Schweitzer Fachinformationen
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Wahrscheinlich wollte er etwas von ihr. Ganz bestimmt wollte er etwas von ihr. Deshalb rückte sie den Stuhl zurück und setzte sich erst hin, nachdem sie den gebührenden Abstand geschaffen hatte. Der Abstand ist das Wichtigste. In jeder Hinsicht, im Ton, im Raum und überhaupt. Sie wollen mit der Justiz zusammenarbeiten? Ja? Dann muss ich Sie auf dies und das und jenes aufmerksam machen.
Und, ja, es wäre ihr lieber, mit einem Mafioso hier zu sitzen, als mit ihrem Kollegen Jerry Sutera, der die widerwärtige Angewohnheit hatte, Zigarillos zu rauchen, sizilianische, was die Sache nicht besser machte.
Vor ihr ein überquellender Aschenbecher, daneben vergilbte Aktenbündel. In der Ecke ein Ventilator, der seinen Geist schon zu Zeiten Garibaldis aufgegeben hatte. Das Büro stank wie die Pest, von Jerry ganz zu schweigen. Sie fragte sich, wie seine Frau das aushielt. Falls er überhaupt eine hatte.
Bis vor kurzem hatte Jerry mit ihr in der Antimafia-Staatsanwaltschaft gearbeitet, jetzt war er abgezogen worden und kümmerte sich um Einbrüche in Discount-Supermärkte in der Via Tasca Lanza, Schwarzbauten in Brancaccio, sexbesessene Lehrerinnen (eine hatte einen sechzehnjährigen Schüler verführt, in der Tiefgarage ihres Hauses, tolle Frau, fand Jerry) und Touristinnen, die in Capo Gallo von den Klippen fielen, während sie das Panorama fotografierten. Bereitschaftsdienst Tote, Bereitschaftsdienst Lebende, business as usual.
»Spuck's aus, Jerry«, sagte sie und griff nach einer der Mappen, die auf seinem Schreibtisch lagen, um sich etwas Luft zuzufächeln.
»Ich wollte dich nur fragen .«
»Lass mich raten: Ob ich dich vertreten kann?«
Er blickte auf. »Immer direkt. Liegt wohl an deinen deutschen Genen.« Er leckte an einem neuen Zigarillo und suchte in dem Aktenberg auf seinem Schreibtisch nach einem Feuerzeug.
»Soll ich dir meine Abstammungsurkunde zeigen? Wir Vitales sind Sizilianer bis ins zehnte Glied«, sagte Serena.
»Dann bist du genmanipuliert. Man hat dich mit den Deutschen geklont. Ich finde jedenfalls nichts Sizilianisches an dir.«
»Weil das Erbgut durch die Luft manipuliert wird?«, fragte sie.
»Wenn man dafür anfällig ist, schon.«
Alter Witz. Kursierte in der Staatsanwaltschaft Palermo, seitdem bekannt geworden war, dass sie in Deutschland aufgewachsen war. Nicht nur die Mafiosi nannten sie La crucca, die Deutsche. An schlechten Tagen wurde ihr vorgeworfen, unflexibel, phantasielos und pedantisch zu sein. An guten Tagen galt sie als aufrichtig, tiefgründig und verlässlich. Heute war definitiv ein guter Tag. Gleich würde Jerry »Du bist meine einzige Hoffnung« säuseln, »stellina mia, du bist die Einzige hier, auf die ich mich verlassen kann, meine Mutter wird fünfundachtzig, und es würde ihr das Herz brechen, wenn ich auf ihrem Geburtstag fehlen würde, nur weil ich Bereitschaftsdienst habe.«
Und dann müsste sie am Abend auf den Wein und den Spätfilm verzichten, sich eine Hose, einen Pullover und eine Jacke auf den Stuhl neben ihrem Bett bereitlegen, daneben die Liste der diensthabenden Gerichtsmediziner und das auf volle Lautstärke gestellte Diensttelefon des »Bereitschaftsdienstes Tote«, und außerdem hoffen, dass die Polizisten nicht wieder die falsche Nummer wählen würden: Die Telefonnummer des »Bereitschaftsdienstes Tote« unterschied sich von der des »Bereitschaftsdienstes Lebende« lediglich durch die letzte Zahl, weshalb sie, wenn das Telefon klingelte, immer gleich »Tot oder lebendig, ispettò?« rief, woraufhin der Polizist sich darüber beschwerte, wie fließend die Grenze zwischen Leben und Tod sei: »Und welche Nummer, verdammte Scheiße, sollen wir im Fall eines irreversiblen Komas anrufen, die für die Toten oder die für die Lebendigen?«
Und am Ende würde sie in den Zen gerufen, und das bedeutete verfaulte Matratzen, zersplitterte Asbestplatten und umgestürzte Müllcontainer. Daneben die verkohlten Gerippe geklauter Autos und auf der Erde benutzte Spritzen, weshalb sie feste Schuhe tragen müsste, denn der Zen war in Palermo keine Spielart des Buddhismus, sondern die Ausgeburt der Hirne durchgeknallter Stadtplaner der siebziger Jahre: Die Zona Espansione Nord bestand aus endlosen Reihen sandfarbener Betonkästen, von denen der Putz abfiel und die bis heute über kein vernünftiges Abwassersystem verfügten.
Wer hier lebte, knipste sich den Strom von Straßenlaternen ab und versorgte ganz Palermo mit Kokain, Heroin, Crystal Meth und Marihuana.
Weshalb man, wenn man in den Zen gerufen wurde, in der Regel tote Pusher fand. Oder einen, der einen anderen cornuto e sbirro genannt hatte, denn »gehörnter Spitzel« war im Zen eine tödliche Beleidigung, ausreichend, um vor der Haustür abgeknallt zu werden. Neulich hatte es hier eine Schießerei zwischen zwei Familien gegeben, nur weil sich die Kinder um einen Ball gestritten hatten.
»Jetzt sag schon, was willst du?« Sie drehte sich auf dem Stuhl etwas weg, um dem Geruch zu entgehen, den Jerry ausdünstete, wenn er sich bewegte. Dieser Hauch von Elefantendung, kalter Zigarillorauch, der seiner ungelüfteten Kleidung entströmte.
Aus der Mappe, mit der sie sich Luft zufächelte, fielen Fotos. Von einer Leiche. Nicht unbedingt überraschend hier.
Ein Toter, umgeben von Absperrbändern, den Beinen des Gerichtsmediziners und den Koffern der Frontschweine von der Spurensicherung. Sie raffte die Fotos schnell zusammen und warf sie auf den Schreibtisch.
Jerry schob die Fotos wieder zu ihr zurück. »Den haben wir neulich im Parco della Favorita gefunden. Nichts davon gehört? Er lag in der Nähe vom Transenstrich.«
Sie schob die Fotos von sich weg. »Nein, habe ich verpasst, bis gestern war ich auf Levanzo.«
»Und da liest du keine Zeitungen? Klickst nicht mal im Netz herum, Facebook oder so?«
»Ich pflege meine Ferien in einem Funkloch zu verbringen, Jerry. Die Sekretärinnen haben meine Festnetznummer. Ich wollte mich entgiften.«
»Oh, la dottoressa begibt sich ins Funkloch, um sich zu entgiften! Dann hast du das Riesending natürlich verpasst. Aufmacher im Giornale di Sicilia. Endlich hatten sie einen Vorwand, um die Hintern der Afrikanerinnen auf die erste Seite zu setzen. Nach dem Motto: Prostitution bei Tageslicht, vor den Augen unschuldiger Kinder, und die Behörden unternehmen nichts.« Er schob die Fotos wieder zu ihr hin. »Kannst du mal kurz .«
»Du bist wirklich penetrant, Jerry.«
»Sei doch nicht so herzlos. Schau dir die Bilder doch wenigstens mal an.«
Der Tote trug eine Krawatte, dunkelblau, mit kleinen grünen Punkten. Nicht ungewöhnlich, viele Freier kamen nach Büroschluss bei den Transen vorbei: Rechtsanwälte, Steuerberater, Professoren. Aber auch Gemüsehändler in der Mittagspause, Elektriker nach Feierabend und von der Familie ausgehaltene Muttersöhnchen, die den ganzen Tag Zeit hatten.
Regelmäßig wallte Empörung gegen den Straßenstrich auf, regelmäßig rebellierten die afrikanischen Prostituierten gegen diese Scheinheiligkeit, regelmäßig wurden Selbsthilfegruppen für sie gegründet. Und dann kam Nachschub aus Benin oder Nigeria, und alles ging weiter.
»Und?«
»Keine Ahnung.«
»Schau dir die Bilder doch mal genauer an.«
Unter dem Vorwand, die Fotos bei Tageslicht besser sehen zu können, riss sie das Fenster auf und sog frische Luft ein. Die Punkte auf der Krawatte entpuppten sich beim näheren Hinsehen als kleine, grüne Elefanten.
»Mach's nicht so spannend, Jerry.«
»Wir hatten ihn noch nicht identifiziert, aber ziemlich schnell eine Spur. Jemand hatte das Opfer kurz zuvor mit einem Afrikaner gesehen, mit einem Somalier. Wie sich herausstellte, wohnte der im Zen, zwei Kollegen vom Kommissariat San Lorenzo sind also hin, nur um ihn zu überprüfen, aber der Typ ist völlig durchgedreht, und wenn der Kollege nicht so schnell reagiert hätte .«
»Das heißt?«
»Der hat sofort auf den Beamten gezielt.«
»Verletzt?«
»Tot.«
»Wer?«
»Der Somalier.«
»Ach«, sagte Serena.
»Was heißt hier >ach<? Der hatte die Pistole in der Hand, mit der der Typ im Parco della Favorita erschossen wurde. Und Schmauchspuren auf der Hand. Serena, nein, wirklich, der Kollege trägt keine Schuld. Der ist so traumatisiert, dass er psychologisch betreut werden muss.«
Er schob ihr ein weiteres Foto zu. Ein Zimmer wie eine Müllkippe. Der Afrikaner lag vor einem Flachbildschirm in einer Blutlache inmitten eines Bergs verkrusteter Teller. Ein muskulöser Oberkörper. Und rosa Strapse. Mit rosa Samtschleifen, die den Toten verletzlich, fast kindlich wirken ließen, trotz des muskulösen Oberkörpers.
Es hieß, dass Männer, die Sex mit einer Transe hatten, latent schwul seien und sich das nur nicht eingestehen wollten. Dabei waren viele Transen weiblicher als jede Frau. Obwohl - der hier hatte außer rosa Strapsen gar nichts Weibliches an sich.
Jerry blickte sie erwartungsvoll an. Wahrscheinlich wollte er gelobt werden. Männer wollten immer gelobt werden. Die einen dafür, den Müll heruntergebracht zu haben, die anderen dafür, an toten afrikanischen Transen Schmauchspuren festgestellt zu haben. Che palle, was für ein Scheiß.
»Jerry, ich muss jetzt los, ich habe noch zu tun.«
»Sei doch nicht so unflexibel.«
»Ich bin nicht unflexibel, sondern unter Zeitdruck. Ich muss noch zweihundert Seiten Abhörprotokolle lesen. Operation Thaumas.«
Jerry stöhnte entrüstet auf. So als hätte sie gesagt: Und was ist deine tote afrikanische Transe gegen...
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