Schweitzer Fachinformationen
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zwei jahre, sechs monate und sechs tage DANACH
Die Folie verschließt alle Poren, hindert Juli am Atmen. Sie zerrt daran, pult, fingert wie wild und wird panisch. Menschen fliegen an ihr vorbei wie in diesen Mysteryserien. Gerade Vergangenes mischt sich mit Neuem, fließt ineinander, zerfällt, nur um von anderen Farben und Formen abgelöst zu werden. Schnell. Immer schneller. Juli zupft und zerrt, kratzt seit einer Ewigkeit und richtet rein gar nichts aus. Das Rauschen in ihren Ohren frisst alles auf. Doch sie weiß natürlich, dass die Räder der einfahrenden Züge die Worte der Manager in ihren Anzügen zerquetschen, dass die Lüftungen arbeiten, dass die Kinder an den Händen ihrer Mütter quengeln. Juli sieht die Absätze so vieler Schuhe auf den Boden klacken, nur hören kann sie sie nicht. Die Scheiß-Folie klebt zu fest an Hals und Kopf und Körper. Die warme glitschige Haut in ihren Händen spürt sie trotzdem.
Ein Baby.
Die Luftblase platzt. Der Lärm kommt zurück. Feuchtigkeit kriecht durch die Unterhose ihre Beine hinab. Sie atmet und beugt sich nach vorn, tastet. Die Jeans ist fleckig, immer schon. Juli kann nichts Verdächtiges entdecken. Jemand rempelt sie an, hebt ihretwegen genervt die Hände und reißt die Augen auf. Eigentlich meiden die Blicke der Vorübereilenden den abgefuckten Teenager, und wenn sie sich doch verirren, hasten sie über ihn hinweg, als wären sie in Hundescheiße geraten. Juli kennt das. Es ist ihr egal.
Meistens.
Ist es wirklich passiert?
Sie hätte es doch bemerkt. Wenn sie an die Fotos von ihrer Mama denkt und den riesigen Bauch . Sie legt die Hände auf ihren eigenen.
»Was ist?«
Juli erschrickt, dreht sich um. Ein finsterer Kerl steht vor ihr, die Fäuste in den Jackentaschen.
»Hast du Problem?«
Sie schüttelt den Kopf. Kennt sie ihn? Als hätte er jedes Recht dazu, quetscht er sich in ihre Augen, forscht, tastet sogar mit beiden Händen über ihre schäbige Lederjacke und das zerschlissene T-Shirt bis zu ihrem Hosenbund. Juli steht stocksteif da, meint sich zu erinnern. Ihr läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter.
Ist er ein Bulle? In Zivil?
Sie denkt an den Rucksack, der auf ihrem Rücken hängt, an das Gras, das sie gestern gekauft hat. An das entsorgte Baby.
»Hast du Problem, ey?«, fragen die grauen Augen drängender, Lippen bewegen sich. »Brauchst du was?«
Juli reagiert nicht, lässt zu, dass er ihre Linke greift, etwas hineindrückt. Dann verschwindet er. Sie ist froh, er macht ihr Angst. Es dauert eine Ewigkeit, bis sich ihre Finger entspannen, sie die Hand öffnet und die Plombe ansieht.
Heroin? Kokain?
Wieso? Sie raucht nur Gras. Zu viel davon. Egal. Sie hat andere Sorgen.
Ein Baby? Ein Baby!
Von einer Sekunde auf die nächste löst sich die Starre auf, Juli dreht sich im Kreis, stopft die kleine Plastikkugel in ihre Jeans und läuft los. Das Stechen hinter ihrem Schambein lässt sie aufschreien, sie bremst, holt Luft, geht weiter. Langsamer diesmal. Sie muss zurück. Sie kann das winzige Mädchen nicht auf der Toilette zurücklassen wie Müll. Sie muss es holen. Es wärmen. Es füttern. Vielleicht ist sie dann weniger allein.
Ihre kleinen Brüste kribbeln, Juli denkt an die Drogen. An den Schnaps. Die möglichen Folgen. Ihr wird schlecht, sie stolpert, stützt sich einen Moment mit den Händen auf ihren Knien ab.
Verdammt! Ein Baby.
In welche Richtung muss sie überhaupt? Hier entlang? Oder doch da drüben? In ihrer Panik hat sie nicht darauf geachtet, wo sie hingelaufen ist. Juli lugt um Ecken, fährt mit der Rolltreppe nach unten, nur um gleich wieder hochzufahren. Dann endlich! Da muss es sein. Sie beißt die Zähne zusammen, rennt wieder, packt den runden Edelstahlknopf, drückt erst, zieht dann. Der Geruch nach Pisse steigt ihr in die Nase. Alles ist still. Kein Wimmern. Kein mühsames Atmen wie vorhin. Juli sucht den Lichtschalter. Die Neonröhren flackern träge und leuchten dennoch jede Ecke aus.
Nichts.
Kein Neugeborenes. Kein Blut. Kein verschmiertes Toilettenpapier. Damit hat Juli sich abgewischt. Darauf hat sie das Kind gelegt. Sie dreht sich im Kreis. Wieder und wieder. Gut, der Boden ist schmutzig, alles ist versifft, die Fliesen an der Wand sind klebrig, sie glänzen kaum. Bestimmt ist jemand hier gewesen. Bestimmt kümmern sich gerade Leute. Leute, die etwas davon verstehen.
Wenigstens das.
Juli ist erleichtert. Und entsetzt. Sie fällt in die Hocke, presst die Hände auf den Bauch, spürt etwas herausgleiten. Schnell schleppt sie sich zur Kloschüssel, zieht die Hose hinunter. Ein Klumpen platscht ins Wasser, sie sieht Blut an den Fingern. Keins, das aus Adern fließt. Nichts, was sie kennt. Sie hat noch nie geblutet. Nicht zwischen den Beinen.
Ist es das?
Ihre Gedanken hetzen zurück zu jenem Tag, da sie zum ersten Mal Bong geraucht hat. Sie denkt an das Herzrasen, an die Todesangst, das Verfolgtwerden, an die Zeitlupe, bevor die Autos auf sie zurasten und sie plattmachten. Es war genauso real gewesen wie .
Ist alles nur Einbildung? Halluzination?
Juli tastet nach der Rolle, sie muss sich abwischen, doch das Papier ist alle. Nichts mehr da. Sie geht zum Waschbecken, ihre Jeans hängt zwischen den Knien, ihr Magen krampft, sie übergibt sich. Draußen klopft jemand. »Beeil dich gefälligst!«, dringt es durch die schwere Tür. Der Wasserhahn quietscht, Juli hält das Gesicht unter den Strahl, spült den Mund aus, sucht gleichzeitig ihre Taschen nach einem Tempo ab, das sie als Einlage in ihre Unterhose legen kann, und findet stattdessen .
. das Ticket!
Hitze flutet ihren Kopf, sie schnellt hoch, blickt in ihr Spiegelbild, das sich im gebürsteten Stahl verzerrt. Das Innenraum-Tagesticket lag direkt neben dem Baby auf dem Boden. In Blut und Wasser. Juli weiß es genau, sie hat es nur deshalb aufgehoben, weil sie einfach die Tür hinter sich zumachen und zurück in die U- und S-Bahnen der Stadt fliehen wollte. Um alles ungeschehen zu machen.
Um zu schlafen.
Um zu vergessen.
Wie Feuer brennt das kleine Stück Papier nun zwischen ihren Fingern, sie lässt los, sieht zu, wie es den Waschbeckenrand streift und auf den Boden fällt. Und während Juli die Hose hochzieht, Reißverschluss und Knopf schließt, starrt sie auf die fast unsichtbare rote Spur, die auf dem Stahl zurückgeblieben ist.
Sonst nichts.
Julis Hände zitterten, als sie den Lichtschalter drückte und darauf wartete, dass sich die kaltweiße Helligkeit im Raum verteilte. Niemand aus der Nachbarschaft würde sich wundern, dass so spät nachts in der Rechtsmedizin Licht brannte. Ein Bereitschaftsarzt war außerhalb der Dienstzeiten ohnehin immer da, die Kameras an den Eingängen zeichneten rund um die Uhr auf, fast alle Lichter reagierten auf Bewegung, und an jeder Tür konnte man auslesen, wer sie wann geöffnet hatte. Deshalb war Juli drei Mal vor dem Eingang zum Hof umgekehrt, ehe das Licht anging. Deshalb hatte sie die Schlüssel wieder im Rucksack verstaut und war entschlossen auf ihr Rad gesprungen. Weil sie nicht wollte, dass ihr jemand Fragen stellte.
Und doch stand sie nun hier.
Das Licht knisterte in der Stille, rührte nicht an der Kälte und kümmerte den Tod nicht, die zusammen einträchtig den Raum beherrschten. Rotes Haar flatterte durch Julis Gedanken, blasse Haut blendete sie. Vielleicht kam sie zu spät. Normalerweise wurden die Leichen nach Freigabe sofort abgeholt oder wieder mitgenommen. Erst recht die aus München. Oder würden ab morgen Kühlfachgebühren fällig werden?
Mit dem Handrücken holte sie eisige Nässe von ihrer Stirn, überflog die Namen neben den großen schwarzen Ziffern an den Kühlzellen zu ihrer Rechten. Hier lagen die Leichen, die bereits obduziert oder ohne Obduktion freigegangen waren.
Hallbach. F 11. 04.
Neben der Eins.
Sie war also noch da.
Meine Tochter.
Wenigstens hatte sie die Kühlzelle für sich allein, die drei anderen Ebenen waren leer. Ein kleiner Trost. Auf Zehenspitzen tastete Juli sich voran, holte ihren Schlüssel aus dem Rucksack, steckte ihn ins Schloss, tippte mit der Rechten den hellgrauen Plastikgriff an, der sofort nach unten fiel, als sie den Schlüssel drehte. Es brauchte kaum Kraft, um die schwere Tür zu öffnen. Ein etwas größerer Kühlschrank. Ein leises Ploppen der Dichtung. Mehr nicht.
Juli starrte auf den Bergesack. So viele Nächte hatte sie geträumt. Lila Träume. Aber es war kein duftiges, leichtes Lila, kein Pastell, überhaupt nichts Poetisches. Ihr Lila war wie Atemnot. Und das ausgerechnet jetzt.
Weil Juli-Träume lila sind. Deshalb.
Noch hatte sie die Wahl. Noch konnte sie umkehren. Alles beiseiteschieben. Fernhalten. So tun, als wäre nie etwas passiert. Darin war sie gut. Doch Juli hatte den Stopper vergessen. Die Tür fiel zu, erwischte sie an der Schulter. Es tat nicht weh, trotzdem machte sie die Augen auf, funktionierte wieder, packte einen von den Hubwagen, die in der Mitte des Kühlzellenraumes standen, und zog ihn vor die offene Tür. Ab da lief alles automatisch, sie musste nicht mehr nachdenken: Bremse rein. Hochpumpen. Die Wanne mit der Leiche in einem Ruck auf den Wagen ziehen. Bremse raus. Etwas wegschieben, absenken.
Behutsam öffnete Juli den Reißverschluss des Bergesacks. Die Strangmarken sprangen ihr ins Auge, durchbohrten ihr Herz, genau wie das rote Haar und die blasse Haut. Erst nach einer Ewigkeit berührte sie mit den Fingerspitzen die Sommersprossen auf der Nase, strich dem Mädchen über das Haar und holte es vorsichtig aus dem Nacken, drapierte es um das fast...
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