Schweitzer Fachinformationen
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Viele richtungweisende Entscheidungen kündigen sich vermeintlich banal an: In diesem Fall mit einer Singdrossel. Ich hatte gerade im Herbst 1981 meinen Zivildienst bei Wolfgang Friedrich, dem Leiter des Naturschutzzentrums Möggingen des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) angetreten. An den Wochenenden ging ich meiner Leidenschaft, der Vogelkunde, nach. Anfang März 1982 leitete ich eine ornithologische Exkursion für vierzig junge Naturschützer aus Gerlingen in dem Heimat-Naturschutzgebiet meiner Jugend, dem Eriskircher Ried. Es war ein kalter, aber sonniger Tag. Wir hatten gerade mit dem Beobachtungsfernrohr überwinternde Singschwäne beobachtet. Im Gegensatz zu den heimischen Höckerschwänen haben die in Sibirien nistenden Singschwäne einen gelb-schwarzen Schnabel und sind sehr scheu. Das Eriskircher Ried ist einer der besten Orte in Süddeutschland, um diese schöne und stimmgewaltige Schwanenart zu beobachten.
Direkt neben dem Wanderweg entdeckten wir eine Singdrossel mit ihrer charakteristischen schwarz getupften Unterseite. Trotz unserer großen Gruppe flog sie nicht weg, und ich konnte sie mit meinem Spektiv formatfüllend präsentieren. Sie setzte zum Singen an, versuchte es, aber nach ein paar untypisch krächzenden Tönen fiel sie unter schweren epileptischen Krämpfen zu Boden. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Die Gruppe war verwirrt und geschockt - und ich auch.
Da ich erfahren in der Pflege verletzter oder kranker Vögel war, steckte ich die immer wieder sich schrecklich verkrampfende und schreiende Drossel in die Tasche meines Parkas und nahm sie mit nach Hause. Ich versuchte ihr mit Ruhe und Dunkelheit, mit Fettfutter und Wasser zu helfen. Doch egal, was ich tat - jede schnelle Bewegung meinerseits und schon das Wegziehen des Tuchs über der Ruhekiste führten zu neuen schweren Anfällen. Ich konnte ihr nicht helfen. Sie starb nach wenigen Stunden unter schrecklichen Krämpfen.
Für die örtliche Schwäbische Zeitung verfasste ich einen Artikel über »Rätselhaftes Vogelsterben am Bodensee«. Auf diesen kleinen Artikel erhielt ich viele Anrufe und Zuschriften von Menschen, die Ähnliches berichteten. Amseln, Graureiher, Mäusebussarde und Eulen starben offenbar unter denselben schrecklichen Symptomen. Nicht nur im Naturschutzgebiet Eriskircher Ried, sondern im gesamten westlichen Bodenseekreis. Darüber verfasste ich weitere Zeitungsberichte und bearbeitete das Thema nun auch im Rahmen meines Zivildienstes beim BUND ganz offiziell als Teil meiner Naturschutzarbeit: Über die lokale Ebene hinaus machten wir durch Pressemitteilungen bundesweit auf das rätselhafte Vogelsterben am Bodensee aufmerksam. In dem Maße, in dem mir immer neue tote und sterbende Vögel, aber auch Igel und Marder gebracht wurden, berichteten Radio, Zeitungen und Fernsehsender immer ausführlicher über das rätselhafte Vogelsterben am Bodensee.
Wichtig erschien mir, nicht abstrakt, sondern konkret und unmittelbar diesen realen Tod der Vögel am Bodensee zu zeigen. So dauerte es nicht lange, da kamen täglich mehrere Zeitungs-, Hörfunk- und Fernsehjournalisten vorbei. Entsprechend erschienen fast täglich erschreckende Fotos und Artikel in den Zeitungen. Rundfunk- und Fernsehbeiträge brachten das um sich greifende Vogelsterben in die Wohnzimmer.
Das Thema beschäftigte viele. Und alle, die sich ein wenig auskannten im internationalen Naturschutz, erinnerte es sehr an das von Rachel Carson im Jahr 1962 veröffentlichte Sachbuch Der stumme Frühling und die darin geschilderten Vergiftungserscheinungen durch Pestizide.
Es war ja wirklich unheimlich. Vögel fielen am Bodensee buchstäblich vom Himmel und von den Ästen. Ein lauter Knall, ein plötzliches Erschrecken, und die offensichtlich vergifteten Vögel erlitten einen epileptischen Anfall. Binnen weniger Wochen wurden mir mehrere Hundert tote oder sterbende Vögel gebracht: Mäusebussarde, Turmfalken, Habichte, Waldkäuze, Waldohreulen, Graureiher und - besonders auffällig - nahezu alle bei uns heimischen Drosselarten. Die Tiere kamen entweder bereits tot bei mir an oder starben wenig später qualvoll. Mit noch lebenden Vögeln suchte ich mehrere Tierärzte auf - erfolglos. Auch Dunkelheit und Ruhe brachten nur kurzzeitige Besserung. Sobald die Decke angehoben wurde oder ein lautes Geräusch den Vogel erschreckte, kam der nächste Krampfanfall. So etwas hatte ich noch nie erlebt - keinem einzigen der Tiere konnte ich helfen.
In der privaten Gefriertruhe meiner Mutter in unserer Friedrichshafener Wohnung lagerte ich die toten Vögel für eine spätere Untersuchung - und für die Medienarbeit. Meine Mutter, mein Bruder Gerd, aber vor allem meine Schwester Verena halfen bei der Pflege der unter Krämpfen leidenden, aber ausnahmslos sterbenden Tiere mit. Es war hoffnungslos. Langsam drohte die Gefriertruhe überzuquellen, und noch immer war unklar, was die Ursache für dieses Vogelsterben war.
Das Leid der Tiere wurde besonders bei den noch lebenden Mäusebussarden und Eulen deutlich. Ich entschied mich trotz der zusätzlichen Stresssituation für die Tiere, für Fernsehberichte die Folgen der offensichtlichen Vergiftung zu zeigen. Gerade die Fernsehaufnahmen einer unter Krämpfen sterbenden Schleiereule gingen den Menschen unter die Haut. Die Krämpfe und Schreie waren nur schwer zu ertragen, ein Albtraum. Aber ich sah keine andere Chance, als mit drastischen Bildern und einer fortgesetzten Berichterstattung die politisch Verantwortlichen aufzurütteln, um endlich die Ursachen aufzuklären und abzustellen.
Immer mehr Hinweise gingen bei mir ein, die den Verdacht auf ein Umweltgift als Ursache lenkten. Parallel zu den sterbenden Vögeln kamen in Gräben und Bächen Fische und Frösche ums Leben. Kleinere Fischsterben waren leider schon der Normalfall, sie hatte es bereits in den Vorjahren gegeben. Immer wieder schickten mir nun aber Augenzeugen Berichte, dass nach Spritzaktionen in den Obstplantagen Regenwürmer aus dem Boden kamen und sich krümmten - so wurden sie leichte Beute für die Amseln, Sing-, Mistel- und Wacholderdrosseln. Wenn die Vögel die offenbar vergifteten Würmer als Nahrung aufgenommen hatten, verhielten sie sich ungewöhnlich. Ihnen fehlte der Fluchtreflex, und später entglitt ihnen durch die Krämpfe die Kontrolle über ihren Körper. So wurden sie leichte Beute für Eulen, Habichte und Sperber, die dann ihrerseits mit Vergiftungserscheinungen reagierten. Mäusebussarde und Turmfalken starben wiederum an vergifteten Mäusen, die ihre Orientierung verloren, durch die Krämpfe aus ihren Erdhöhlen kamen und ziellos herumliefen. Ein Teufelskreis der Vergiftung - aber was war die Ursache?
Vor allem erschreckten mich mittlerweile eingehende Informationen von Landwirten, Ärzten, Naturfreunden und Spaziergängern aus den Vorjahren. Es gab offensichtlich seit über zehn Jahren im Frühjahr Beobachtungen von unter Krämpfen sterbenden Singvögeln, Graureihern, Greifvögeln und Eulen. Und es gab Ärzte, die mir berichteten, dass sie immer wieder zum Teil schwere Vergiftungen bei Landwirten behandeln mussten, die zuvor Pestizide gespritzt hatten.
Die Behörden gaben sich ahnungslos, und insbesondere aus dem Bauernverband und der Landwirtschaftsverwaltung wurde bezweifelt, dass das Vogelsterben etwas mit dem konventionellen Obstbau und seinen bis zu 20 Pestizidspritzungen pro Jahr zu tun haben könnte. Alle eingesetzten Mittel seien ja auf ihre Unbedenklichkeit hin untersucht, hieß es. Vor allem wurde auf das neue Prinzip »integrierter Pflanzenschutz« verwiesen. Dieser sollte sicherstellen, dass nicht mehr auf Verdacht, sondern erst bei klaren Hinweisen auf Krankheiten und Schädlinge eine »Behandlung mit Pflanzenschutzmitteln« erfolgte. Und stereotyp wurde auf den verantwortungsbewussten Umgang der Landwirte mit ausnahmslos ungefährlichen Mitteln für die heimische Tierwelt verwiesen. Doch wenn das alles so harmlos und geprüft war, wieso starben die Tiere?
Wenige Wochen nach dem Auffinden der ersten sterbenden Singdrossel erhielt ich einen anonymen Telefonanruf. In dem nur wenige Minuten dauernden Gespräch machte mich der Anrufer auf das ultragiftige Pestizid »Endrin« aufmerksam. Die Symptome bei den sterbenden Vögeln würden genau zu diesem Mittel passen. Wegen eines verstärkten Auftretens von Wühlmäusen seien nach seiner Kenntnis gerade in Intensivobstanlagen endrinhaltige Pestizide gespritzt worden. Ich möge, so seine Empfehlung, bevor er auflegte, ohne seinen Namen genannt zu haben, die toten Vögel doch mal auf Endrin hin untersuchen lassen. Erst Monate später meldete er sich erneut und erzählte mir den Grund für seine gewünschte Anonymität: Er war Beamter des Landwirtschaftsministeriums und für die Beratung der Obstbauern am Bodensee zuständig. Er wusste genau, was passiert war, wollte aber seinen Arbeitsplatz nicht gefährden.
Durch seinen Anruf hatte ich endlich einen ersten plausibel klingenden Hinweis. Seit Anfang März hatte ich alle Fundorte auf einer Karte eingetragen, so wie ich es von den Brutvogel-Bestandsaufnahmen gewohnt war. Doch bis zu diesem geheimnisvollen Anruf konnte ich kein Muster in den Fundorten erkennen. Nun klärte sich das Bild: Die Fundorte waren allesamt in oder am Rand von Apfel-Intensivobstanlagen. Auch der Fundort der ersten von mir im Naturschutzgebiet Eriskircher Ried entdeckten sterbenden Singdrossel grenzte unmittelbar an eine Intensivobstplantage an, die noch dazu innerhalb des Naturschutzgebietes als »gute landwirtschaftliche Praxis« von den Behörden geduldet wurde.
Ich wusste aus dem 1962...
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