DREI
Es dauerte nur wenige Minuten, da hatten Kristina und Tim ihre gute Laune wiedergefunden. Sie flanierten gedankenverloren über das Autodeck, als Tim plötzlich stehen blieb und stur geradeaus schaute. »Sag mal, Tinchen. Ist das nicht der Typ, den wir am Freitag beim FC in der VIP-Lounge gesehen haben?«
Kristina löste sich von Tims Hand und verschränkte ungehalten die Arme vor der Brust. Man merkte ihr an, dass sie keine Lust auf weitere unliebsame Überraschungen hatte.
»Wo? Wen meinst du?«, fragte sie und verzog den Mund.
»Nicht böse sein, Süße. Ich kann ja auch nichts dafür. Da drüben. Der Typ neben dem fetten Audi. Das ist doch dieser Markus Richter oder wie der heißt. Was macht der denn hier?«
Kristina hatte den Mann und seinen wie geleckt aussehenden S6 inzwischen ebenfalls entdeckt. Richter öffnete gerade die Fahrertür, zupfte mit der linken Hand an seinem Hosenschritt und hielt mit der rechten sein Handy, in das er ohne Unterbrechung hineinsprach. Er trug eine dunkelgraue Anzughose und ein bordeauxfarbenes Hemd, auch heute weit geöffnet. Die aus dem Textilstück regelrecht herausschäumende Brustbehaarung musste er am Morgen eingeölt haben; zumindest schien es so, denn sie reflektierte die Strahlen der Sonne wie die Haut einer Ölsardine.
»Ja, das ist er. Richter. Aber der heißt nicht Markus, sondern Malte. Was der hier macht, ist mir allerdings vollkommen egal. Und wenn es krumme Geschäfte sein sollten. Ich weiß nur, dass ich heiraten und glücklich sein möchte«, sagte Kristina. »Davon werde ich mich von niemandem abbringen lassen. Auch nicht von Herrn Richter. Also vergessen wir ihn mal recht flott und denken ab jetzt nur noch an schöne Dinge.«
»So soll es sein«, erwiderte Tim. Er streichelte ihr mit dem Zeigefinger zärtlich über die Wange und ergänzte: »So, meine kleine Inselkönigin. Nun entführe ich Sie in den Salon zu einem Prosecco. Was halten Sie davon?«
Kristina lächelte und hakte sich bei Tim ein.
Im Salon angekommen, war es jedoch schon zu spät, um eine Bestellung aufzugeben. Die Stewards und Stewardessen hatten längst kassiert, und von der Brücke meldete sich über Lautsprecher Kapitän Jens Hilgersen: »Verehrte Fahrgäste. In wenigen Minuten erreichen wir Norderney. Wir bitten die Autofahrer zwecks Fahrscheinkontrolle zu ihren Fahrzeugen. Die anderen Passagiere bitten wir, das Schiff über die Brücke am Salon zu verlassen. Wir verabschieden uns und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt auf Norderney.«
In die Ansage des Kapitäns mischten sich augenblicklich die üblichen Geräusche von Aufbruchstimmung. Ein paar Kinder liefen aufgeregt umher, vorne an der Theke nahm ein etwas verschlafen dreinblickender pechschwarzer Border Collie noch rasch einen Schluck aus dem Wassernapf. Ein Rentnerehepaar half sich gegenseitig in die Sommerblousons, eine junge Frau wischte beim Aufstehen mit der umgehängten Handtasche ein Bierglas vom Tisch. Auch Kristina und Tim machten sich auf den Weg zurück zu ihrem BMW. Auf der Treppe zwischen Salon und Autodeck touchierte Kristina einen Mann.
»'tschuldigung«, sagte der dunkelhaarige Anzugträger mit breitem Oberlippenbart.
»Macht nichts, kein Problem«, gab Kristina lächelnd zurück, ohne ihm größere Beachtung zu schenken. »Es ist nichts passiert.« Dann lief sie weiter hinter Tim die Treppe rauf.
Wie immer hatte der Kapitän seine Durchsage mit einem großen zeitlichen Puffer vorgenommen. Die »Frisia IV« passierte gerade mal eben den Strandabschnitt in Höhe des Hochseilgartens, als Stefan Hergersberg auf dem Sonnendeck den Verschluss einer Bierdose aufriss, dass es zischte.
»Einer geht noch«, rief er seinem Kumpel Karl zu, der neben ihm saß. Der ein wenig kurz geratene Kegelbruder, der wohl aufgrund seiner Körperfülle »Jumbo« genannt wurde, griff nun ebenfalls in den Proviantkorb, öffnete seinerseits eine Bierdose und nahm einen großen Schluck. Da wollte sich Herbert Walz nicht lumpen lassen. Auch er langte noch einmal zu, trank gierig und quittierte die Erfrischung mit einem unüberhörbaren Ventilationsgeräusch über die oberen Atemwege, was ihm einen bösen Blick seiner Frau Trudi einbrachte.
Im fünften Jahr reisten Stefan, Jumbo und Herbert nun schon mit ihren Frauen von Dortmund nach Norderney, um dort eine Woche Party zu machen. Ausgangspunkt war ihr kleiner Kegelklub, mit dessen Hilfe sie die finanzielle Grundlage legten; nicht nur für eine gediegene Unterkunft, sondern auch für reichlich Gaumenschmaus, vor allem flüssiger Art.
Während Jumbo seine Bierdose nach dem zweiten kräftigen Schluck mit erstaunlicher Routine auf dem Oberbauch abstellte und dort problemlos ausbalancierte, fragte seine Lebensgefährtin Klara: »Was sind denn das für schmale Türme da hinten? Und was soll der weiße Rauch?«
»Mein Schatz, die einen sagen, das seien die Türme vom Blockheizkraftwerk.«
»Und was sagen die anderen?«
»Dass die Norderneyer es nun endgültig geschafft haben. Nun haben sie nicht nur ihren eigenen Schinken, sondern auch ihren eigenen Papst.«
Auf der Kapitänsbrücke wich die gute Laune derweil kompletter Ratlosigkeit. Steuermann Holger Rausch, ostfriesischer Seemann mit langjähriger Erfahrung, hatte bereits seit ein paar Minuten Ausschau gehalten und nicht glauben wollen, was er sah. Besser gesagt: was er nicht sah. Keine einzige Menschenseele im kompletten Hafenbereich zu erblicken, war ihm derart grotesk erschienen, dass er zunächst nicht gewagt hatte, Jens Hilgersen davon zu unterrichten. Jetzt, da Hilgersen seinerseits mitteilte, der Funkkontakt sowohl zur Insel als auch zum Festland sei abgebrochen, stemmte er die Hände in die Hüften und ging mit weichen Knien auf den Kapitän zu. »Jens, hier stimmt was nicht. Irgendetwas läuft schief. Und zwar ganz gewaltig.«
Hilgersen legte die Hand an die Stirn und ließ den Blick schweifen. »Holger, im Hafen ist kein Mensch. Schau dir das an. Drei Taxen, zwei mit geöffneten Fahrertüren. Und da vorne der Bus. Siehst du das?«
Rausch wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er hatte das Gefühl, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. »Ich habe das schon vor ein paar Minuten gesehen. Überall herumliegende Koffer, und niemand vom Norderneyer Servicepersonal vor Ort. Keine Touristen. Das ist vollkommen unnormal.«
Hilgersen versuchte erneut, Funkkontakt aufzunehmen. »Frisia IV, hier Frisia IV. Leute, macht uns keinen Kummer. Wo seid ihr? Wir haben keine Lust auf Geisterspielchen. Wir wollen Feierabend machen. Meldet euch endlich.«
Hilgersens Ruf verhallte ungehört. Kanal 16 war tot. Kein Muckser. Er suchte nach anderen Kanälen, doch ohne Erfolg. Noch nicht einmal ein Rauschen, das in dieser Situation wie ein Lebenszeichen gewirkt hätte, war zu vernehmen.
Rausch trat noch einen Schritt auf den Kapitän zu, sein Mobiltelefon in der Hand. »He, Jens. Auch das Handy funktioniert nicht. Kein Kontakt. Totenstille. Es kommt nichts an, und es geht nichts raus.«
Ein heftiges Klopfen am Fenster riss die beiden aus ihrer Schockstarre. Sie schauten auf. Zusammen mit einem Matrosen war Heidi Hansen auf der Brücke erschienen. Hilgersen und Rausch kannten Heidi schon seit vielen Jahren. Sie arbeitete auf Norderney als Grundschullehrerin und war sehr beliebt. Auch in der Kommunalpolitik hatte sie sich einen Namen als geradlinige und seriöse Ratsfrau gemacht, die selbst in kritischen Situationen stets die Ruhe behielt. Ihr Erscheinen hier bedeutete, dass Hilgersen und Rausch sich nichts einbildeten und auch nicht von einem bösen Traum fehlgeleitet wurden, das wurde ihnen in diesem Moment klar. Die bittere Realität hatte sie fest im Griff.
»Hier stimmt was nicht«, rief Heidi. »Schaut euch das an.« Sie zeigte auf den Platz vor dem Nationalpark-Haus, wo ein Personenwagen mit Norder Kennzeichen gegen einen Mauervorsprung geprallt war. Das musste mit hoher Geschwindigkeit geschehen sein. Mehrere Fahrräder hatte das Auto mitgeschleppt.
»Da laufen Öl und Benzin aus«, sagte Rausch. »Der Unfall kann erst vor wenigen Minuten passiert sein.«
Heidi ruderte mit den Armen, als wollte sie das von Holger Rausch Gesagte ins Reich des Absurden verbannen. »Jungs. Schaut doch mal genau hin. Zwischen Mauer und Frontschürze liegt ein Mensch. Ich müsste mich sehr irren, wenn es nicht so wäre. Und was da unter dem Auto abläuft, ist nicht nur Öl und Benzin, sondern auch .«
»Blut«, hauchte Rausch und blickte Hilgersen mit unübersehbarem Entsetzen in den Augen an.
Für Hilgersen, Rausch und die Mannschaft galt nun schlicht und ergreifend, die Ruhe zu bewahren, soweit dies angesichts der unfassbaren Situation überhaupt möglich war. Um Zeit zu gewinnen, drehte Hilgersen zunächst eine kleine Ehrenrunde an der Wattseite der Insel. Gleichzeitig teilte er den Passagieren über Lautsprecher mit, dass es an Land ein kleines technisches Problem mit der Fußgängerbrücke gebe - ein Defekt, der in wenigen Minuten behoben sei. Er riet ihnen, sich bis zum Anlegen der Fähre vielleicht noch mit einem Getränk zu versorgen oder an Deck den in Kürze beginnenden Sonnenuntergang zu genießen. Dann gab er Rausch den Befehl, die Crew zusammenzutrommeln, und wies die Besatzung an, falls sich die Lage nicht noch grundlegend und zum Positiven ändern sollte, in rund zwanzig Minuten alle Passagiere im Salon zu versammeln. Er wolle persönlich zu den Fahrgästen sprechen und detaillierte Informationen und Anweisungen über den Fortgang der Dinge geben. Das Servicepersonal beauftragte er, den Fahrgästen ab sofort Freigetränke anzubieten, um die Stimmung aufrecht und kontrollierbar zu...