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Vor dem Justizpalast saß ein Polizist, von dem es hieß, dass er wegen mentaler Probleme aus dem Dienst entlassen worden sei. Er trug einen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte und schrie jeden an, der das Gericht betrat, die Sekretärinnen und Büroboten, die Polizisten, Carabinieri, Anwälte und Richter. Er hockte auf dem Boden und brüllte: Habt ihr Angst zu reden?, und Wo ist die Demokratie? Und alle, die an ihm vorbeigingen, taten so, als hörten sie ihn nicht.
Die Staatsanwältin ignorierte den Irren, wie sie auch Wieneke übersah, der hier schon seit einer Stunde auf sie wartete und sich eine Antimafia-Staatsanwältin irgendwie anders vorgestellt hatte. Auf jeden Fall nicht mit so hohen Absätzen, auf denen sie erstaunlich schnell die Treppen zum Justizpalast hochlief.
Frau Vitale, entschuldigen Sie, rief Wieneke, ich bin der deutsche Journalist, erinnern Sie sich? Wir haben .
. telefoniert, wollte er noch sagen, aber da hatte sie schon die Metalldetektorschleuse passiert. Ohne aufzublicken. Wolfgang W. Wieneke (irgendwann hatte er beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen und seinen zweiten Vornamen Widukind hinter einem W. zu verbergen) und seinem Fotografen blieb nichts anderes übrig, als hinter ihr herzulaufen. Sie rannte mit einem Aktenstapel unter dem Arm über den Flur, warf sich im Laufen die Robe über ihr Kleid, bis sie kurz vor dem Gerichtssaal wieder umkehrte und zurück zum Büro lief. Und mit einem weißen Lätzchen in der Hand zurückkehrte, das sie sich ebenfalls im Laufen umhängte: ihr Jabot, an dem sie noch zerrte, als sie den Gerichtssaal betrat.
Wieneke und sein Fotograf mussten sich um zwei Plätze auf den Pressebänken zanken, weil die bereits sitzenden Journalisten mit ihren Laptops versuchten, die Reviere zu markieren. Die Zuschauerbänke waren überfüllt, der Saal berstend voll, und wer keinen Platz fand, drängte sich in den Gängen neben Polizisten, Carabinieri und Gerichtsdienern.
Man nennt sie übrigens die Eisheilige, sagte der Fotograf, ein Spitzname, den Wieneke außerordentlich treffend fand. Vor allem wegen der Klimaanlage des Justizpalastes. Draußen schmolz die Sonne den Asphalt, und hier drinnen herrschte sibirischer Winter. Wenn das keine Energieverschwendung war.
Die Journalisten beugten sich über ihre Zeitungen und Smartphones und einer, der für die RAI arbeitete, rief der Staatsanwältin ein vertrauliches Ciao Serena zu, was ihr ein zögerliches Lächeln entlockte. Offenbar kannten sich hier alle, Staatsanwälte, Gerichtsreporter, Antimafia-Blogger und die Mafiaspezialisten der großen Tageszeitungen und Fernsehsender, die, wie der Fotograf betonte, nur zu bedeutenden Prozessen anreisten.
Nun betrat der angeklagte Minister den Saal. Enrico Gambino. Umgeben von einem Hofstaat aus Anwälten, Beratern und Leibwächtern, hielt Gambino so lange inne, bis sich in dem lärmenden Gerichtssaal ein Kreis von Stille um ihn bildete. Er trug ein dunkelblaues Jackett und ein hellblaues Hemd. Die Haare waren weiß und so dünn, dass man seine Kopfhaut darunter rosa schimmern sah. Nachlässig grüßte er einige Journalisten und winkte im Vorbeigehen, ohne sich umzudrehen: ein gestürzter König, getragen von der Gewissheit, dass er am Ende triumphieren würde. Bevor er sich setzte, nickte er der Staatsanwältin hoheitsvoll und herausfordernd zu. Wie ein Regent, der sich den Regeln eines albernen Protokolls auf fremdem Boden fügt.
Heiter plauderte er mit seinen Anwälten und begrüßte eine Frau mit Wangenkuss. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, versank er in sich und schob den Unterkiefer leicht nach vorn. Im Neonlicht des Gerichtssaals wirkte sein Gesicht ungesund bläulich.
Wieneke holte sein neues Moleskine aus der Tasche, machte lustlos ein paar Notizen über die Form des Gerichtssaals, die bedenkliche Kälte, die Farbe des Marmorbodens, die Uniformen der Carabinieri, notierte, dass die Anklage lautete: Mitwirkung in einer mafiosen Vereinigung und Mittäterschaft bei Attentaten - und machte hinter den letzten Anklagepunkt ein kleines Fragezeichen: Der Fotograf hatte betont, dass diese Anklage nicht haltbar sei.
Es ist ein Ding, dass der Prozess überhaupt zustande gekommen ist, sagte er.
Wieneke nickte, obwohl er keineswegs verstand, warum es eine Überraschung sein sollte, wenn es zu einem Prozess gegen einen Minister kam, der wohl genug Dreck am Stecken haben musste, damit man ihn überhaupt anklagen konnte.
Entschuldige mal, sagte Wieneke schließlich, abgesehen davon, dass dieser Gambino verdächtigt wird, mindestens einen Richter aus dem Weg geräumt zu haben, wurde er als Europaabgeordneter schon dafür verurteilt, Milliarden Fördergelder in die Taschen der Bosse geleitet zu haben, für Windkraftanlagen, Staudämme und landwirtschaftliche Kooperativen, die alle nur auf dem Papier existierten.
In erster Instanz, sagte der Fotograf.
Ja, und?, fragte Wieneke.
Bis das Urteil nicht in dritter Instanz bestätigt wurde, ist es nicht rechtskräftig.
Außerdem soll er für die Mafia eine Partei gegründet haben, da wird er ja wohl nicht ganz unschuldig sein, sagte Wieneke.
Der Fotograf betrachtete ihn amüsiert. Wie einen kleinen, netten Hund. Erklär ich dir später, sagte er.
Minister Gambino blickte so entspannt in den Gerichtssaal, als sei die Anklage gegen ihn lediglich eine kleine Wolke, die sich vor die Sonne verirrt hatte und bald verdunstet sein würde. Er zupfte an der Bügelfalte seiner Hose, strich über seine Krawatte, wickelte umständlich ein Hustenbonbon aus dem Papier, steckte es in den Mund und ließ, während er das Hustenbonbon von einer Backentasche in die andere schob, die interessierten Journalisten wissen, dass sämtliche gegen ihn erhobenen Vorwürfe frei erfunden seien, weshalb er darauf vertraue, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen würde. So übersetzte es jedenfalls der Fotograf, der Giovanni hieß und Wieneke flüsternd verhieß, dass solche Prozesse am Ende immer gleich ausgingen: Der Minister werde freigesprochen. Weil es an Beweisen mangele. Weil Formfehler festgestellt würden. Weil ein neues Gesetz erlassen würde und das Delikt dann kein Delikt mehr wäre. Weil das Delikt verjährt wäre. Weil.
In Anbetracht dieser für die Staatsanwältin nicht unbedingt ermutigenden Aussichten wirkte sie erstaunlich gelassen. Sie ließ sich keine Anspannung anmerken und blätterte so gelangweilt in den Zeitungen, als säße sie nicht im Gerichtssaal, sondern beim Friseur. Die Schlagzeilen waren an diesem Morgen fast ausnahmslos der bevorstehenden Aussage von Marcello Marino gewidmet, einem abtrünnigen Mafioso, der als Zeuge der Anklage vorgeladen war, um zu beweisen, wie Minister Gambino die gemeinsamen Geschäfte mit den Mafiabossen besprochen habe.
Also, mich wundert, dass dieser Gambino immer noch Minister ist, sagte Wieneke. In Deutschland wäre der nicht mehr haltbar.
Weil es bei euch keine Unschuldsvermutung gibt?
Wenn auch nur ein Zweifel an einem Minister besteht, muss er zurücktreten. Wenn er nicht schon längst im Knast säße. Mindestens in Untersuchungshaft.
Der Fotograf lächelte. Und fragte provozierend: Ah, ihr macht in Deutschland also kurzen Prozess? Vielleicht so, wie ihr das mit der Baader-Meinhof-Bande hingekriegt habt?
Was soll das denn jetzt?, wollte Wieneke noch fragen, aber da witzelte Giovanni schon mit einem Kameramann herum, dem er mit einer Geste des Halsdurchschneidens erklärte, dass die Deutschen mit ihren Terroristen im Knast kurzen Prozess gemacht hätten. Wieneke beschloss, nicht weiter mit ihm zu diskutieren. Vielleicht war er am Ende ein verkappter Maoist, ein als Fotograf verkleideter Black Block, ein geheimer Autonomer, getarnt mit einem weißen taillierten Hemd und einer Stoffhose, wie Wieneke sie zum letzten Mal auf der Hochzeit seiner Schwester getragen hatte. Wieneke nannte ihn heimlich Don Giovanni, weil in seinem Haar drei Kilo Gel klebten, mindestens. Die Bildredakteurin von FAKT stand auf solche Latin-Lover-Typen. Sie hatte ihre Entscheidung damit gerechtfertigt, dass dieser Giovanni auch die Kontakte machen würde, mit seinen Mafiafotos habe er bereits etliche Fotoausstellungen bestritten und sogar Bildbände veröffentlicht - richtig heißes Zeug, hatte sie gesagt. Bildredakteurinnen waren leicht zu begeistern. Aber er konnte nicht wählerisch sein, der Fotograf sprach fließend Deutsch.
Die Staatsanwältin ignorierte die Journalisten, den Minister und die Wolke aus Anwälten, Kofferträgern und anderen Dienern. Sie blickte in die Ferne, zur Holzvertäfelung hinter dem Gerichtspodest, wo in goldenen Lettern DAS GESETZ IST FÜR ALLE GLEICH stand und rückte die vor ihr liegenden Aktenstapel zurecht. Lauter verschnürte Ordner, offenbar hatten die hier noch keine Computer, anders war diese Papierverschwendung nicht zu erklären. Zumindest aus ökologischer Sicht war die italienische Justiz eine Katastrophe.
Wieneke hörte die Fernsehjournalisten hinter dem Rücken der Staatsanwältin tuscheln. Sie tat, als bemerke sie es nicht, selbst dann nicht, als einige Journalisten Minister Gambino mit Wangenkuss begrüßten. Für die Journalisten war der Prozess offenbar so etwas wie ein Boxkampf. Trockeneisnebel und Fanfaren, die Vitale trippelnd und seilspringend, der Minister beim Muskelspiel. Mal sehen, ob sie es schafft, ihm einen Haken zu versetzen.
Hinter dem Gerichtspodest ging eine Tür auf, Schöffen, Richter und Protokollanten betraten den Saal, alle Journalisten sprangen auf, der Richter bat um Ruhe und forderte dazu auf, die Handys auszuschalten. Niemand befolgte die...