Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein sonniger Tag Anfang Juni. In der Nähe der Siedlung war der Schnee geschmolzen, stellenweise sogar getrocknet, in der Taiga jedoch konnte man in den Niederungen noch hüfttief einbrechen. Die zweite Woche zogen Schwärme von Gänsen und Enten eilig über den Jenissej, zur Tundra, zu den nahen Ufern des Arktischen Ozeans. Sie trugen auf ihren Flügeln keinen frühen, keinen verspäteten, sondern den ganz normalen Frühling des Jahres 1949. Mehr als zweitausend Werst flogen die Vögel über den gewaltigen sibirischen Fluss, der schlammig und menschenleer war, so wie immer im Frühling. Hier, in der Taiga-Siedlung Jermakowo - fünf Hütten und zwei lange Baracken auf dem hohen Ufer - ging es hoch her wie sonst nirgends.
Direkt an die Eismassen waren drei Lastkähne vertäut. Über Landestege, die schief und krumm zwischen Presseishügel gelegt worden waren, liefen Menschen mit Lasten auf den Schultern und rollten Fässer. Dampfwinden zogen aus den Laderäumen Kisten und Ballen. »Hiev!« oder »Ab!« tönte es mal fröhlich, mal mit harschen, antreibenden Fluchworten durch die Frühlingsluft. Die Sonne brannte, die Eisbrocken zerflossen, über nackte Männerrücken lief der Arbeitsschweiß.
So weit das Auge reichte, war das Ufer bei Jermakowo vom starken Eisgang überfrachtet. Weiße, grünliche, doch vor allem schmutzige Eisbrocken hatten sich zu einer unebenen, stellenweise haushohen Wand aufgetürmt, die bedrohlich über dem Wasser hing. Kreischend und juchzend hüpfte eine Kinderschar zusammen mit bleichfelligen Hunden über die Schneehügel.
Selbst in der grellen Sonne sah der Jenissej unwirtlich aus. Die Eismassen waren zum größten Teil vorbeigezogen, aber das Wasser stieg immer noch. Kleine Seitenflüsse brachen durch die Mündungsengstellen, warfen einen vielfarbigen und gefährlichen Wust von Eismassen in den Jenissej. Zeitweise entstanden auf dem Fluss ganze Felder mit aufragenden, winterlich zackigen Presseishügeln und darin eingefrorenem Gestrüpp von Büschen.
Eine solche Eisscholle, schwer und kompakt, strebte auf den sandigen Schweif der Insel zu, peitschte dabei an ihren Rändern verschlammtes Wasser auf. Über die Eisscholle huschte ein Hase. Die Leute hörten auf zu arbeiten. Zwei Seeadler staksten ungeschickt mit ausgestreckten Flügeln über das Eis. Der Hase gab nicht auf, verkroch sich hinter den Eisbrocken. Dort wollten sie ihn schnappen. Er sprang hervor und entschwand erneut in Deckung. Sowohl der Hase als auch die Raubvögel waren nass.
Am Kap der Insel schwamm die Eisscholle dem Ufer zu, verlangsamte ihre Fahrt, vollzog eine Drehung und kroch nun in den ruhigen Durchfluss bei Jermakowo. Der Hase preschte mit angelegten Ohren auf die rettenden Büsche zu. Verzweifelt wollte er wie ein Kanonenschuss über das Wasser auf die Insel gelangen. Nur knapp verfehlte er sein Ziel, plumpste spritzend ins Wasser und wurde sofort kopfüber in die Strömung gezogen. Die Seeadler, die leicht mit ihren Flügeln zusammenstießen, flogen scheinbar schwerfällig, doch rasch auf, und schon zog einer mit ausgestreckten Krallen das graue, zappelnde Knäuel aus dem Wasser. Das Langohr schien in seinen Krallen winzig, es schlug verzweifelt um sich und schrie sogar, wie viele meinten, verstummte jedoch rasch und hing nun wie ein nasser Lappen herab.
Die Frauen am Ufer waren mit Blick auf die davonfliegenden Raubvögel erstarrt. Unteroffiziere und Wachschützen mit entkleideten, bleichen Oberkörpern, in Schirmmützen mit roten Rändern und Sternen, reagierten überheblich, als hätten sie ihn selbst geschnappt.
»Ausgehüpft!«
»Haha! Ein Hund, ein guter, hätte ihn, zack, sofort gekriegt.«
Eine Gruppe von Gefangenen zertrümmerte Eishaufen unter der Anlegestelle. Auch sie hatten aufgehört zu arbeiten.
»Futtert der etwa den ganzen Hasen allein?« Ein kahl rasierter Bursche starrte unablässig zum Geschehen.
»Oder er bringt ihn dir.«
»Schluss mit Qualmen, meine Fresse!«, erschallte der Ruf des Brigadiers. »Noch nie 'n Hasen gesehen?«
Das lehmige Ufer von Jermakowo erhob sich nicht steil, sondern sanft vom Fluss. Kahl wie überall am Jenissej, war es vom Eisgang durchfurcht. Nur Gras und Steine. Einen Wald sah man nirgends in Wassernähe. Die Siedlung Jermakowo befand sich in einer günstig gelegenen Senke zwischen Taiga-Hügeln am Flüsschen Jermatschicha, das in den tiefen und schiffbaren Durchfluss bei Jermakowo mündete.
Die ersten Lastkähne aus Turuchansk waren am Vortag eingetroffen. Sie wurden nun entladen - Zelte, Eisenöfen, Stacheldrahtrollen, Lebensmittel in Kisten und Säcken. Zum sonntäglichen Arbeitseinsatz waren alle geholt worden, jeden Tag erwartete man große Karawanen aus Krasnojarsk. Es gab keinen Platz zum Entladen - keine Anlegestellen, keine Lagerhäuser -, am Ufer erstreckte sich die undurchdringliche Taiga.
Ein junger Wachschütze stieg mit einem schweren Sack auf den Schultern den Landesteg hinab. Der gut aussehende Mann mit ausrasiertem Nacken und langem blondem Schopf hatte am Vortag im Speisesaal eine froh gestimmte Serviererin kennengelernt - Njura hieß sie, eine Zivilbeschäftigte aus Turuchansk. Während er nun den Sack trug, stellte er sich vor, wie er im Sommer Njura auf einem Bötchen zum Baden an die sandige Insel rudern würde. Bei diesen Gedanken wären ihm fast die Beine eingeknickt. Der Wachschütze leistete schon das zweite Jahr seinen Wehrdienst, immer an abgelegenen Lagerpunkten, hatte nur männliche Häftlinge und Natschalniks1 zu Gesicht bekommen. Er konnte noch nicht glauben, hierher versetzt worden zu sein. Mit Njura hatten gestern zwar alle gescherzt, auch die Offiziere, aber trotzdem hoffte er, ja, hatte sogar bemerkt, dass er dem Mädchen gefiel. Er warf den Sack mit angehärtetem Zement auf einen Haufen und schaute Richtung Speisesaal, wo seine Njura arbeitete, bekam einen Sack ab, der von den Schultern eines anderen flog, und mit froh gelauntem, nervösem Beben im ganzen Körper lief er über den schwankenden Steg auf den Lastkahn.
Bei diesem sonntäglichen Einsatz arbeiteten auch die Bewohner der Siedlung mit, ihnen waren für diesen Tag je ein Pfund Brot und eine Fleischkonserve versprochen worden. Der stellvertretende Leiter der Baustelle 503, der kleine und hagere Hauptmann des Innenministeriums Jakow Semjonowitsch Kligman, der selten eine Uniform trug, lief mit einem Koppel umgürtet umher. Von Zeit zu Zeit packte er zusammen mit anderen ein schweres Sperrstück an und schleppte es unter den Kommandos des Brigadiers. Dann wieder stand er da, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn unter der Schirmmütze und betrachtete sorgenvoll das unzugängliche Taiga-Ufer, das es zu bezwingen galt.
Am Ufer des Jenissej entstand das Straflager für den Eisenbahnbau »Jenissej-SheldorLag«. Es handelte sich um eine neu geschaffene Struktureinheit des Innenministeriums und bestand aus dem Jenissej-Besserungsarbeitslager und der geheimen Baustelle 503.
Hauptmann Kligman diente wie die meisten Offiziere des Bauvorhabens gleichzeitig in zwei Positionen - er war stellvertretender Vorgesetzter des Straflagers und leitete die Abteilung Baustoffversorgung. Wie kein anderer wusste er, wie viele Schiffe und Lastkähne mit Material, Ausrüstung und lebendem »Spezkontingent«2 gerade unterwegs waren, und hatte absolut keine Ahnung, wo er das ganze Hab und Gut entladen sollte. Und er - selbstverständlich Kommunist und Atheist - flehte kleinmütig jemanden ganz, ganz oben an, er möge die Ankunft der Fracht um wenigstens ein, zwei Tage verschieben.
Das Hauptbüro der Baustelle 503 lag hundert Kilometer den Jenissej abwärts in Igarka. Es nannte sich Direktion Nord der Hauptverwaltung des Lager-Eisenbahnbaus des Innenministeriums der UdSSR. Auch dort waren umfassende Arbeiten im Gange: der Ausbau von Straßen, Anlegestellen und Lagerhallen, eilige Errichtung von Unterkünften für Offiziere und freiwillig zugezogene Fachleute, die Schaffung eines großen Verwaltungsgebäudes sowie die Erweiterung des Durchgangslagers von Igarka entsprechend den bevorstehenden Erfordernissen, sodass man dort siebentausend Bauarbeiter unterbringen konnte.
Ende Mai, als der Jenissej noch ruhte, war die gesamte Obrigkeit von Jermakowo zu einer Beratung nach Igarka geflogen, hatte jedoch nicht so schnell zurückkehren können: Der Jenissej war in Bewegung gekommen und hatte den Flugplatz auf dem Eis mit sich gerissen. Als Verantwortlicher befand sich jetzt in Jermakowo nur Hauptmann Kligman, zusammen mit einem Leutnant des NKWD3 sowie zwei Dutzend Wachschützen.
Der mächtigste Fluss Russlands fließt von Süd nach Nord, deswegen ist das Frühjahr hier immer beschwerlich. In Krasnojarsk beginnt der Frühling im April, aber flussabwärts, in Dudinka, fängt er erst zwei Monate später an, und die...
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