Schweitzer Fachinformationen
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Salzburg, 1937
»Was für eine schöne Leiche!«
Oscar Breitensee kann sich seine Anmerkung nicht verkneifen, als er den toten Mann betrachtet, der da vor ihm aufgebahrt im Obduktionsraum liegt. Kurz ist er richtig stolz auf sich, denn es scheint, als würde er sein altes Ich wiedergewinnen: schlagfertig, humorvoll und unerschütterlich. Doch genau in diesem Augenblick schiebt sich wieder das Bild der Kinderleiche in seine Gedanken hinein, und Breitensee hat Mühe, nicht ins Wanken zu geraten. August Friedhelm, der Gerichtsmediziner mit dem blonden Wuschelhaar, bemerkt seine Betroffenheit zum Glück nicht.
»Sie haben recht, eigentlich wirkt Pöcksteiner ganz friedlich«, stimmt er zu. »Haben Sie irgendetwas Außergewöhnliches am Tatort entdeckt?«
Breitensee schüttelt den Kopf, während er das bleiche Antlitz des Toten betrachtet. »Nein«, sagt er. »Nur ein paar vertrocknete Blutspuren.« Und dann, nach einem Moment der Stille: »Was hat die Autopsie ergeben?«
»Hans Pöcksteiner starb an einem Messerstich, der ihn im Zwerchfell verwundete«, antwortet Friedhelm.
»So einfach?«, entgegnet Breitensee erstaunt.
Der Gerichtsmediziner legt nachdenklich den Kopf schräg. »Ich würde nicht sagen: so einfach, sondern: gewusst wie. Wenn man die richtige Stelle trifft, kann es schon sein, dass der Verwundete einfach ausblutet. Vermutlich hätte man Pöcksteiner retten können, wenn man ihm früh genug geholfen hätte«, erklärt er dann.
Breitensees Blick gleitet über das schneewittchenhafte Gesicht, tastet die bleichen, edel wirkenden Züge mit den hohen Wangenknochen ab. Weiblich wirkt er, dieser Hans Pöcksteiner. Dichte Wimpern überschatten die Wangen, und der Mund ist voll und sinnlich; fast sieht es so aus, als würde der Tote schmollen, sich ärgern über sein viel zu frühes Sterben.
»Schade, so ein junger, schöner Mensch«, sagt Friedhelm, der Breitensees Gedanken zu lesen scheint. Der zuckt kurz zusammen, denn bei dem Wort »jung« fällt ihm sofort wieder das Gesicht des toten Mädchens ein, doch er versucht, die Erinnerungen zu ignorieren, und überlegt. Wer hat diesen Schauspieler auf dem Gewissen - und warum? Weder war Hans Pöcksteiner reich, noch war er besonders berühmt, und politisch aktiv war er laut Wutz' bisheriger Recherche auch nicht.
»Sind wir fertig hier?«
Friedhelms leicht raue und für den kleinen Körper viel zu tiefe Stimme reißt Breitensee in die Gegenwart zurück. Er nickt.
»Danke, ja!«, sagt er und reicht dem Kollegen kurz und fest die Hand. »Auf bald, Herr Friedhelm.«
»Auf bald.«
Oscar Breitensee schwitzt ein wenig, als er die Gerichtsmedizin verlässt. Der Wind ist heiß und schwül, und die Hitze staut sich zwischen Salzburgs Gassen. Nun gilt es erst einmal, die nächsten Angehörigen des Ermordeten genauer zu befragen. Wie Wutz inzwischen herausgefunden hat, lebte der gerade dreiundzwanzigjährige Hans Pöcksteiner bis vor Kurzem noch bei seiner Mutter, die in einem kleinen Dorf nahe der Stadt einen alten Gutshof besitzt.
Breitensee steigt in sein Automobil, startet den Motor, der ein leises Tuckern von sich gibt, und tritt auf das Gaspedal. Schon ziehen Häuserfassaden an ihm vorbei, die nach und nach einer bergigen Umgebung weichen. Die Fahrt verläuft unaufgeregt. Breitensee summt »In einem wilden Grunde«, ein altes Lied aus seiner Kindheit, wippt mit dem Kopf, während er das Automobil die staubige Fahrbahn entlanglenkt. Dabei blickt er gedankenverloren aus dem Fenster. Ein Gewirr von Bäumen ist zu sehen, hinter denen sich eine hügelige Landschaft erstreckt; Wege kreuzen und verbinden sich, Wälder teilen sich säuberlich, lassen kleine Wege hindurchschimmern, und ein angenehmer sommerlicher Friede liegt in der Luft. Beinahe ist alles wie immer. Beinahe. Breitensee schluckt und summt etwas lauter als zuvor, und schließlich beginnt er zu singen: »In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad.«
Nach einer längeren Fahrt ist es so weit: Breitensee erreicht Kleinköstendorf. Nomen est omen, denkt er, als er aussteigt. Die Ortschaft ist tatsächlich wie ihr Name: winzig. Alles um ihn herum scheint zu träumen; wie schlafend liegen die Häuser und Höfe auf den sanft ansteigenden Hängen; die Blätter der Bäume sind von einem goldigen Grün, wie man es nur von jenen satten Sommertagen kennt. Dass er ein übergroßes Bedürfnis hat, lebendige Gesichter zu sehen, jetzt, nachdem er eine Leiche sehen musste, denkt Breitensee, während er in einen leicht staubigen Weg einbiegt. Doch es begegnet ihm niemand. Wie verlassen liegt die Ortschaft da.
Breitensee spaziert über die Landstraße hin zum Zentrum Kleinköstendorfs und sieht sich um. Es kommt ihm so vor, als wäre alles Lebendige vor der Hitze in den Schatten geflüchtet. Breitensee wandert den Hauptplatz entlang, um den sich das Dorf gruppiert, kommt an einer Kirche vorbei, die im bäuerlichen Barock gehalten ist. Nicht sehr aufregend, das Gebäude, denkt er und geht weiter. Die Heckenwege wirken verschwiegen, und der hochgewölbte Himmel über ihm wirkt ohne Grenzen. Wie eine Riesenglocke überspannt er die Äcker und Felder, die am Horizont zu sehen sind.
Schließlich erreicht Breitensee den Hof der Mutter des Opfers, Barbara Pöcksteiner. Die obere Hälfte des Tores steht offen, lässt ein wenig Licht und Luft in die Scheune hinein, an der er vorbeigeht, direkt auf das kleine Haus in der Mitte des Gartens zu. Plötzlich erscheint eine Katze auf dem Gartenweg und läuft ihm trippelnd entgegen. Breitensee beugt sich nieder. Sehr langsam streckt er seine Hand aus. Die Katze tapst ein paar Schritte zurück und gibt einen maunzenden Laut von sich. Er lächelt.
Einige Zeit vergeht, in der nichts geschieht, außer dass etwas Wind aufkommt. Breitensee weiß, was zu tun ist: nichts. Er verharrt reglos. Schließlich nähert sich die Katze mit vorsichtigen Schritten. Sie stupst seinen Finger an und hustet kurz. Breitensee spürt eine weiche, leicht feuchte Nase, spürt den Atem des Tieres an seinen Kuppen, und sein Lächeln vertieft sich. Die Katze schnurrt und schmiegt sich sanft in seine hohle Hand, die er über ihrem kleinen Kopf wölbt wie eine Schale. In dem Moment sind Schritte zu hören. Breitensee hebt den Blick. Eine Frau Mitte sechzig kommt ihm rasch entgegen. Er erhebt sich.
»Frau Barbara Pöcksteiner?«, fragt er, während er die Hand ausstreckt.
»Ja.« Frau Pöcksteiner greift nach seiner Hand.
Kränklich wie eine Mondsichel sieht sie aus, denkt Breitensee, die Mutter des Opfers betrachtend, und er empfindet einen Moment lang eine seltsame Zärtlichkeit für sie.
»Grüß Gott«, sagt die Frau, deren Hand zart und leicht wie eine Feder in seiner liegt, und dann, mit einem matten Lächeln: »Ich sehe, Sie haben unsere kleine Katze Perchta schon kennengelernt.«
Perchta, ein seltsamer Name für ein Tier, denkt Breitensee, doch er nickt nur. Dann folgt er der Frau in den Hof hinein, die das Tor zur einfachen Stube aufschließt. Mit einem leichten Knarzen springt es auf.
»Bitte, kommen Sie doch«, sagt Frau Pöcksteiner.
Breitensee tritt ins Innere, geht einen engen Flur entlang und weiter in die Stube. Offenbar spielt sich hier alles kleinbäuerliche Leben ab, denkt er, als er seinen Blick durch den schlichten Raum gleiten lässt. Dieser scheint Wohn-, Aufenthalts- und Essraum gleichzeitig zu sein. Die Luft ist schwer vom Rauch einer Wachskerze, und in der Ecke steht ein Kamin. Schmucklos und einfach wirkt alles, fast als wäre die Zeit stehen geblieben.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Frau Pöcksteiner deutet mit leicht zitternden Händen auf einen Stuhl, der neben einem kleinen runden Tisch steht, und Breitensee setzt sich. Verhangen ist die Stube von grob gearbeiteten Vorhängen, die dem Raum etwas Gedämpftes geben, so, als befände man sich im Inneren eines Organs, denkt er. Rasch versucht Breitensee, dieses komische Bild loszuwerden.
»Es tut mir sehr leid, dass -«, beginnt er, doch Barbara Pöcksteiner unterbricht ihn auch schon.
»Der Tod trifft jeden«, murmelt sie, sieht dabei ins Leere und presst den Mund zu einem Strich zusammen.
Breitensee schweigt kurz. »Sie wissen, dass Ihr Sohn ermordet wurde?«, fragt er dann.
»Ja«, sagt Frau Pöcksteiner. »Ausgerechnet jetzt, wo er endlich einmal ein fixes Engagement hatte.« Sie lacht bitter.
Seltsam, denkt Breitensee, Barbara Pöcksteiner wirkt sehr gefasst. Sie schaut einfach nur, schaut und schaut und kneift die Lippen zusammen.
»Das tut mir leid«, sagt er. Und dann: »Fällt Ihnen irgendjemand ein, der Ihrem Sohn schaden wollte oder will?«
»Ich .« Nun gerät die kleine Frau doch ins Stammeln. »Nein«, sagt sie tonlos. »Hans war ein braver Junge, den jeder mochte. Ein bisschen still vielleicht, und den Hof hier hat er halt nicht übernehmen wollen .«
Breitensee horcht auf. »Verstehe. Er wollte kein Bauer werden....
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