dienstmädchen hat Mariona Sobrerroca gestern tot in ihrem Haus gefunden.»
«Wie ist sie getötet worden?»
«Sie wurde geschlagen und dann stranguliert.»
«Womit?»
Ana schämte sich für ihre dünne Stimme, aber die Aufregung hatte sie heiser gemacht.
«Mit den Händen.»
Sanvisens ahmte die Bewegung nach.
Das Wo und das Wie waren also geklärt, zum Teil auch das Wann.
«Werden wir tatsächlich über den Fall berichten?», fragte Ana weiter.
Berichte über Mordfälle waren bei der Zensur nicht sehr beliebt. Spanien war ein Land, in dem, so hieß es, dank der unermüdlichen Sorge des Regimes Friede und Ordnung herrschten. Verbrechen passten nicht in dieses idyllische Bild. Dementsprechend gab es klare Anweisungen für die Berichterstattung, aber, wie immer, auch Ausnahmen. Es sah so aus, als wäre dieser Fall eine solche Ausnahme.
«Man kann die Sache nicht unter den Teppich kehren. Mariona Sobrerroca ist zu bekannt, und die Familie, vor allem ihr Bruder, hat beste Verbindungen, hier und in Madrid. Deshalb halten es die Behörden für besser, wenn über die Ermittlungen berichtet wird und wir zeigen, mit welcher Tatkraft unsere tüchtige Polizei die Untersuchung durchführt.»
Die Anführungsstriche in Sanvisens' letztem Satz waren nicht zu überhören.
«Und wenn herauskommt, dass jemand aus ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis sie umgebracht hat, jemand aus der besseren Gesellschaft?», fragte sie.
In Anas Vorstellung erschienen, wie die Blätter eines Fotoalbums, verschiedene Bilder aus dem Gesellschaftsteil der Zeitung: Mariona Sobrerroca in der Oper, im Abendkleid und neben den Frauen hochrangiger Politiker; Mariona von Kindern umringt auf einer Veranstaltung des Sozialen Hilfswerks, Mariona bei einer Versammlung der Sección Femenina, der franquistischen Frauenorganisation. Mariona beim Hochamt, auf Empfängen, auf Bällen.
«Ein Paradebeispiel dafür, dass wir vor dem Gesetz alle...
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