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Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und im Vorfeld der Abstimmung über eine Volksinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP), welche ein restriktives Verständnis der Neutralität in der Bundesverfassung festschreiben will, wird in der Schweiz wieder darüber diskutiert, welchen Stellenwert die «immerwährende Neutralität» angesichts des massiv veränderten geopolitischen Umfelds und dem Angriffsverbot der UNO-Charta von 1946 aufweisen kann und soll.
In der Schweiz nahmen die Auseinandersetzungen über die Neutralität Fahrt auf, als es darum ging, die Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen (UNO) und der Europäischen Union (EU) zu übernehmen und die Weitergabe von in der Schweiz produziertem Kriegsmaterial durch «Dritte», also durch Staaten, welche das Material von der Schweiz rechtmässig erworben haben, zu verbieten. In der Diskussion zeichnen sich folgende Stossrichtungen ab:
Der Bundesrat sah nach der Übernahme der EU-Sanktionen gegenüber Russland im Mai 2022 keinen Grund, die geltende Neutralitätspraxis von 1993 zu revidieren, da diese die Übernahme von Sanktionen erlaubt. Als Bundesrat Ignazio Cassis das Konzept einer «kooperativen Neutralität» ins Spiel brachte, stellte sich der Bundesrat im Oktober 2022 gegen eine konzeptionelle Weiterentwicklung der Neutralität.1 Zwei kritische Positionsbezüge befassen sich mit der gegenwärtigen neutralitätsrechtlichen und neutralitätspolitischen Praxis des Bundes im Zusammenhang mit der Ausfuhr oder Wiederausfuhr von Kriegsmaterial an kriegführende Staaten, in concreto an die Ukraine.
Anhänger eines restriktiven Neutralitätsverständnisses setzen sich für eine absolute Enthaltsamkeit gegenüber den Kriegsparteien ein, auch in wirtschaftlicher Hinsicht.2 Die Vereinigung Pro Schweiz und die SVP wollen mit einer Volksinitiative eine frühere, der schweizerischen Neutralitätstradition widersprechende Neutralitätskonzeption in der Bundesverfassung festschreiben. Damit würde der sicherheitspolitische Handlungsspielraum der Schweiz drastisch eingeengt, unter Verkennung oder Verdrängung internationaler Realitäten und unter Missachtung elementarer Sicherheitsbedürfnisse der Schweiz.3 Grundsätzlich weichen die Befürworter einer strikten Neutralität der Frage aus, worin die Schutzwirkung der Neutralität heute und morgen bestehen soll.
Andere Sichtweisen wie etwa der Bericht der Studienkommission Sicherheitspolitik des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) vom August 2024 verlangen, dass die Schweiz den ihr nach geltendem Recht offen stehenden neutralitätspolitischen Spielraum weiter ausmisst und an den Sicherheitsbedürfnissen der Schweiz ausrichtet. Sie plädieren für eine grosszügigere Unterstützung der Ukraine. Namentlich im «Manifest für eine Neutralität des 21. Jahrhunderts»4 wird, verkürzt formuliert, ein Vorrang des UN-Rechts vor den Regeln des Haager Abkommens V von 1907 (im Folgenden abgekürzt mit «Haager Abkommen») und eine Aktualisierung der Neutralität im Interesse der schweizerischen Sicherheit und der Wahrung eigener essenzieller aussenpolitischer Interessen postuliert, gestützt auf die neutralitätspolitische Tradition und die aussenpolitischen Ziele der Bundesverfassung. Schliesslich wird in den Leserforen verschiedener Medien seit der Amtsübernahme durch US-Präsident Donald Trump auch eine Abschaffung der Neutralität verlangt, doch haben diese Stimmen die politische Ebene noch nicht erreicht.
Zwar wird die Neutralität in Meinungsumfragen von einer grossen Mehrheit des Volkes befürwortet, was auch mit den diffusen Vorstellungen von Neutralität, diesem «Gespenst namens Neutrum» (Paul Nizon), zusammenhängen mag.5 Man könnte diese Vorstellungen so zum Ausdruck bringen: «Wir sind erstens neutral, weil wir einfach neutral sind. Und wir sind zweitens einfach neutral, weil wir schon immer neutral waren. Und wir waren drittens schon immer neutral, weil sich die Neutralität als Mittel zur Erhaltung unserer Sicherheit immer wieder bewährt hat.»6 Vor dem Hintergrund der Brutalität des russischen Angriffs und des unermesslichen Leids der betroffenen Bevölkerung in der Ukraine, aber auch angesichts der unübersichtlichen und chaotischen Weltunordnung und der Zunahme der demokratiefeindlichen Tendenzen in den westlichen Staaten wird jedoch zunehmend die Frage ins Zentrum gerückt, ob denn die überlieferte Neutralität mit ihrem Gleichbehandlungsgebot von angreifendem und angegriffenem Staat heute noch gerechtfertigt, ja zu verantworten sei. Auch im Ausland wird die Neutralität immer weniger verstanden. Als Beispiel sei auf die wenig schmeichelhafte Diagnose des US-amerikanischen Botschafters Scott Miller hingewiesen, der als Diplomat ungewohnt undiplomatisch festhielt, die NATO sei «gewissermassen ein Donut - und die Schweiz das Loch in der Mitte. Sie profitiert von der Zusammenarbeit mit der Allianz. Es ist im Interesse aller, dass die Schweiz so eng wie möglich mit ihren europäischen Verbündeten kooperiert, etwa im grenzüberschreitenden Training.»7
Die Sicherheitspolitik der Schweiz und ihre Neutralität beschäftigen mich seit Langem. In einem kurzen, persönlich geprägten Rückblick möchte ich auf einige Etappen seit den 1990er-Jahren hinweisen.8
Sicherheitsaussenpolitik war lange kein Thema - die Neutralität und das Konzept der «Verteidigung ab Landesgrenze» schienen diese Kategorie obsolet zu machen. In militärischen Kursen und Übungen grosser Verbände wunderte ich mich, dass die Armee ihre Operationen stets ohne Blick auf die uns umgebende NATO plante und führte. Vom Schutzschild der NATO war kaum die Rede. Diskutiert wurde in höheren Stäben, inwieweit es die Neutralität allenfalls zuliesse, einen Gegner bereits jenseits der Landesgrenze zu bekämpfen, wenn es für den Verteidigungsauftrag als unerlässlich erachtet wurde. Es schien mir, als ob der Geist der Neutralität schon den blossen Gedanken an eine Verteidigung im Verbund mit europäischen Nachbarstaaten verbieten würde. Diese Fixierung auf eine fragwürdige Neutralität und eine erst recht fragwürdige autonome Verteidigung bildete für mich den ersten Anlass, die Neutralität in rechtlicher und politischer Hinsicht zu hinterfragen.
Der Sicherheitspolitik im internationalen Umfeld widmete ich mich an der Universität Basel im Rahmen einer Ringvorlesung, die ich zusammen mit dem damaligen Staatssekretär Jakob Kellenberger 1994/95 durchführte.9 Die Herausforderung einer künftigen Verteidigung umriss ich wie folgt:10 Entweder will sich die Schweiz weiterhin auf eine selbstständige militärische Verteidigung abstützen; dann müsste sie nicht nur bereit sein, die (gewaltig wachsenden) Kosten für die erforderliche «Nachrüstung» aufzubringen, sondern es müsste auch aufgezeigt werden können, wie eine glaubwürdige autonome Verteidigungsfähigkeit überhaupt erreicht werden kann. Oder die Schweiz sucht die internationale Kooperation und ist bereit, Bindungen einzugehen, die zu einer Integration in gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungsbemühungen führen (EU, NATO). Ich plädierte für einen offenen Dialog über unsere Sicherheit sowie für einen Beitrag der Schweiz an die europäische Sicherheit, um auch von den Sicherheitsanstrengungen anderer befreundeter Staaten und Organisationen zu profitieren.11
In den frühen 1990er-Jahren wurde ich in eine Studiengruppe des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) unter dem Vorsitz von Botschafter Mathias Krafft berufen, welche sich einer zeitgemässen Neutralitätspolitik widmete und empfahl, die Neutralität sei auf ihren militärischen Kern zu reduzieren, um so der Schweiz mehr aussenpolitischen Handlungsspielraum zu verschaffen. Eine Aufgabe der Neutralität sei dann denkbar, ja geboten, wenn die Sicherheit der Schweiz durch künftige gemeinsame Sicherheitsstrukturen in Europa besser gewährleistet werde als durch Abseitsstehen. Der Schlussbericht «Schweizerische Neutralität auf dem Prüfstand - Schweizerische Aussenpolitik zwischen Kontinuität und Wandel»12 hat weitgehend Aufnahme in den Neutralitätsbericht 1993 des Bundesrats gefunden. Seither hat mich die Neutralität nicht mehr losgelassen. In zahlreichen Vorträgen und Publikationen13 wies ich darauf hin, dass wir auf Sicherheit in Europa angewiesen sind. Ich plädierte für ein zeitgemässes Neutralitätsverständnis, für eine entmythologisierte Neutralität im Dienst der Sicherheit des Landes und ausgerichtet auf die aussenpolitischen Ziele der Bundesverfassung.14
Im Sicherheitsbericht 2000 stellte auch der Bundesrat realistisch fest, das...
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