Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
29. Juli 1939, Tilbury Docks, Essex
Ihr ganzes Leben lang wird Lilian Shepherd sich an diesen ersten Anblick des Schiffes erinnern. Sie hat Fotos der Orontes in Prospekten gesehen, aber nichts hat sie auf die schiere Größe vorbereitet - die gigantische weiß lackierte Wand, die über dem Kai emporragt und vor der die Passagiere und Stewards wie winzige Ameisen hin und her wuseln. So weit das Auge reicht, über die gesamte Länge der Hafenanlage hinweg, recken sich die langen Metallhälse der Ladekräne in den wässrig blauen Himmel. Sie hat mit dieser Anzahl von Menschen gerechnet, doch der Lärm der gesamten Szenerie ist überwältigend - das heisere Kreischen der Möwen, die über ihren Köpfen kreisen; das Knirschen der schweren Eisenketten, mit denen die Container von den Kais gehievt werden, und das metallische Knallen, wenn sie auf dem Deck aufkommen; das Gebrüll der Hafenarbeiter mit ihren schmutzigen Gesichtern, die das Be- und Entladen beaufsichtigen. Und unter all diesem Getöse das aufgeregte Geplapper der Familienangehörigen, die sich versammelt haben, um ihre Liebsten zu verabschieden - selbstverständlich in ihrer besten Kleidung, die sonst nur zu Hochzeiten und Beerdigungen hervorgeholt wird.
Es herrscht eine solche Betriebsamkeit hier, ein so reges Treiben, dass sie trotz ihrer Nervosität von der allgemeinen Hochstimmung angesteckt wird und die Vorfreude prickelnd durch ihre Adern schießt.
»An Gesellschaft wird es dir nicht mangeln, so viel ist sicher«, sagt ihre Mutter. »Wirst gar nicht die Zeit haben, uns zu vermissen.«
Lily hakt sich bei ihrer Mutter unter und drückt ihren Arm. »Red keinen Unsinn, Mam«, sagt sie.
Frank, ihr Bruder, starrt derweil neugierig zu einem Pärchen, das rechts von ihnen steht. Die Frau lehnt an einem hölzernen Gerüst, während der Mann über ihr emporragt, die Hände links und rechts von ihrem Kopf abgestützt, den Kopf zu ihr geneigt, sodass die Strähne, die sich aus seinem Haar gelöst hat, über ihre Stirn streicht. Sie blicken einander voller Leidenschaft an, die Nasenspitzen nur Zentimeter entfernt, als würde nichts um sie herum existieren, als könnten sie weder den Lärm um sie herum hören noch das beißende Gemisch aus Meersalz und Fett, Öl und Schweiß riechen. Selbst mit einigen Metern Abstand ist die ungewöhnliche Attraktivität der Frau offenkundig. Das scharlachrote Kleid schmiegt sich an den grazilen Körper, als hätte man es ihr auf den Leib geschneidert; die vollen Lippen sind in dem gleichen tiefen Rot geschminkt und bilden einen extravaganten Kontrast zu dem seidenglatten schwarzen Haar. Er wiederum ist groß, stattlich, mit Oberlippenbart. Zwischen seinen Fingern baumelt eine glimmende Zigarette. Obwohl das Paar völlig selbstvergessen scheint, fühlt Lily sich unwohl, als würden sie und ihre Familie bei etwas stören.
»Wirst du wohl aufhören, solche Stielaugen zu machen«, weist sie ihren jüngeren Bruder streng zurecht, grinst jedoch sogleich, um ihm zu zeigen, dass es als Scherz gemeint war.
Lilys Familie hat Besucherpässe, damit sie sie an Bord begleiten können. Lily macht sich Sorgen, wie ihr Vater die steile Landungsbrücke bewältigen soll, aber er greift nach dem Geländer, verlagert sein Gewicht auf das gute Bein und zieht sich so empor. Erst als er sicher oben angekommen ist, atmet sie wieder auf. Sie werden älter, denkt sie. Und ich lasse sie zurück. Bittere Schuldgefühle machen sich in ihr breit, und sobald sie sich alle oben auf dem Deck des Schiffes versammelt haben, platzt es aus ihr heraus: »Es ist nur für zwei Jahre, das wisst ihr doch! Bevor ihr euch's verseht, bin ich wieder da.«
Das Schiff ist viel weitläufiger und tiefer, als Lily es sich vorgestellt hat. Die oberen Decks sind für die Passagiere der ersten Klasse reserviert, darunter kommen die Touristen und ganz unten die Wäschereien und die Kabinen der dritten Klasse. Das Deck F, auf dem sich Lilys Kabine befindet, gehört zur Touristenklasse und ist ein einziges Wirrwarr aus engen Fluren und Treppen. Sie müssen sich bei zwei Stewards nach dem Weg erkundigen, ehe sie die Kabine endlich finden. Das Innere ist mit zwei Stockbetten ausgestattet, die so eng beieinanderstehen, dass man nur die Hand ausstrecken muss, um die Person in der gegenüberliegenden Koje zu berühren. Lily ist froh, dass ihre Reisetruhe, die unter einem der Betten hervorlugt, wohlbehalten eingetroffen ist, ihr Name gut sichtbar in Großbuchstaben auf die Seite gedruckt.
Zwei andere Frauen sind bereits in der Kabine und sitzen auf den unteren Betten. Lily schätzt, dass die eine zwei, drei Jahre jünger ist als sie selbst, zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig vielleicht. Sie hat ein rundes, offenes Gesicht mit blassblauen Augen, die aufgerissen sind und ziellos dreinblicken, sodass Lily vermutet, ihre Kabinennachbarin müsste eigentlich eine Brille tragen. Die Vorstellung, dass sie womöglich eine in ihrer Handtasche hat, sie jedoch in einem trotzigen Akt von Eitelkeit nicht aufsetzen will, lässt Lily sie auf Anhieb sympathisch finden. Nicht so ihre Begleiterin, die mindestens ein Jahrzehnt älter scheint, die Lippen zu einem dünnen Lächeln zusammengepresst, das Kinn lang und spitz.
Die jüngere Frau springt auf und offenbart damit ihre überdurchschnittliche Größe, wobei sie jedoch den Kopf ein Stück nach unten neigt, wie um sich kleiner zu machen. »Bist du Lilian? Ich dachte mir, dass du es bist, weil wir doch nur zu dritt in der Kabine sind. Oh, ich freue mich ja so, dich kennenzulernen! Ich bin Audrey, und das hier ist Ida. Und das muss deine Familie sein. Australien! Ist das zu fassen?« Die Wörter sprudeln nur so aus ihr hervor, als habe sie keinerlei Kontrolle darüber. Ihre Stimme überschlägt sich beinahe.
Lily stellt ihre Eltern und ihren Bruder Frank vor, dessen Blick jedoch desinteressiert an Audreys schlichten Zügen abgleitet. Bald schon wird das Schiff ablegen, und ich werde mit diesen zwei wildfremden Frauen an Bord bleiben, während meine Familie ohne mich nach Hause zurückfährt, ruft Lily sich in Erinnerung. Trotzdem wirkt nichts von alldem real.
Lilys Mutter erkundigt sich bei Audrey und Ida, wo sie herkommen und was sie machen.
»Wir arbeiten als Zimmermädchen im Claridge's Hotel in London«, antwortet Audrey.
»Nicht mehr«, berichtigt Ida sie knapp. Sie trägt ein altmodisches, hochgeschlossenes schwarzes Kleid, und als sie sich vorbeugt, verströmt sie einen säuerlichen Geruch, der Lily unangenehm in die Nase steigt.
»Als wir die Werbung für die assistierte Überfahrt gesehen haben, dachten wir uns, na ja, warum eigentlich nicht?«, sagt Audrey. »Aber wir hätten uns nie träumen lassen . Das heißt, ich hätte mir nie träumen lassen .« Sie blickt zu ihrer älteren Begleiterin, und die Worte in ihrem Mund ersterben.
»Freuen Sie sich schon, all die Sehenswürdigkeiten auf Ihrer Reise zu sehen . Neapel, Ceylon?« Lilys Mutter bewegt die fremdartigen Namen neugierig im Mund.
»Alles ist besser, als hierzubleiben, nicht wahr?«, erwidert Ida. »Falls es zum Krieg kommt .«
Sofort blicken Lily und Frank zu ihrem Vater, der die gesamte Zeit über schweigend an der Wand gelehnt hat.
»Es wird keinen Krieg geben«, entgegnet Lily hastig, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Das hat Mr. Chamberlain doch selbst gesagt, oder nicht? >Frieden für unsere Zeit<, das hat er gesagt.«
»Politiker sagen viel, wenn der Tag lang ist«, entgegnet Ida.
Im Flur ertönt das mahnende Schrillen einer Glocke. Und dann noch einmal.
»Ich nehme an, es ist Zeit für uns, von Bord zu gehen«, sagt Lilys Mutter. Ihre Stimme verrät eine Unsicherheit, die zuvor nicht da war. Ich werde sie zwei Jahre nicht sehen, ruft Lily sich ins Bewusstsein, der stechende Schmerz, den sie verspürt, überrascht sie, und sie legt sich unwillkürlich die Hand auf die Brust, um sich wieder zu fassen.
»Ich komme mit euch an Deck und winke zum Abschied«, sagt Audrey zu Lily. »Meine Leute haben mich zwar schon an der Liverpool Street verabschiedet, aber ich will noch einen letzten Blick auf das gute, alte England werfen, bevor die Reise losgeht. Kommst du auch mit, Ida?«
Die ältere Frau kneift ihre kleinen schwarzen Augen zusammen. »Für mich gibt es da nichts zu sehen«, erwidert sie. »Wem sollte ich schon zuwinken? Einem Baum vielleicht? Oder einem Kran?«
Auf dem Weg zum Deck flüstert Audrey Lily ins Ohr: »Beachte Ida nicht weiter. Sie ist nur beleidigt, weil sie aufgrund ihres höheren Alters nicht die vollen Reisekosten für die assistierte Überfahrt erstattet bekommen hat. Ich hatte gehofft, das würde sie von dem Vorhaben abbringen, aber so viel Glück hatte ich leider nicht.«
Lily muss lächeln, doch sie erwidert nichts darauf. In ihrer Brust wabert ein dumpfer Schmerz gleich einer Tintenwolke im Wasser. Sie betrachtet die Rücken ihrer Eltern, die Richtung Deck vorangehen, bemerkt, wie ihre Mutter den Kopf unter dem guten schwarzen Hut gebeugt hält, wie ihr Vater sich an der Reling festklammert, während er die Stufen nimmt, die Knöchel ganz weiß vor Anstrengung.
»Ist dein Vater immer so ruhig?«, fragt Audrey.
Lily nickt. »Der letzte Krieg«, sagt sie.
»Ah.«
Endlich sind sie wieder unter freiem Himmel und stellen sich in der Schlange von Besuchern an, die das Schiff wieder verlassen. Lily malt sich aus, wie sie nach dem Arm ihrer Mutter greift. Ich habe es mir anders überlegt, würde sie sagen. Ich komme mit euch heim.
»Pass gut auf dich auf, ja?«, sagt ihre Mutter und dreht sich zu ihr um. »Ein hübsches junges...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.