1. KAPITEL
Saralyn Martin hatte seit zwanzig Jahren keinen Bikini mehr getragen.
Jetzt stand sie in einem begehbaren Kleiderschrank und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. Auf dem riesigen Bett in dem luxuriösen Schlafzimmer nebenan lag edle Leinenbettwäsche, und bodentiefe Fenster boten einen atemberaubenden Ausblick auf einen weißen Sandstrand mit smaragdgrünen Palmen. Urlaub allein auf einer luxuriösen Tropeninsel? Genau das war ihr Ziel!
Da sie die letzten zwei Jahrzehnte in Kalifornien gelebt hatte, besaß sie viele Badeanzüge, alles Einteiler. Ihr fehlte das Selbstvertrauen, mehr Haut zu zeigen. Aber sie war hier, um ihr Leben zu verändern und ihre Komfortzone zu verlassen und eine neue Frau zu werden! Für diesen zweiwöchigen Urlaub waren Bikinis die beste Wahl, und sie hatte vor, jeden Tag einen anderen zu tragen.
Sie zog den Bauch ein und richtete sich auf. Sie war nicht ganz so schlank, wie sie es sich gewünscht hätte, aber kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag und ganz offiziell in den Wechseljahren durfte sie sich bestimmt ein kleines Polster gönnen.
Nicht nach Hollywood-Maßstäben. Aber zum Glück war sie keine Hollywood-Ehefrau mehr.
Sie seufzte, ließ die Schultern sinken und den Bauch locker. War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, sich von ihrem Ehemann, dem Fernsehstar, scheiden zu lassen? Zwanzig Jahre Ehe hatte sie hinter sich, und die Hälfte dieser Zeit war er ihr untreu gewesen.
Eineinhalb Jahre war es her, dass Brock auf ihren Wunsch hin das Haus verlassen hatte. Vor einem Monat war die Scheidung rechtskräftig geworden. Er hatte mehr bekommen, als er verdiente: das Haus in Los Angeles, das Ferienhaus in der Schweiz, ihre Freunde und ein Stück ihrer Würde.
Bis zum Ende des Sommers musste Saralyn aus dem gemeinsamen Haus ausziehen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte, aber Kalifornien und die damit verbundenen schlechten Erinnerungen wollte sie hinter sich lassen. Mit einer Million Dollar als Abfindung konnte sie ganz neu anfangen.
Dieser Neuanfang war einer der Gründe, warum sie jetzt hier in dieser Luxusvilla auf einer privaten Karibikinsel stand. Der andere hatte mit ihrer Karriere zu tun, die Frage, auf die sie in den zwei Wochen ihres Aufenthalts eine Antwort finden musste.
Dank einer kurzfristigen Planänderung ihrer Freundin Juliane hatte Saralyn die ganze Insel für sich allein. Eigentlich hatte Juliane geplant, mit ihrem Freund hier einen romantischen Urlaub zu verbringen.
Vor zwei Tagen hatte diese jedoch einen Anruf erhalten, in dem ihr ein Platz bei einer sechsmonatigen Forschungsreise in die Antarktis angeboten wurde. Als Meeresbiologin konnte Juliane sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Sie wollte die Chance wahrnehmen und rief Saralyn an, die das großzügige Angebot sofort annahm.
An diesem Tag erschien die Autobiografie ihres Ex, die sie als Ghostwriterin geschrieben hatte. Saralyn betrachtete spöttisch ihr Spiegelbild und schimpfte im Stillen auf ihre Dummheit, denn der Name des Autors auf dem Cover würde der ihres Ex sein: Brock Martin.
"Vergiss es", sagte sie zu ihrem Spiegelbild. "Er ist aus deinem Leben verschwunden. Schlag ein neues Kapitel auf."
Zwei Wochen blauer Himmel, türkisfarbenes Wasser, weißer Sand und ein tropisches Klima erwarteten sie. Auf dieser Insel war eine berühmte Geschichte verfilmt worden, die sie geschrieben hatte - ebenfalls als Ghostwriterin. Sie war stolz auf ihren Erfolg - auch wenn sie vertraglich verpflichtet war, es niemandem zu erzählen, nicht einmal Juliane. Und sie freute sich, endlich diesen Ort zu besuchen, mit dem sie sich verbunden fühlte.
In diesen zwei Wochen wollte sie ihr Leben in den Griff bekommen. Wohin sollte sie gehen, wenn sie aus dem Haus auszog, das zwanzig Jahre lang ihr Zuhause gewesen war? Würde sie es wagen, eine neue Liebe wieder in ihr Leben zu lassen?
Wie sollte sie als introvertierte Frau mittleren Alters wieder anfangen zu daten? Und sollte sie das Angebot annehmen, als Ghostwriterin ein weiteres Buch für eine New-York-Times-Bestsellerautorin zu schreiben? Oder würde sie es wagen, den Auftrag abzulehnen und stattdessen ihr eigenes Buch zu schreiben? Die Geschichte über einen historischen Diebstahl, die ihr seit Jahren durch den Kopf ging.
"Du wirst es schaffen", versicherte sie ihrem Spiegelbild. "Das weiß ich."
Sie nickte, griff nach dem übergroßen rosafarbenen Seidenschal in ihrem Koffer und begann, den Stoff um ihre Hüften zu wickeln. Dann hielt sie inne. Hier würde keiner ihre Cellulite sehen und bemerken, dass ihre Brüste nicht mehr so groß waren wie vor zehn Jahren. Und wer brauchte schon Make-up? Sie war jetzt ungebunden und wollte ihre Freiheit genießen.
Sie warf den Schal aufs Bett. Vor einer halben Stunde hatte sie zum ersten Mal einen Fuß auf die Insel gesetzt. Der Fahrer des Wassertaxis hatte sie kurz durch die Villa geführt und ihr die luxuriöse Ausstattung gezeigt - unter anderem einen voll ausgestatteten Weinkühlschrank -, aber sie kannte den Grundriss längst. Sie hatte den Film darüber fünfmal gesehen.
Langsam ging sie durch den Wohnbereich. Der riesige halbrunde Raum erstreckte sich über drei Stockwerke. Die Aussicht war atemberaubend. In der Küche blieb sie stehen und betrachtete einen unscheinbaren schwarzen Kasten unter einem Schrank.
Wie der Fahrer erzählt hatte, konnte man darin seine elektronischen Geräte verstauen. Die Box blockierte das Mobilfunknetz der Insel. Kein Internet, keine SMS, keine Telefonate würden sie stören.
Sie drückte ihr Handy an die Brust und betrachtete die Box. Zwar schaute sie nicht ständig auf ihr Handy, aber sie hatte es gern bei sich, um Nachrichten oder Anrufe von ihrer Mutter zu empfangen. Andererseits hatte sie versprochen, sich erst zu melden, wenn sie sich eingelebt hatte.
"Ich werde diesen Urlaub genießen", sagte sie sich. Dann legte sie das Handy und ihren Laptop in die Kiste und schloss den Deckel.
Ein von Solarlampen gesäumter Holzsteg führte sie unter einem Palmenbogen hindurch zum Strand. Während sie mit den Zehen wackelte, genoss sie die sinnliche Wärme unter ihren nackten Füßen.
Sie ließ sich in den feinen perlweißen Sand sinken, schaute hinauf zu dem fast unecht blau wirkenden Himmel und breitete die Arme aus. In ihrem langen braunen Haar, das sie ausnahmsweise nicht zum Pferdeschwanz gebunden hatte, spürte sie die sanfte Brise.
"Danke, Juliane", sagte sie.
Dann entdeckte sie eine Reihe hölzerner Liegestühle und ging zu ihnen. Doch anstatt sich zu setzen, entschied sie sich, zuerst ins klare, türkisblaue Wasser zu waten. Warm umspülte es ihre Knöchel.
Das fühlte sich zu gut an, um wahr zu sein. In den zwanzig Jahren ihrer Ehe hatten sie und Brock nur selten Urlaub gemacht. Einmal waren sie in die Schweiz gefahren, und er hatte seine unausstehlichen Freunde mitgenommen.
Viele ihrer Romane hatten an wunderschönen Orten gespielt, aber für ihre Beschreibungen hatte Saralyn immer nur im Internet recherchiert. Die Realität war . atemberaubend.
Umgeben von traumhafter Natur, ohne Ablenkung durch Handy oder Laptop. Das war himmlisch! Erst in diesem Moment begriff sie, wie sehr sie diese Auszeit brauchte, und Tränen rannen über ihre Wangen.
"Auf ein neues und aufregendes Kapitel in meinem Leben", sagte sie laut. Mit langen Schritten, die das Wasser aufspritzen ließen, watete sie zurück ans Ufer und ließ sich auf einer Liege nieder.
Die Insel gehörte einem milliardenschweren jungen Erfinder und bot den ultimativen Luxus. Juliane hatte sich gegen einen Koch vor Ort entschieden, deshalb würde man Saralyn jeden Morgen das Essen für den Tag in einer Kiste liefern.
Es wurden verschiedene sportliche Aktivitäten angeboten, darunter Wandern, Jetski fahren, Schnorcheln, Windsurfen. Direkt neben einem Swimmingpool gab es sogar einen Badmintonplatz.
Angeblich konnte man überall auf der Insel die künstliche Intelligenz für Befehle einsetzen, die dann ausgeführt wurden. Außerdem gab es ein Spa und sogar Yogakurse, die über Videochat gegeben wurden. Alles war äußerst luxuriös und passte sich perfekt der natürlichen Umgebung an.
Sie grub die Zehen in den Sand, schloss die Augen und genoss den Kuss der Sonne auf ihren Lidern. Daran könnte sie sich gewöhnen. Einen Moment lang konzentrierte sie sich ganz auf die Wärme, den Duft des Meeres, die Laute um sie her und nahm ihren ruhigen Herzschlag wahr. Ausnahmsweise schlug ihr Herz nicht wie wild. Wegen ihrer Panikattacken vor allem beim Autofahren war sie im Lauf der Jahre buchstäblich zu einer Einsiedlerin geworden. Sie hatte gelernt, allein zu sein, auch in ihrer Ehe.
Jetzt bist du wirklich allein. Auf einer großen Insel.
Sie hatte sich auf eine private Insel zurückgezogen, weit weg von der Zivilisation, denn das Festland war eine Viertelstunde mit dem Boot entfernt, und wenn jemand hierherkäme, wäre sie ihm ziemlich ausgeliefert, unfähig, sich zu verteidigen .
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Worauf hatte sie sich eingelassen? Kopfschüttelnd verdrängte Saralyn den verrückten Gedanken. Sie neigte dazu, das Schlimmste anzunehmen, und ihr Körper reagierte, als würde es tatsächlich passieren. Um ihren schnellen Herzschlag zu beruhigen, presste sie sich eine Hand auf die Brust.
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