Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Es gehörte zu den liebsten und festen Gewohnheiten von Marion und Amke Folkerts: Nach dem Yoga am Dienstag fuhren sie mit dem Rad noch eine Runde »um den Pudding«, um anschließend ein Stündchen - manchmal wurden es auch zwei oder sogar drei - im Surfcafé einzukehren. Besonders im Sommer bereitete dieses Ritual am Norderneyer Januskopf allergrößtes Vergnügen: ein Gläschen Prosecco, ein kühler Chardonnay oder ein erfrischendes Weizenbier; irgendein Sundowner zu den Kult-Klängen von »Knockin' on Heaven's Door« ließ sich immer finden. Ein Prösterchen hier, ein Small Talk dort - und schon versank die Sonne sanft im Ozean. Inselherz, was willst du mehr?
Heute lieferte der Tag solche Bedingungen nicht. Wie die Meteorologen richtig vorausgesagt hatten, waren bereits am frühen Abend wuchtige Wolkenformationen aufgezogen, und für einen Junitag zeigte sich der Himmel zu erstaunlich früher Stunde bereits düster.
»Ich hasse ja das Wort Sundowner«, sagte Amke, während sie ihrer Schwiegermutter die Tür zum Lokal aufhielt und mit ihr geradewegs auf die bereits anwesenden Yoga-Kolleginnen zusteuerte.
»Heute brauchst du ja auch keinen«, erwiderte Marion und zeigte mit einer weit ausholenden Armbewegung in den trüben Himmel, »es ist ja praktisch keine Sonne da, die untergehen kann.«
»Okay, dann nehme ich einfach wieder einen Prosecco und bilde mir ein, dass die Sonne gerade in ihren schönsten Farben am Horizont klebt«, zwitscherte Amke mehr, als sie sprach, und lachte laut, dass alle im Café spätestens jetzt wussten: Die Norderneyer Yoga-Fraktion ist nun komplett.
Mit elegantem Schwung nahm Marion auf der komfortabel gepolsterten Bank mit dem Rücken zum Fenster Platz. Sie war eine ausgesprochen selbstbewusste Person und dafür bekannt, gern das Wort zu führen. Bis vor Kurzem arbeitete sie als Krankenschwester im Norderneyer Inselhospital, eine Tätigkeit, die sie mit Leidenschaft und Hingabe ausübte. Vor fünf Jahren war Fred, mit dem sie dreiunddreißig Jahre lang verheiratet war, gestorben. Er hatte Lungenkrebs und Metastasen im Gehirn. Von der Nachricht über die Erkrankung bis zum Tod hatte es lediglich gut drei Monate gedauert. Marion hatte lange gebraucht, um über diesen Schicksalsschlag hinwegzukommen.
Für eine Frau von Anfang sechzig wirkte Marion durchaus attraktiv: Die äußerst gepflegten, immer noch vollen und mehr silbern als grau glänzenden Haare fielen flippig auf die schmalen Schultern. Stets trug sie sie offen. Sie zelebrierte es regelrecht, sie in den Wind zu halten und von ihm frei und ungestüm modellieren zu lassen. Sogar beim Sport und beim Thalasso in der Nordsee, dem Baderitual zum Wecken der Lebenskräfte, verzichtete Marion auf ein Haarband. Es schien ihr Vergnügen zu bereiten, das wild wallende Haar immer und immer wieder mit geübten Fingergriffen hinters Ohr zu streichen oder herumwirbelnde Strähnen mit leicht vorgeschobener Unterlippe aus der Stirn zu pusten und dabei den Kopf verspielt zur Seite zu neigen. Ihr auffallend aufrechter Gang, die bewusst nach vorn gedrückte Brust, die vollen, niemals ungeschminkten Lippen und ihr fester Blick signalisierten ohne Umschweife: Hier kommt jemand um die Ecke, der garantiert kein Mitleid braucht.
Entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten hielt Marion sich an diesem Abend in der Yoga-Runde auffallend zurück. Amke hatte schon seit einigen Tagen bemerkt, dass ihre Schwiegermutter sich auch zu Hause ein wenig reserviert zeigte. Irgendetwas schien nicht zu stimmen mit ihr. Auch heute im Surfcafé ließ Marion die vertraute Dominanz weitgehend vermissen. Und während Amke den dritten Prosecco orderte und mit Karin und Luisa mehr und mehr in Feierstimmung geriet, steckten Marion und Emma die Köpfe zusammen.
Emma war Marions beste Freundin. Sie hatten schon gemeinsam die Insel-Grundschule an der Jann-Berghaus-Straße besucht und waren zusammen stets durch dick und dünn gegangen. Jede kannte die Vorlieben und Abneigungen der anderen und natürlich auch alle Befindlichkeiten und Gefühlslagen. Dass Marion der weitaus tonangebendere Teil von beiden war und auch finanziell wesentlich besserstand, störte Emma nicht. Es machte ihr nichts aus, wenn sie als Vierhundertfünfzig-Euro-Verkäuferin in der Edelboutique am Kurplatz Marion Röcke, Hosen und Blusen verkaufte, die sie sich selbst niemals würde leisten können. Dafür genoss Emma das sichere Gefühl, im Schatten der starken Freundin gut aufgehoben und stets in bester Gesellschaft zu sein.
Auch Emma war Marions sonderbare Verschlossenheit nicht entgangen. »Was ist los mit dir, du gefällst mir nicht. Du bist doch nicht etwa krank?«, fragte Emma hinter vorgehaltener Hand, während die anderen Frauen munter drauflosquatschten und mit den Surfern vom Nachbartisch schäkerten.
»Eigentlich ist nichts.«
»Eigentlich? Du weißt, dass das Wort jede Menge Raum für offene Fragen lässt.«
Marion pustete ein Strähne aus der Stirn und nippte an der Rhabarberschorle. Ansonsten gab sie sich weiter extrem einsilbig. »Es ist nichts passiert.«
»Was heißt, es ist nichts passiert? Heißt das etwa, es ist noch nichts passiert? Rück endlich raus mit der Sprache. Mir machst du nichts vor, Marion. Oder hat es was mit mir zu tun?«
»Nein.«
Emma hob die Stimme. Sie wurde ungehalten, ihre Wangen röteten sich. »Sag's endlich! Bist du krank? Warst du beim Arzt? Hat er dir etwas Schlimmes gesagt, oder wartest du auf irgendeinen Befund?«
»Nein. Auch das nicht.« Marion schaute rüber zu Amke, Karin und Luisa. Sie erwiderte deren fragendes Lächeln kurz, wobei man diesem Lächeln ansah, dass es nicht echt war.
Sie nahm einen weiteren Schluck und rückte näher an Emma heran, die beleidigt wirkte. »Emma. Es ist nichts. Ich mache mir nur ein paar Sorgen. Die sind aber wahrscheinlich unbegründet. Ich bin in den vergangenen Tagen dreimal angerufen worden. Anonym.«
Emma schaute auf und griff nach Marions Hand. Da der Lärmpegel und die damit verbundene gute Laune im Surfcafé in den vergangenen Minuten deutlich angeschwollen waren, rückten die beiden Freundinnen nun noch enger zusammen. Die Beine berührten sich, Emma legte zusätzlich den Arm um Marions Hüften.
»Ich vermute, es handelte sich um einen Mann. Er hat nichts gesprochen. Ich habe nur gehört, dass jemand am anderen Ende der Leitung war. So ein leichtes Schmatzen, eine Art Keuchen, ein Atmen. Mehr war da nicht. Sicher irgendein perverser Idiot.«
Marion machte eine Pause, schaute zur sich öffnenden Eingangstür, durch die gerade sieben breitschultrige Männer - angeführt von Norderneys Polizeichef Gent Visser - eintraten.
»Fief Beer un fief Kloorn«, polterte es aus tiefer Kehle, dabei hatten Visser und seine Fußballkumpels vom Revier noch gar keinen Tisch ergattert.
Jedenfalls brachten die insularen Ordnungshüter jede Menge gute Laune mit. »Sech to, wi hem Dörst«, blökte Vissers Kollege Neumann gleich hinterher.
Marion nahm den forschen Einmarsch der Inselpolizisten nur am Rande zur Kenntnis. Durch die offene Tür sah sie, dass es zu regnen begonnen hatte und die Kellnerinnen draußen die Tische leer räumten, die Sonnenschirme herunterkurbelten und die Decken zusammenlegten und in Sicherheit brachten.
Emma fixierte Marions Gesicht: ihre vollen, tadellos geschminkten Lippen, die klaren blauen Augen, die kostbaren Kreolen. Sie schätzte ihre Freundin nicht nur, sie verehrte sie.
Und bevor sie etwas sagen konnte, setzte Marion erneut an: »Wie gesagt. Ich kann nur vermuten, dass es ein Mann war. Vielleicht jemand, der mir nachstellt, einfach so, weil es ihm Spaß macht und er mich ärgern will. Aber in meinem Alter .«, fügte sie hinzu und drückte den Rücken durch, dass die Brust deutlich exponiert wirkte. Zugleich strich sie die Haare hinter die Ohren zurück. Dem Ganzen folgte ein gedehnter Blick ins Lokal; doch niemand beachtete sie.
»Ich bitte dich«, gab Emma zurück. Du könntest wirklich noch genügend Männer haben, an jedem Finger fünf, mindestens.«
»Nun übertreib mal nicht, Emma.« Marion schien sich gefangen zu haben. Allmählich taute sie auf und war dabei, ihr altes Selbstbewusstsein wiederzugewinnen, wenngleich ihre Augen weiterhin nachdenklicher dreinschauten als üblich. Rasch nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. »Seit diesen Anrufen - der erste war übrigens genau heute vor drei Wochen - habe ich manchmal das Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden.«
Emma verdrehte die Augen und spitzte den schmallippigen Mund extrem, als würde diese maskenhafte Geste die Bedeutung ihrer Frage besonders untermauern. »Bist du sicher?«
»Keineswegs. Das heißt: Erst kriege ich einen Schreck, und dann denke ich, ich bilde mir das nur ein. Jedenfalls habe ich in dieser Hinsicht bislang noch keine wirklich handfesten Beobachtungen gemacht. Ich könnte jetzt nichts beweisen, wenn es hart auf hart käme. Ich glaube, ich bin einfach nur verunsichert.«
»Wann hat der Typ denn zuletzt angerufen?«
»Am Sonntag, also vorgestern. Auf dem Handy wieder. Ich frage mich, woher der meine Nummer hat.«
Emma reckte sich und wehrte mit einer dezenten Handbewegung die Kellnerin ab, die plötzlich freundlich nach einer weiteren Bestellung fragend vor ihnen stand. »In Zeiten von Internet, Google und all dem Kram ist doch nichts mehr geheim. Eine Telefonnummer rauszukriegen ist heutzutage doch alles andere als Zauberei.«
Marion nickte und schwieg. Nach einem Blick auf die Uhr wandte sie sich wieder Emma zu. »Meine Liebe, was meinst du? Sollen wir? So wie immer? Lass die...
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