Kapitel 3
»Hast du heute Abend schon etwas vor?«, begrüßte mich Matthias einige Tage später, als er nach der Arbeit nach Hause kam.
»Ja, das hier.« Genervt blickte ich von dem Stapel Klassenarbeiten auf, den ich bis morgen endlich fertig korrigieren wollte. Sosehr ich meinen Job als Grundschullehrerin auch liebte - die Korrekturen und ich würden wohl niemals Freunde werden.
»Ich denke, das muss kurz warten«, meinte Matthias und gab mir einen Kuss.
»Wieso?« Überrascht blickte ich auf und zuppelte meine Jogginghose zurecht. Sobald ich zu Hause ankam, wurden Jeans für mich zum unerträglichen Korsett, und ich schlüpfte sofort in mein hässliches, aber ultrabequemes »Home«-Outfit.
»Ich werde dich heute Abend entführen.«
»Habe ich etwas verpasst?« Stirnrunzelnd blickte ich meinen Mann an. Hatten wir heute Hochzeitstag? Nein, definitiv nicht.
»Lass dich überraschen. Und zieh dir was Seriöses an.« Er blickte auf die Uhr. »In einer Stunde müssen wir los.«
»Na dann«, sagte ich und seufzte. Ich konnte Überraschungen eigentlich nicht ausstehen, und das wusste Matthias auch.
Als wir eine Stunde später im Auto saßen, wollte Matthias mir immer noch nicht verraten, wohin die Fahrt ging. Ich löcherte ihn mit Fragen, doch er zwinkerte mir nur zu. Schleichend bewegten wir uns im Feierabendverkehr aus der Stadt heraus und fuhren in Richtung Autobahn.
»Willst du mir ein neues Restaurant zeigen?«, fragte ich weiter.
Matthias hob nur die Schultern und grinste. Routiniert fädelte er sich in den Verkehr auf der Autobahn ein und beschleunigte.
»Jetzt sag doch endlich, wo wir hinfahren!«, nörgelte ich, als wir nach einiger Zeit auf die A7 in Richtung Hannover wechselten.
»Fahren wir zu meiner Mutter?« Ich kannte die Strecke hier gut, denn sie führte direkt zu meiner alten Heimat.
Matthias schüttelte den Kopf.
»Hast du noch eine Hausbesichtigung vereinbart?«, hakte ich nach.
»Nicht direkt«, gab Matthias geheimnisvoll zurück.
»Oh Mann, nun sag schon! Ich möchte zumindest wissen, wann wir da sind. Ich muss aufs Klo. Gibt es dort ein Klo? Weil wenn nicht, dann müssen wir vorher irgendwo anhalten.«
»Du bist ja schlimmer als ein kleines Kind! Da gibt es bestimmt eine Toilette.«
Ich kniff die Beine zusammen und ermahnte meine Blase, Ruhe zu geben. Sobald ich aufgeregt war, musste ich pausenlos zum Klo rennen. Das hatte auf unserer Hochzeit dazu geführt, dass ich mit meinem riesigen Tüllkleid kurz vor der Trauung noch in die Kirchentoilette gewuchtet werden musste. Beinahe wäre ich dadurch zu spät zu meiner eigenen Hochzeit gekommen.
»Das Ziel scheint in der Lüneburger Heide zu liegen«, kommentierte ich unsere Fahrt. Da Matthias sich weiter in Schweigen hüllte, klappte ich aus Langweile die Sonnenblende herunter und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah tatsächlich so erschöpft aus, wie ich mich fühlte: Unter meinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, und mit meinem fahlen Teint hätte ich überzeugend in einer Geisterbahn auftreten können. Aus Sorge wegen der Immobiliensache und der Korrekturen, die ich immer wieder vor mir herschob, hatte ich eine schlaflose Nacht gehabt und war heute Morgen kaum aus dem Bett gekommen. Beim Blick in den Spiegel bereute ich es, dass ich aus Zeitknappheit auf das Schminken verzichtet hatte. Hoffentlich sieht mich so niemand, dachte ich.
Als das nächste blaue Autobahnschild vor uns auftauchte, musste ich zwei Mal hinschauen, ehe ich es realisierte.
»Nein«, murmelte ich und verschluckte mich fast.
»Wie bitte?«, fragte Matthias.
»Nichts.« Ich räusperte mich und versuchte, den Kloß in meinem Hals zu verdrängen, der sich da plötzlich breitgemacht hatte. Anscheinend hatte die Zeit nichts verändert. Es fühlte sich immer noch genauso schlimm an wie vor fünf Jahren.
»So«, meinte Matthias und setzte plötzlich den Blinker, »gleich sind wir da.«
Mir blieb beinahe das Herz stehen, als er tatsächlich die Ausfahrt »Bienenbeek« nahm.
»Bienen. Bienenbeek?«, stotterte ich und schaute Matthias verwundert an. »Was zum Teufel . machen wir da?«
»Kennst du den Ort?«
Einen winzigen Moment zögerte ich. Sollte ich es endlich sagen?
»Ich . nein«, schoss es aus mir heraus, ehe ich weiter nachdenken konnte. Es war besser so. Das Ganze war Vergangenheit, und ich hatte aus gutem Grund nicht mit Matthias darüber geredet. Warum sollte ich jetzt schlafende Hunde wecken?
»Geht's dir gut? Du siehst so blass aus«, sagte Matthias, als wir uns über die Landstraße dem Ortseingang näherten.
»Ich wundere mich nur, was du mit mir vorhast«, log ich und versuchte, so unbeteiligt wie möglich aus dem Fenster zu schauen. Am Autofenster zog eine wunderschöne Heidelandschaft an uns vorbei, ein Fachwerkhaus reihte sich an das nächste. Ab und zu sah man ein Schild am Straßenrand, das verkündete, dass noch eine Ferienwohnung frei war. Bienenbeek war nicht zu Unrecht ein sehr beliebter Ort bei Touristen. Zu jeder Jahreszeit konnte man hier auf wunderschönen Strecken durch die Heide wandern, und in den urigen Gasthöfen gab es unvergleichlich leckere Heidekartoffeln und Schnitzel. Meine Hoffnung, dass wir nur durch Bienenbeek hindurchfahren würden, zersprang jedoch just im nächsten Moment.
Matthias parkte den Wagen am Feldrand und deutete hinaus. »Darf ich vorstellen? Das könnte unser neues Zuhause sein!«
Ich blickte ungläubig aus dem Autofenster und war gleichermaßen verzückt wie entsetzt. Vor uns lag ein riesiger Acker, der zur linken Seite an ein Wäldchen grenzte. Zu den anderen Seiten sah man nur unberührte Heidelandschaft. Bis auf ein einsames altes Fachwerkhaus, das direkt am Waldrand lag, gab es keine Nachbarn. Rosamunde Pilcher hätte sich keine schönere Kulisse ausdenken können. »Das . das ist ja absolut genial.«
»Dreißig Grundstücke werden hier vergeben.« Matthias schaute mich verheißungsvoll an. »Wäre das nicht traumhaft, wenn wir hier ein Haus bauen könnten?« Er gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Wie bist du denn auf diese Ecke hier gestoßen?« Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich nach fünf Jahren wieder einen Fuß auf Bienenbeeker Erde gesetzt hatte.
»Ein Arbeitskollege hat mir den Tipp gegeben. Daraufhin habe ich sofort bei der Bienenbeeker Gemeinde angerufen und mir alle wichtigen Infos eingeholt.«
Ich war sprachlos angesichts des unerwarteten Engagements von Matthias. Er schien jedoch keine Antwort von mir zu erwarten, denn er nahm eilig meine Hand und zog mich zurück zum Auto.
»Los, wir dürfen keine Zeit verlieren!«
»Was?«
»Steig ein und lass dich überraschen!«
Dass dies die letzte Möglichkeit gewesen wäre, unbeschadet aus der Sache herauszukommen, ahnte ich ja nicht. Ansonsten hätte ich Matthias wohl auf der Stelle befohlen, zurück nach Hause zu fahren.
»So.« Kurze Zeit später bog Matthias auf einen kleinen, mit Kopfsteinpflaster belegten Parkplatz ein. Das Auto schaukelte dabei so stark hin und her, dass ich mich am Haltegriff festhalten musste.
»Und was wollen wir hier?«, fragte ich. Natürlich erkannte ich, dass wir uns im Ortskern von Bienenbeek befanden. Zu unserer Rechten lag die schnuckelige kleine Kirche, daneben der Hofladen von Bauer Menke, und etwas dahinter konnte man das Rathaus von Bienenbeek sehen, ein unscheinbares Verwaltungsgebäude aus den Siebzigerjahren.
»Du hast mir doch neulich vorgeworfen, dass ich mich nicht genug engagiere«, begann Matthias und bedeutete mir, aus dem Auto zu steigen. »Also habe ich nicht nur dieses Neubaugebiet ausfindig gemacht, sondern uns auch zur Infoveranstaltung angemeldet, die in exakt sieben Minuten im Bienenbeeker Rathaus stattfinden wird!«
»Oh, äh, wow. Du bist ja echt klasse«, stammelte ich.
Mir fehlten die Worte. Nicht nur, weil Matthias so viel Aktionismus das letzte Mal bei seinem Heiratsantrag gezeigt hatte. Sondern auch, weil ich mich mit jeder Minute unwohler fühlte. Verstohlen blickte ich mich um, obwohl ich wusste, wie idiotisch das war. Als ob ich ausgerechnet hier sofort auf ihn treffen würde.
»Ein bisschen mehr Enthusiasmus hätte ich jetzt schon erwartet«, meinte Matthias und zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls sollten wir reingehen. Ich kann mir vorstellen, dass die Bienenbeeker Wert auf Pünktlichkeit legen.«
»Guten Abend, liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Gemeinderatsmitglieder, liebe Gäste«, eröffnete der Bürgermeister, ein feister älterer Herr, die Sitzung.
Wir hatten gerade noch einen Platz in der letzten Reihe ergattert, denn der Sitzungssaal war brechend voll. Mein Herz klopfte, als ich durch die Reihen blickte. Ich sah viele junge Paare, einige davon mit Babys auf dem Schoß. Aber auch einige ältere Leute waren gekommen, insgesamt eine bunte Mischung - und zum Glück kein bekanntes Gesicht.
»Sie erwarten sicherlich mit Spannung die aktuellen Informationen zum Neubaugebiet >Zur Heidschnucke<«, sprach der Bürgermeister ins Mikrofon und öffnete eine PowerPoint-Präsentation in grellen Farben. Ich kaute nervös an meiner Unterlippe herum. Der Bürgermeister - der übrigens Herr Clausen hieß und ein viel zu enges Sakko trug, das wie das Verwaltungsgebäude wahrscheinlich aus den Achtzigern stammte - beschrieb zunächst umständlich das bereits abgeschlossene Verfahren der Baugenehmigung.
»Ziel des Neubaugebietes ist es, dass junge Paare und Familien günstig Eigentum erwerben können«, erklärte er langatmig.
Matthias nahm meine Hand und schaute mich freudig an, während der Bürgermeister weiter vor sich hin schwafelte. Mein Herz...