Schweitzer Fachinformationen
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Sie glitt durch Palermo wie in einem U-Boot. Vorbei an den Kuppeln der Chiesa degli Eremiti und an einem halbverrotteten Prozessionswagen der Santa Rosalia, vorbei an dem riesigen Ficus, der seinen Schatten über Madonnenbilder mit verblichenen Plastikrosen warf, vorbei an dem marmornen Gedenkstein für ein kleines Mädchen, das von seinen Eltern ermordet worden war.
Durch das getönte Panzerglas sah die Stadt schwarzweiß aus, mit leichtem Blaustich. Es war, als wäre der Ton abgestellt worden. Kein Reifenquietschen, kein Vespaknattern, kein Kirchengeläut drang in das Innere. Auch kein Geruch. Nicht der warme Atem Afrikas, wenn es geregnet hatte. Nicht der Dunst des Meeres. Nicht die Fäulnis.
Sag mir, dass du erregt bist, wenn du an mich denkst, schrieb der Mann, der auf sie wartete.
Sie hatte diese Nacht geplant wie eine militärische Operation. Die Landung in der Normandie war nichts dagegen. Alles lief nach Plan. Jetzt war sie kurz vor dem Ziel.
Lass es ruhig angehen, Mimmo, ohne Blaulicht, sagte Serena, als sie Richtung Umgehungsstraße stadtauswärts fuhren.
Sobald der Verkehr stockte, warf Mimmo die Sirene an. Kaum war sie zur Leiterin der Sucheinheit »Alessio Lombardo« ernannt worden, hatte sich ihr Leben in einen permanenten militärischen Einsatz verwandelt. Zwei Leibwächter, ein gepanzerter Lancia. Mimmo und Enzo, Ciccio und Peppino. Im Wechsel. Manchmal kamen andere hinzu, die sie nicht kannte.
Man gewöhnt sich an alles, hatte sie sich gesagt. Man muss einfach nur sein normales Leben weiterführen.
Zweimal hatte sie sich noch zu einem Espresso mit einer Freundin im Antico Caffè Spinnato in der Via Principe di Belmonte verabredet. Die Leibwächter waren aus dem Wagen gesprungen, hatten nach rechts und links geblickt und die Tür aufgerissen. Und die Leute hatten sie angestarrt wie eine, die aus einer psychiatrischen Anstalt geflohen war.
Der neue gepanzerte Lancia hatte Mimmo in Ekstase versetzt. Er drückte die anderen Wagen einfach an die Seite und drängelte sich mit Blaulicht mittendurch. Serena hatte der Lancia misstrauisch gemacht. Sie war immer skeptisch, wenn man vorgab, sie beschützen zu wollen.
Ja, wir haben genug Zeit, Mimmo, die Fähre geht jede halbe Stunde, sagte Ciccio.
Verstanden, sagte Mimmo. Und raste über die Autobahn nach Trapani, als wären sie auf der Flucht.
Ciccio hielt sich am Türgriff fest. Ciccio, Dickerchen, wurde er wegen seiner Leibesfülle genannt, er bewegte sich so langsam wie ein betäubter Waran. Ciccio war ihrer Leibwache erst kurz zuvor zugeteilt worden, und Serena vermutete, dass er sich in einer Angriffssituation einfach tot stellen würde. Das Gefährlichste an ihm waren seine lilafarbenen Augen, sie sahen aus, als wären sie für jemand anderen bestimmt.
Wenn du kommst, bedecke ich dich mit einem Unterrock aus Spucke, schrieb der Mann, der auf sie wartete.
Serena las in ihren Unterlagen. Verhörprotokolle, Telefonmitschnitte aus dem Umfeld von Lombardo. Allein seine Geliebten abzuhören, war ein Riesenaufwand, es waren zehn oder zwölf. Eine litt seit kurzem unter einer Geschlechtskrankheit. Nachdem sie gehört hatten, wie sie mit ihrem Arzt telefoniert hatte, wurde sie rund um die Uhr beschattet. Wenn sie die Krankheit von Lombardo hatte, würde das bedeuten, dass er in der letzten Zeit bei ihr gewesen war. Oder sie hatte sie von einem anderen Mann. Und dann wäre sie bald tot. Bei einer anderen vermuteten sie, dass ein Besuch von Lombardo bevorstand, weil sie einen Termin beim teuersten Friseur Palermos gemacht hatte, was ungewöhnlich war; normalerweise färbte ihr eine Freundin die Haare. Sie hörten sogar seine Verflossenen ab. Eine lebte inzwischen in Deutschland, und gegen den Papierkrieg um die deutsche Abhörgenehmigung war der Russlandfeldzug ein Kinderspiel.
Auch einer von Lombardos Briefboten wurde abgehört, ein Fleischer aus dem Borgo Vecchio. Serena beschattete ihn seit Monaten. Wanzen, Videokameras und GPS-Peilsender - das volle Programm. Selbst wenn Cataldo pinkelte, hörten sie mit. Vor zwei Tagen hatte Cataldo in einem Eisenwarengeschäft in der Altstadt ein pizzino abgeholt. Ein mit Tesafilm versiegeltes Zettelchen. Das er bald zu Lombardo bringen würde. Und sie mit ihm.
Ich küsse deine Ohrläppchen, die Innenseiten deiner Arme, ich küsse deine Kniekehlen, schrieb der Mann.
Sie hatte Mimmo und Ciccio klargemacht, dass auf Levanzo ein Leibwächter reichen würde. Es war nicht schwer gewesen, Ciccio davon zu überzeugen, das Wochenende in Marsala bei seiner Familie zu verbringen.
In Trapani bestieg sie mit Mimmo das Tragflügelboot und setzte sich in eine der ersten Reihen, mit Blick auf den Horizont. Sie wurde leicht seekrank. Neben ihr saßen zwei Engländerinnen, die sich für ein Teleskopstangenselfie umarmten.
Mimmo bot an, einen Espresso zu holen. Schmalbrüstig, wie er war, warf er sich gegen die heranrollende Welle aus Passagieren, kämpfte sich an dicken Frauen mit schreienden Kindern und an blassen englischen Touristen vorbei, die sich an ihre Koffer klammerten, und kehrte mit dem Plastikbecher und einem Stück Nougat zurück, das er ihr wortlos überreichte.
Das war das Schöne an der Vertrautheit mit einem langjährigen Leibwächter: Er wusste über ihre Vorlieben besser Bescheid als mancher Liebhaber. Umgekehrt wusste sie alles über seine Geschichten mit den Touristinnen aus Norwegen und Spanien (definitiv mehr Spanierinnen als Norwegerinnen, die nordischen Mädchen nahmen die Liebe immer schrecklich ernst), mit der Nigerianerin, der er dabei geholfen hatte, sich von ihrem Zuhälter zu befreien, und mit der einen - einzigen - Sizilianerin, deren Liebesbriefe er immer noch mit sich in seiner Brieftasche herumtrug, obwohl die Geschichte bereits zehn Jahre zurücklag.
Wie bist du angezogen?, schrieb der Mann.
Serena blickte an sich herunter. Sie trug Jeans und Turnschuhe. Und schrieb: Netzstrümpfe. Und ein enges, schwarzes Kleid.
Und unter dem schwarzen Kleid?
Nichts.
Auf dem Monitor über ihr liefen die Fernsehnachrichten ohne Ton. Der Ministerpräsident kündigte mal wieder etwas an. Irgendeine Reform, die keine war. Irgendeinen Bonus, der sich am nächsten Tag als Malus entpuppen würde. Man nannte ihn auch: Mr. Ankündigung.
Sie fuhren an Favignana vorbei, aus der Ferne glich die Insel einer Totenstadt. Steinerne Türme, zerfallene Fundamente, Mauern aus gelbem Tuffstein. Das Meer funkelte wie ein Opal. Palermo, der Justizpalast, die Ermittlungen, Abhörprotokolle, die Lageberichte, alles fiel von ihr ab und versank in diesem Meer, das aussah wie von unten beleuchtet.
Bald tauchten die karstigen Umrisse von Levanzo vor ihr auf. Die Sonne hing wie eine Blutorange über dem Horizont. Und spiegelte sich in Mimmos blaugrün schillernder Sonnenbrille, die er selbst nach Eintritt der Dunkelheit nicht ablegte.
Mimmo, würdest du mir einen Gefallen tun?
Sicher, Dottorè.
»Dottorè« war die sizilianische Abkürzung für Dottoressa. Eine Art Kosewort. Wenn man abgekürzt wurde, hatte man es geschafft, war akzeptiert worden. Wenn aus Michele Michè, aus Serena Serè, aus der Dottoressa Dottorè wurde, war man angekommen. In den ersten Jahren in Palermo hatte sie das Dottoressa für ein überkommenes Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten gehalten. Heute wusste sie: Die Dottoressa war keine Unterwerfungsgeste, sondern ein Ausdruck von Respekt. Sizilien eben.
Du hast mir doch von deiner norwegischen Freundin erzählt, die gerade Urlaub auf Favignana macht.
Ja?
Wie wäre es, wenn du sie heute Abend besuchen würdest?
Er sah erstaunt auf.
Du bringst mich in die Pensione Paradiso und könntest dich von dem Fischer übersetzen lassen, du erinnerst dich sicher an ihn.
Der immer die Touristen um die Inseln fährt?
Ja, genau der. Und wir beide sehen uns morgen früh wieder?
Sie blickte auf Mimmos Brille, in der sich ihr Gesicht leicht verzogen widerspiegelte, und sah, wie sich um seine Augen hinter den Gläsern ein Kranz aus Lachfältchen bildete.
Verstanden, sagte er und streckte sich wie eine Katze, die sich bereitmacht, auf Jagd zu gehen.
Und . wann sehen wir uns morgen früh wieder, Dottorè? Um wie viel Uhr? Ich meine . Sie müssen . ich muss dem Fischer ja .
Ich schicke dir später eine SMS.
Perfetto.
Das schätzte sie an Mimmo. Keine Fragen. Keine Bedenken. Kein Aber. Kein Und-was-wenn-das-Komitee-für-Sicherheit-davon-Erfährt.
Sie fuhren in den winzigen Hafen ein. Levanzo bestand aus einer Straße, einem Lebensmittelladen, zwei Pensionen, zwei Bars, einer Boutique und einer Sehenswürdigkeit. Die Boutique führte Dinge, die man nicht brauchte (handgetöpferte Duftlampen und indische Batikschals), und die Sehenswürdigkeit bestand aus Dingen, die man nicht sehen wollte (altsteinzeitliche Höhlenzeichnungen). Die beiden Bars und Pensionen glichen sich wie eineiige Zwillinge: die gleiche Aussicht über das Meer, die gleichen Plastikstapelstühle, die gleichen Aperitifs, das gleiche Menü.
In einer Welt, in der man ständig abwägen, bestimmen und beurteilen musste, war Levanzo das Paradies. Nach einem Tag kam das Zeitgefühl abhanden, nach zwei Tagen war man überzeugt, dass die Welt aus nichts anderem als aus Meer, Horizont und Möwengeschrei bestand. Am dritten Tag betrachtete man den Wechsel des Lichts wie einen Spielfilm, von Weiß zu Blau, von Blau zu Rosa, von Goldgesprenkelt zu Nachtblau.
Pensione Paradiso, sagte Serena, und schon warf der an der Hafenmole wartende Junge ihren kleinen Koffer auf die Ladefläche der Ape.
Also dann, sagte...
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