Schweitzer Fachinformationen
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Montag, den 5. Juni 1967
Man glaubt es mir oft nicht, aber es ist wahr: Ich bin Ofenwart im Krematorium. Städtischer Angestellter. Meine Mutter hätte sich nichts Besseres für mich wünschen können. Nun ja, vielleicht doch lieber Straßenbahner oder Lokführer, aber ich gehöre der Stadtverwaltung an, und das ist gut so. Ob es unheimlich ist? Ja, anfangs war es wohl unheimlich, doch man gewöhnt sich an die Arbeit, sie wird schließlich ebenso langweilig wie jede andere auch.
Vor einiger Zeit stand in einer Zeitung, Ofenwarte seien zuverlässige Menschen, die ihrer geregelten Arbeit nachgehen. Es geschähen dabei keine besonderen Dinge. Ich will gleich bekennen, daß es bei uns doch der Fall ist. Larsen und ich haben ein ausgezeichnetes kleines Geschäft. Wenn wir nur eine Bestattung haben - übrigens meistens, denn wir arbeiten in einer Vorstadtgemeinde, wo größtenteils jüngere Leute wohnen -, bringt er den Leichenwagen her und läßt den Schlüssel stecken. Wir leeren den Sarg und verladen ihn in den Wagen. Niemand kann uns sehen. Der Friedhof liegt in einem Villenviertel und ist von hohen Mauern umschlossen. Es kommt selten jemand auf den Friedhof. In der Regel tun wir es abends nach der Verbrennung. Und wer würde schon zwei Männer, die einen Sarg aufladen, fragen, wohin sie damit wollen? Nein, das Geschäft ist wasserdicht.
Für jeden Sarg bekommen wir zweihundert Kronen. Der Leichenbestatter schlägt bei jedem Sarg mindestens hundert Kronen heraus. Larsen und ich teilen die Einnahme. Alle sind zufrieden. Dem einzigen, dem wir etwas wegnehmen, ist es gleichgültig. Wenn man schon stiehlt, so kann es nichts Humaneres geben, als es den Toten zu nehmen und es den Lebenden zukommen zu lassen.
Larsen weiß nicht, daß ich mir auch manchmal ein Schmuckstück aneigne, wenn er nachmittags nicht da ist. Den Schmuck verkaufe ich einem Goldschmied. Er schmilzt das Gold ein, und die Steine werden umgeschliffen. Er fragt nie, woher ich die Sachen habe; aber da er mir nur ein Drittel vom Marktpreis dafür gibt, dürfte er sich wohl darüber klar sein, daß ich ihm nicht Großmutters Firlefanz anbringe. Ich habe gehört, daß man in anderen Ländern auch die Goldfüllungen aus den Zähnen entfernt, doch da ziehe ich eine Grenze. Was zuviel ist, ist zuviel.
Heute nachmittag soll eine vornehme ältere Dame ihre letzte Fahrt im Aufzug machen. Eine stille Trauerfeier im engsten Familienkreis. Der schöne Eichensarg steht schon seit vorigem Samstag in der Kapelle. Dafür müßten wir eigentlich mehr als 200 Kronen bekommen, denn er hat beim Einkauf mindestens 600 gekostet; aber wir haben einen Einheitspreis abgemacht. So geht alles leichter.
Ich ging schon mittags um zwei zur Kapelle. Larsen rief mich vormittags an und sagte, er könnte nicht kommen. Es war wieder seine Magensäure. Er hat nicht die richtigen Nerven für all das. Er ist mein einziges Sicherheitsrisiko. Ich sagte ihm, ich könnte es allein erledigen, und er hängte erleichtert ein.
Als ich die Kapellentür aufschließen wollte, sah ich, daß jemand daran herumgefingert hatte. Herumfingern ist milde gesagt, die Tür war nämlich mit einem Stemmeisen aufgebrochen worden. Ich ging rasch hinein und schaute mich um, um festzustellen, ob etwas abhanden gekommen war. Wirklich eine Frechheit, in eine Kapelle einzubrechen. Es fehlten nur zwei große Messingleuchter auf dem Altar. Das war nicht weiter schlimm, da wir im Keller Ersatz haben. Als ich die beiden anderen holte, fiel mir ein, daß ich die Polizei von dem Diebstahl verständigen mußte.
Der Beamte, mit dem ich sprach, schrieb umständlich meine Meldung nieder und sagte, es werde jemand kommen und sich die Sache ansehen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß am Nachmittag eine Trauerfeier stattfinden würde und daß ich danach meine Arbeit zu verrichten hätte. Wir vereinbarten, daß ich morgen um zehn in der Kapelle zur Verfügung stehen würde.
Kurz nach diesem Telefongespräch kam der Pfarrer mit dem Küster. Beide regten sich über den Einbruch sehr auf, and wir sprachen eine Weile darüber. Dann arrangierten der Küster und ich die Blumen und Kränze. Das dauerte nicht lange, weil es nicht viele waren. Der Pfarrer zog sich derweil in seiner kleinen Kammer um, und als er in seinem schwarzen Talar wieder auftauchte, versammelten sich draußen auf dem Friedhof gerade die ersten Trauergäste.
Der Pfarrer war in einer schwarzen Stimmung, in seiner Begräbnisstimmung. Er ist wie ein Chamäleon. Er nimmt die Farben seiner Umgebung an. Schwarz und düster bei Bestattungen. Heiter und munter bei Trauungen. Feierlich bei der Konfirmation. Hellrot und leutselig bei der Taufe. Streng und gottesfürchtig bei Gemeinderatssitzungen. Mild und nachsichtig beim Zusammensein mit anderen Menschen. Ich kenne keinen, der so in seinem Beruf aufgeht wie er. Nur Gott mag wissen, wie er in Wirklichkeit ist. Der Küster ist immer derselbe. Grau, trist und säuerlich, als ob er eingewachsene Zehennägel hätte. Er äußert selten etwas anderes als Psalmenverse; er kann sie, glaube ich, fast alle auswendig.
Als die kleine Trauergemeinde vollzählig versammelt war, zog ich mich dorthin zurück, wo ich hingehörte - in den Keller. Dort unten ist es ganz gemütlich. Saubere, weißgekalkte Wände. Kein grelles Tageslicht. Die Fensterscheiben sind aus Mattglas, aber zwei Neonröhren geben alles Licht, das man im Bedarfsfall braucht. Unten endet auch der Aufzug. Für die Toten. Die Lebenden müssen die Treppe benutzen.
Ich hängte meinen Rock in den Garderobeschrank und zog meinen Kittel an. Dann machte ich das Feuer an. Seit es Ölfeuerung gibt, ist es keine große Sache mehr, im Krematorium Ofenwart zu sein. Früher, als man noch mit Kohle feuerte, war es eine höllische Plackerei. Außerdem schmutzig. Jetzt drückt man auf einen Knopf, und die Feuerung ist automatisch in Gang. Es geht leichter und schneller, wenn der Ofen vorgewärmt ist.
Danach setzte ich mich hin und wartete. Ich zündete mir eine Zigarette an und blätterte in meiner Zeitung. Orgelmusik und der kühle Psalmengesang klangen schwach zu mir herunter. Die Orgel ließ die Luft vibrieren. Der Organist tremolierte ein wenig. Danach sprach der Geistliche. Ihn konnte ich zum Glück nicht hören. Ich schaute auf meine Uhr. Es war Viertel nach drei. Es dauerte also noch eine Viertelstunde. Ich konnte noch gut ein Bier trinken. Das tat ich denn auch. Im Raum begann es recht warm zu werden. Im Winter ist das sehr angenehm, aber jetzt haben wir ja Juni, und da ist es eher unbehaglich. Das Bier half dagegen. Ich stellte die leere Flasche weg und wartete auf das Glockenzeichen des Küsters.
Wenn er oben auf einen Knopf drückt, klingelt hier unten eine Glocke, nur schwach. Dann setze ich den Aufzug in Bewegung.
Die fernen Töne von »Nun bringen wir den Leib zur Ruh« drangen zu mir herunter, und die Glocke bimmelte. Ich stand auf und setzte den Aufzug in Bewegung. Er war gut geölt und lautlos. Ganz langsam sank der Katafalk mit dem Sarg, Blumenschmuck und allem übrigen zu mir herab, bis der Aufzug automatisch stehenblieb. Der Sarg stand auf Rädern - winzig kleinen Rädern - auf dem Katafalk, und ich brauchte nicht viel Kraft anzuwenden, um ihn auf den Eisenschlitten zu schieben, der in den Ofen führte.
Danach ließ ich den Aufzug mit dem Katafalk wieder in die Höhe, damit sich das Loch im Boden der Kapelle schloß. Ich wartete eine Weile, bis ich ganz sicher war, daß die Leute die Kapelle verlassen hatten. Ich ging hinauf und half dem Küster, die Gesangbücher an ihren Platz zu legen und die übrigen Blumen und Kränze, die oben geblieben waren, auf den Friedhof zu tragen. Wir legten sie aufs Familiengrab, wo die Urne beigesetzt werden sollte. Der Küster ging mit einem Nicken.
»Auf Wiedersehen und vielen Dank für die Hilfe«, sagte ich.
Die Ironie erfaßte er gar nicht. Die Aufräumungsarbeiten in der Kapelle waren ja seine Sache, aber Larsen und ich hatten es uns angewöhnt, ihm dabei zur Hand zu gehen, damit wir rascher unter uns waren.
Ich war nun allein. Der Pfarrer war längst gegangen. Ich trank noch ein Bier, bevor ich mich im Ernst an die Arbeit machte. Ich nahm die Blumen vom Sarg und warf sie in den Ofen. Sie zischten nicht lange. Also wieder einmal nicht frisch. Hundert Kronen für den Gärtner Svendsen. Schenkt mir Blumen, während ich lebe. Wenn ich tot bin, freut sich nur der Blumenhändler. Ich nahm den großen Schraubenzieher zur Hand und schraubte den Sargdeckel ab. Er war verdammt schwer. Ich würde Qualen ausstehen, wenn ich den Sarg allein auf den Leichenwagen verladen mußte.
Sie sah sehr adrett aus, die Frau, die darin lag. Ein bißchen gelb im Gesicht, aber im übrigen so friedlich wie die meisten alten Leute. An der rechten Hand hatte sie einen schmalen Siegelring, den ich nicht anzurühren wagte. Aber an der linken saß ein Ring mit einem großen hellblauen Stein. Er schien mir wertvoll zu sein, deshalb wollte ich ihn haben. Da ich den Ring nicht abbekam, holte ich die Kneifzange. Der Reif interessierte mich nicht, um so mehr der Stein.'
Ich beugte mich über den Sarg und hielt mit der linken Hand ihre kalten Finger fest. Ich brauchte mich nicht sehr weit vornüber zu bücken, denn sie lag erhöht im Sarg. Worauf eigentlich? Mit schnellem Zwacken durchtrennte ich den dünnen Goldreif, und da stieg mir das Herz in die Kehle, und mein Verstand rutschte in die Hose. Ja, vor Schrecken machte ich in die Hose. Während ich den Reif durchzwickte, glitt die Frau langsam auf mich zu und fiel zur Seite, als ob sie sich im Schlaf umdrehte. Das weiße Tuch unter ihr zog sie mit, und es kam ein langes, schlankes Bein in Nylonstrumpf zum Vorschein.
In dem Sarg lag noch eine Leiche.
Ich war...
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