Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In dem beruhigenden Wissen, dass Mortlock über meinen Patienten wachen würde, suchte ich die Kleidung zusammen, die ich an Deck brauchte, und kleidete mich, bevor ich mich in die ungestüme Wildnis aus Wind und Wellen wagte, in so viele Lagen wie tunlich. Gerade war ich dabei, meinen Mantel zuzuknöpfen, als ein Blitz über mein Kabinenfenster flackerte. Ich wartete auf die verzögerte Ankunft des Donnergrollens, aber die Geräusche des Schiffes mussten sie wohl überdeckt haben.
»Immer blitzt es«, murmelte ich vor mich hin, als läge in diesen Worten irgendeine tiefe Wahrheit verborgen.
Wie weit nördlich wir es bereits genau geschafft hatten, war weder professionell meine Angelegenheit, noch hatte ich privat daran Interesse. Der letzte feste Bezugspunkt, den ich in meiner Erinnerung notiert hatte, war unser Aufenthalt in Bergen, wo wir unsere Vorräte aufgestockt hatten, aber seitdem waren wir weitere zehn Tage die norwegische Küste entlanggesegelt und hatten uns dabei alle vierundzwanzig Stunden zwischen vierzig und sechzig Meilen weiter Richtung Norden bewegt. Unser Kurs war jedoch selten geradlinig, da uns der Wind vom nördlichen Polarkreis entgegenwehte und Captain Van Vught daher gezwungen war, die Strecke stattdessen in eine mühsame Zickzackroute aufzuteilen.
Die etwa ersten zwanzig Male bemerkte ich die dafür nötigen Veränderungen im Steuerkurs und in der Neigung des Schiffes noch: Ihnen ging stets ein aufgeregtes Durcheinander aus Rufen und Schritten über meiner Kabine voraus, während die Segel neu ausgerichtet wurden. Aber schließlich - wie all die Rhythmen und Routinen des maritimen Lebens - sanken auch diese Störgeräusche unter die Schwelle meiner bewussten Wahrnehmung, es sei denn, sie führten dazu, dass ich mein Gleichgewicht verlor oder eine Kerze auf meinem Schreibtisch umstieß.
Dass wir in der Tat weit nördlich von Bergen waren - vielleicht vier- oder fünfhundert Meilen -, wurde mir reichlich klar, als ich langsam die Leiter (Treppe zur Kajüte, sollte ich sagen) hinaufstieg, die mich bis nach ganz oben aufs Achterdeck führte. Der schneidende Wind traf mich mit einer unpersönlichen Bösartigkeit, die mit jedem Schritt eskalierte, bis seine gesamte grausame Gewalt meinen ganzen Körper erfasst hatte.
Die Planken waren vereist. Das Steuerrad war näher am Heck als die Leiter, also musste ich mich auf dem Weg dorthin den Bemühungen des Windes widersetzen, mich schlitternd über das Achterdeck zu schieben. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich jedoch bereits gelernt, den stabilen, breitbeinigen Stand der älteren Schiffskräfte nachzuahmen, nicht nur, weil dies als angewohnte Haltung dem Fortkommen auf einem schaukelnden, rutschigen Deck förderlich war, sondern auch, weil es gegen Seekrankheit half, zu der ich bereits einen ausgeprägten Hang bewiesen hatte. Die Männer hatte es sehr amüsiert, dass von all den Leiden, die einen befallen konnten, ich als Chirurg ausgerechnet mit der einen Krankheit gestraft war, für die es kein anderes Heilmittel gab als die Zeit.
Im peitschenden Wind machte ich mich auf den mühsamen Weg über das Achterdeck. Aus der Ferne konnte ich am Steuerrad drei Männer eng beisammenstehen sehen. Einer von ihnen musste der Kapitän sein, der andere Topolsky (kein anderer Mann hatte seine Statur), aber der dritte war nicht mit solch Leichtigkeit auszumachen. Milady Cossile würde es nicht sein, dachte ich, auch keiner der höheren Offiziere, somit blieb - da ich Ramos logisch ausschließen konnte - nur noch einer der zwei Männer übrig, die Topolsky mit an Bord gebracht hatte: Monsieur Dupin oder Herr Brucker, die von ihrer Statur beide gleichermaßen infrage gekommen wären. Ich führte meine vorsichtige Annäherung über Deck fort, ließ dabei meinen Blick kurz die Segel und die Takelage emporsteigen und dann in die zölestischen Tiefen dahinter tauchen. Es war zehn Uhr nachts, der Himmel wolkenlos, ruhig und völlig durchsichtig. Der Polarstern saß weit über uns im Gestirn, und ein voller Mond tauchte das Schiff in ein schimmerndes geisterhaftes Blau, durchbrochen nur von winzigen Pfützen aus Orange vom Licht eines Kohlebeckens oder einer Laterne oder einer wackelnden Pfeife, die in hohler Hand vor einem Mund schwebte.
Backbord erstreckte sich eine ungeheuerliche Wand aus dunklem, schaumgekröntem Wasser bis an den Horizont. Steuerbord, zum Osten hin, ragte eine durchgehende Steilwand aus Klippen in die Höhe, zerklüftet und karg, darunter ein schmaler Strich aus schaumiger Brandung. Wir waren etwa eine Meile von diesen Klippen entfernt und segelten schon an ihnen entlang - soweit es der Zickzackkurs des Schiffes zugelassen hatte -, seit wir Bergen verlassen hatten.
Hin und wieder hatte eine Bucht oder eine Insel die Monotonie unterbrochen, aber der Gesamteindruck war der einer trostlosen Wiederholung des immer gleichen Musters, wie eine Rolle Tapetenpapier, die zu einem durchgehenden, ermüdenden Streifen gestaltet wurde. Ich fragte mich, wie sich auch der leidenschaftlichste Navigator jetzt noch unserer genauen Position sicher sein konnte. Van Vught hatte mir in den Tagen unmittelbar nach Bergen seine Karten gezeigt. Sie begannen recht akkurat, fast jedes winzige Detail der Küste war eingezeichnet und benannt, wurden jedoch mit steigendem Breitengrad zunehmend weniger detailliert. Vor einigen Tagen hatte er schließlich damit aufgehört, Inseln und Buchten zu identifizieren, verließ sich stattdessen auf Bemessungen der Sterne und konsultierte Chronometer und Tabellen. Das klingt einfacher, als es ist, wenn diese Leistung zudem auf einem in rauem Gewässer befindlichen Schiff zu erbringen ist, und dies oft auch noch unter bewölktem Himmel.
Als ich in Hörweite der drei Männer kam, konnte ich Dupin schließlich als das dritte Mitglied der Gruppe identifizieren. Van Vught hatte seine Hände auf dem Steuerrad, Topolsky stand direkt neben ihm; die verwitterten Gesichtszüge des Kapitäns waren von der schwachen Glut seiner Pfeife beleuchtet. Hätte Rembrandt ihn gemalt, hätte man ihn leicht für irgendeinen stoischen biblischen Patriarch unglaublichen und unwahrscheinlichen Alters halten können. Der Kapitän war etwa fünfzig, sah aber älter aus, wie es Männer, die ihr Leben auf See verbracht hatten, oft taten. Er hatte einen Vollbart und einen prominenten Schnauzer, der wie ein Felsvorsprung aus seinem Gesicht ragte, das Haar steif wie die Borsten eines alten und verlässlichen Besens.
»Wie geht es Coronel Ramos, Doktor Coade? Master Topolsky sagt mir, Sie hätten ihm ein Loch in den Kopf gebohrt?«
Das Englisch des Kapitäns war fehlerfrei, aber noch immer klangen seine S-Laute ganz weich, »es« wurde »ezh«, »Ramos« wurde »Ramozh« und so fort.
»Eine einfache Trepanation, die den gewünschten Ausgang haben dürfte.«
»Er hat sich drauf gestürzt wie ein Mann, der unbedingt seine Ausgaben rechtfertigen will«, beschwerte sich Topolsky beim Kapitän.
»Ich bin sicher, wir können uns auf die Einschätzung des Doktors verlassen.«
»Das werde ich mit Freude tun - vorausgesetzt, er besteht nicht darauf, auch dem Rest von uns Löcher in den Kopf zu bohren.«
Topolsky war um einiges kürzer und breiter als der Kapitän. »Meine körperliche Verfassung ist die eines kosakischen Ringers«, hatte er mir recht bald nach unserer Bekanntmachung versichert, als ich ihm gegenüber bemerkt hatte, wie schnell er allein davon außer Atem gerate, die Treppen zur Kajüte auf- oder abzusteigen. Ja, dachte ich: aber nur wenn dieser hypothetische Ringer ein Jahr damit verbracht hätte, sich gigantischen Festmahlen und heroischen Orgien der Untätigkeit hinzugeben. Vielleicht war sein Blut in der Tat kosakisch, allerdings zeigte Topolsky stets eine solche Neigung zum Schwadronieren und zur Irreführung, dass ich keine seiner Behauptungen ungeprüft als Tatsache akzeptierte. Er sprach sehr gut Englisch und Französisch und hatte offensichtlich Zeit in London und Paris verbracht. Russisch sprach er nur, um zu fluchen, aber oft ließ er beiläufig Anspielungen auf seine Nähe zum Hof des Zaren fallen. »Ah, ja, wie Katharina selbst mir einmal anvertraute .« oder »Das erinnert mich an ein exquisites objet d'art, das mir einst Peter höchstpersönlich zeigte, in einem Flügel der Eremitage .« und dergleichen. Versuchte man jedoch, ihm genauere Informationen zu entlocken oder ihn auf irgendetwas davon festzunageln - etwa durch die Frage, wann er das letzte Mal in Russland gewesen sei oder was ihn veranlasst habe, seinen Ruhm anderswo zu suchen -, dann wurde dem Thema schnell und gekonnt ausgewichen.
Doch in einem Punkte war ich mir sicher: Er war wohlhabend genug, diese Expedition zu finanzieren, aber nicht so wohlhabend oder großzügig mit seinem Geld, dies freigiebig zu tun. Das Schiff war der Definition nach fünften Ranges und wurde in einer gegenseitigen Übereinkunft zwischen Van Vught und Topolsky mit einer sehr kleinen Besatzung betrieben, sodass die Männer dem ständigen Risiko ausgesetzt waren, sich zu verausgaben. Bei den Ausgaben war auf zahllose knauserige Weisen gespart worden, angefangen bei der Verpflegung mit der billigsten Sorte gesalzenem Rindfleisch über das gebrauchte Segeltuch bis hin zu meiner chirurgischen Ausrüstung. Auch ich selbst war eine dieser kostensparenden Maßnahmen: ein ausgebildeter Chirurg zwar, aber keiner von hohem Ansehen, keiner also, der es sich leisten konnte, die Bedingungen seiner Anstellung zu diktieren. Ich war, in anderen Worten, in der Beschaffung so günstig wie das Rindfleisch gewesen.
»Wir haben unseren nördlichen Kurs wiederaufgenommen?«, fragte ich.
Van Vught...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.