Schweitzer Fachinformationen
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Einleitung:
Eine Veränderung des Klimas
Gewaltige Hagelkörner prasselten auf den harten Erdboden. Grelle Blitze machten die Nacht zum Tag - 73.700 von ihnen waren es an einem ausnehmend stürmischen Samstag, der nationalen Wetterbeobachtung zufolge. Und zwischen den Stürmen war die Hitze so intensiv, dass der Himmel selbst aus Feuer gemacht zu sein schien. Am Tag, als die Tour de France 2019 die Alpen erreichte, wurde für 80 der 96 französischen Festland-Départements eine Unwetterwarnung ausgegeben. Am Tag darauf schlossen, 35 Kilometer vom Etappenziel in Valloire entfernt, Schlammlawinen rund hundert Touristen ein, während in Paris die Shoppingwilligen auf den Champs-Élysées bei 42 Grad schmorten.
Es war ein Sommer der Extreme.
In Saint-Jean-de-Maurienne aber, zum Start der 19. Etappe, begrüßte ein blauer Himmel die Fahrer und hing 85 Kilometer lang über ihnen. Lediglich hoch oben auf dem Col de l'Iseran verloren die Schatten ein wenig von ihrer Schärfe. Dunkle Wolken brauten sich jenseits des Passes zusammen, aber da noch 44 Kilometer zu fahren waren, hatte Egan Bernal ganz andere Dinge im Kopf.
Bernal, der jüngste Fahrer im Feld der Tour, hatte im März die achttägige Fernfahrt Paris-Nizza gewonnen und anschließend bei der Katalonien-Rundfahrt den dritten Platz belegt. Danach war er ins weit entfernte Kolumbien zurückgekehrt, um sich in der Höhe auf den Giro d'Italia vorzubereiten. Doch am Samstag, dem 4. Mai, traf ihn in Andorra im übertragenen Sinne ein Donnerschlag, als er auf der Abfahrt vom Port d'Envalira stürzte. Er wusste sofort, dass er nicht nach Italien fahren würde.
Hinter ihm im Wagen fuhr sein Trainer Xabier Artetxe.
»Als ich bei ihm ankam, saß er auf der Straße. Er sagte: >Xabi, es tut mir leid. Das Schlüsselbein ist gebrochen.< Er erwähnte den Giro nicht einmal. Abends, noch bevor er sich dem Eingriff unterzog, wollte er ein Trainingsprogramm besprechen, das ihn zur Tour de France in Topform bringen würde. Unser Ziel war, so stark wie möglich in die letzte Tour-Woche zu gehen.«
Auf dem Iseran hielt sein Teamkollege Wout Poels das Tempo hoch, sodass sich die Gruppe der Favoriten wie ein sauber genähter Saum auseinanderzog, während weiter hinten die Nähte aufplatzten und ein Fahrer nach dem anderen abreißen ließ. Ein anderer Teamkollege, Geraint Thomas - der amtierende Tour-Sieger -, versteckte sich in Poels' Windschatten. Dahinter folgte Egan und hinter ihm wiederum ein Knäuel, das es irgendwie zu lösen galt.
Julian Alaphilippe hatte die Saison nicht damit zugebracht, sich nach und nach auf die hohen Anforderungen der großen dreiwöchigen Landesrundfahrten vorzubereiten. Er hatte das ganze Frühjahr über explosive, hart umkämpfte Etappen und Eintagesrennen gewonnen. Dann war er zur Tour gekommen und hatte zwei verwegene Etappensiege geholt, ohne sich auch nur im Geringsten um das Prinzip der ökonomischen Fahrweise zu scheren, das nach gegenwärtig herrschender Meinung unerlässlich war für den Erfolg bei einer Grand Tour. Er war so stark, dass die Frage aufkam: Könnte die gegenwärtig herrschende Meinung womöglich irren?
Ja, 24 Stunden zuvor hatte er auf dem Col du Galibier Anzeichen von Schwäche gezeigt und ein paar Sekunden hinter seinen Rivalen den Pass überquert, aber auf der langen Abfahrt nach Valloire hatte er wieder zur Gruppe aufgeschlossen und vor dem Start der 19. Etappe lag er in der Gesamtwertung weiterhin eine Minute und 30 Sekunden vor Egan Bernal, Geraint Thomas folgte weitere fünf Sekunden dahinter. Thomas und Bernal waren in der Überzahl und mussten diesen Vorteil nutzen, allerdings ohne dass andere von ihrer Arbeit profitierten. Aber wie? Würde es ihnen an diesem Tag nicht gelingen, Alaphilippe zu distanzieren, und das deutlich, hätte er alle Chancen, die Tour zu gewinnen.
Bei einer Steigung von 9,3 Prozent und 43,4 noch zu fahrenden Kilometern machte Geraint Thomas sich auf, um diese Frage zu beantworten: Er ging an Poels vorbei und zog davon. Egan scherte zur Seite aus, lockte Alaphilippe nach vorn und schlüpfte an dessen Hinterrad. Von dort aus sah er zu, wie sich der nächste Abschnitt des Rennens entfaltete.
Der Österreicher Gregor Mühlberger führte seinen deutschen Teamkollegen Emanuel Buchmann und die anderen Favoriten zurück an Thomas' Hinterrad. Dann stahl sich der Niederländer Steven Kruijswijk vorbei und schaute sich um, so als wollte er eine Reaktion provozieren. Thomas beschleunigte, Mühlberger setzte erneut nach - und dann tat sich ein Stück weiter hinten eine Lücke auf.
Auf den Pedalen stehend, sein Rad hin- und herwuchtend, ist Alaphilippe in Schwierigkeiten.
Egan weicht nach rechts aus, beschreibt einen großen Bogen um das sich abmühende Gelbe Trikot und schließt im Nu zu Buchmann auf. Mühlberger, Thomas und Kruijswijk schauen sich einer nach dem anderen um - und Bernal tritt erneut an.
Noch immer im Sitzen schießt er an Kruijswijk vorbei. Um die Lücke zu schließen, geht der Niederländer für zwölf mühsame Pedalumdrehungen aus dem Sattel. Dann setzt auch er sich und blickt hinab, um den Schmerz zu verbergen - und ergibt sich. Die Anstrengung hat ihn tief in die Sauerstoffschuld gebracht. Mit nur geringer Bewegung des Oberkörpers fährt Egan Bernal davon. Es sind noch 42,5 Kilometer zu fahren auf der Etappe, fünf bis zum Gipfel des Iseran.
Auf den folgenden vier Kilometern geht er an den stärksten Fahrern aus der ehemaligen Ausreißergruppe vorbei - an namhaften Siegfahrern wie Vincenzo Nibali, Simon Yates, Warren Barguil und seinem Landsmann Rigoberto Urán. Manche können ihm einen Moment lang folgen, alle müssen schließlich abreißen lassen. Er geht allein über den Col und sichert sich die Zeitbonifikation von acht Sekunden. 58 Sekunden später fahren Thomas, Kruijswijk und Buchmann im Windschatten von Laurens De Plus, Kruiswijks Helfer in den Bergen, über die Passhöhe. Alaphilippe kommt zwei Minuten und sieben Sekunden nach Bernal oben an: Sein Rückstand im Gesamtklassement beträgt in diesem Moment virtuell 48 Sekunden, doch angesichts einer 15 Kilometer langen Abfahrt vor dem 7,4 Kilometer langen Schlussanstieg zum Ziel in Tignes kann an diesem Tag noch einiges passieren.
Aber während die Fahrer die Südseite des Iseran hinaufkletterten, war im Norden das Unwetter aufgezogen. Binnen einer sintflutartigen Viertelstunde gossen dunkle Wolken 15 Zentimeter eisiges Wasser über der Rennstrecke aus. Schneepflüge schoben die Fluten von der Straße, aber hinter ihnen kamen nur noch mehr nach. Schlimmer noch, 13,5 Kilometer vor dem Ziel, hinter dem Brévières-Tunnel, hatte ein Erdrutsch die Straße unter einem halben Meter Geröll begraben. Es würde keinen Schlussanstieg und keine Zielankunft in Tignes geben. Die Etappe wurde abgebrochen, die Fahrer wurden informiert und die Zeitabstände oben am Col de l'Iseran gewertet: Egan Bernal war der neue Träger des Gelben Trikots. Zwei Tage später, auf den Champs-Élysées, feierte er den ersten Tour-de-France-Sieg für Kolumbien und Lateinamerika.
Es war eine außergewöhnliche Tour gewesen, geprägt nicht nur von Wetterkapriolen, sondern auch von einer langfristigen Klimaveränderung. Und Egan Bernal, der jüngste Tour-Sieger seit 115 Jahren, war mit 22 Jahren und 195 Tagen jung genug, um eine neue Ära einzuläuten.
Angesichts so talentierter Fahrer wie Daniel Martínez, Sergio Higuita und Iván Sosa - nicht zu vergessen Jhonatan Narváez aus Ecuador -, die ebenfalls den Durchbruch in der WorldTour geschafft haben, und einer ganzen Armee junger Hoffnungsträger nach ihnen ist es eine Ära, die durchaus ein Jahrzehnt oder mehr andauern könnte. Wobei sie streng genommen längst begonnen hatte. Schließlich hatte, nur wenige Monate vor Egans Triumph bei der Tour, mit Richard Carapaz ein Fahrer aus Ecuador den Giro gewonnen, der einige Jahre in der kolumbianischen Radsportszene unterwegs gewesen war, bevor er nach Europa ging - und der so nah der Grenze zu Kolumbien lebte, dass er sie auf seinen Trainingsfahrten mehrmals am Tag überquerte. Und vor ihm, in den sechs Saisons von 2013 bis 2018, sammelte ein Quartett von Egans Landsleuten - Nairo Quintana, Rigoberto Urán, Esteban Chaves und Miguel Ángel López - nicht weniger als 13 Podiumsplatzierungen bei den drei großen Rundfahrten in Italien, Frankreich und Spanien.
Es gilt bisweilen als einfacher, die Anfänge von etwas zu erkennen als deren Enden. Aber Anfänge werden erst im Nachhinein als solche wahrgenommen und Egans Sieg kann als das Einfahren der Ernte dessen angesehen werden, was zahllose Vorgänger gesät haben. Seit der damals 23-jährige Nairo Quintana im Jahr 2013 als erster Kolumbianer den zweiten Platz bei der Tour de France belegt hatte, galt es nur als eine Frage der Zeit, bis der erste Kolumbianer die Rundfahrt gewinnen würde. Ähnliches wurde schon 1988 gesagt, als Fabio Parra als erster Kolumbianer auf dem Podium stand. Alle drei - Fabio, Nairo und Egan - stammen von dem gleichen Hochplateau nördlich von Bogotá. Wenn man sie nebeneinander betrachtet, könnte man sogar meinen, sie wären verwandt.
Aber es gibt noch weitere Anfänge, denn es war ein Sohn aus Egans Heimatstadt Zipaquirá, circa 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt gelegen, der 1949 über die Tour de France las und ein nationales Etappenrennen in Kolumbien anregte. Efraín Forero Trivino, Sohn eines Apothekers und Goldmedaillengewinner in der Mannschaftsverfolgung bei den Zentralamerika- und Karibikspielen von 1950, trug die Idee an den Sportkorrespondenten der landesweiten Tageszeitung El Tiempo heran. Seine Beharrlichkeit wurde im Oktober 1950 belohnt, als er aufgefordert wurde, den Nachweis zu erbringen, dass so etwas überhaupt machbar wäre,...
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