Schweitzer Fachinformationen
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»Dieses Werk der Harmonie, des Friedens und des Fortschritts wird nicht fruchtlos bleiben.«
- Staatspräsident Émile Loubet zur Eröffnung der Pariser Weltausstellung am 14. April 19001
Ein Gewitter kündigte sich an. Dunkel aufziehende Wolken und eine Windböe auf der Place de la Concorde ließen die vielen Damen in eleganten Kostümen und ihre Begleiter in feinen Gehröcken einen Schritt zulegen.
Auch der 54-jährige Georges Nagelmackers beeilte sich, als er an diesem 15. April 1900 auf eine 30 Meter hohe Eisenkuppel zuging, die von zwei Minaretten flankiert wurde und das Tor zur Welt symbolisierte: Der monumentale Haupteingang der Exposition Universelle de Paris. Stündlich konnten bis zu 40 000 Besucher eingelassen werden. Nachts erstrahlte das Tor durch tausende grüne und blaue Glühbirnen und wurde zu einem leuchtenden Ungeheuer.
Der großgewachsene Belgier2 im feinen Zwirn betrachtete einen Moment lang die Frauenstatue auf der Spitze der imposanten Kuppel. Nagelmackers hatte den Eindruck, als hieße das Lächeln der steinernen Dame die Besucher willkommen.
Als Generaldirektor der Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL) sprach Georges Nagelmackers fließend Französisch, Englisch, Deutsch und Niederländisch. Er dirigierte in seinem Unternehmen mehr als 6 250 Mitarbeiter und 180 Schlafwagen-Verbindungen in ganz Europa und darüber hinaus.3
Der Times-Reporter Opper de Blowitz beschrieb Georges als einen Mann, der »trotz seiner rein belgischen Herkunft ein wenig dem arabischen Typus entsprach: Groß, drahtig, mit schwarzem Haar und Vollbart, dunklen Augen, einer schlanken Nase und festen, oft lächelnden Lippen. Innerlich nervös und äußerlich völlig ruhig.«4
Vom österreichischen Kaiser hatte Georges kürzlich für seine Verdienste den Franz Joseph-Orden erhalten, vom Osmanischen Sultan den Mecidiye-Orden; er war zum Offizier der französischen Ehrenlegion ernannt worden und der deutsche Kaiser hatte ihm den preußischen Krone-Orden verliehen.5 Kaum ein Unternehmer in Europa war in den letzten Jahren euphorischer gefeiert worden. Es schien, als stünde Nagelmackers auf dem Höhepunkt seines Erfolgs.
In Wahrheit stand Georges das Wasser bis zum Hals. Nur der engste Mitarbeiterkreis wusste um den bedrohlichen Zustand; sein Firmen-Konglomerat raste direkt auf den Abgrund zu. Und Georges war klar: Er hatte nur noch eine Chance - die Weltausstellung!
Zu diesem pompösen Fest des Fortschritts wurden 50 Millionen Besucher erwartet. Für Georges die ideale Gelegenheit, um in den nächsten Wochen das Steuer herumzureißen.
Unzählige Neugierige strömten auf das prächtige Eingangsportal zu. Nagelmackers entdeckte in der Menge zwei bekannte Gesichter, Männer mit frisch gebürsteten Zylindern und in schwarzen Mänteln, Aufsichtsräte seiner Compagnie. Sie kamen, um sich seine neuen Projekte anzusehen. Um sich dezent zu erkundigen. Nach den Kosten. Dem Gesamtaufwand. Der zu erwartenden Rendite. Sie taten es, um ihn bei der nächsten Aufsichtsratssitzung mit ihren Fragen zu traktieren. Fragen, die in Wahrheit keine waren. Denn die Männer versuchten ihn zu maßregeln, sie wollten seine Aktivitäten auf der Weltausstellung beobachten, um ihm später die Kosten dafür vorrechnen zu können.
Seinen perlgrauen Zylinder tiefer ins Gesicht rückend, ging Nagelmackers den Aufsichtsräten aus dem Weg. Bis vor drei Jahren hatten sie ihn noch in Ruhe arbeiten lassen. Denn nach der Premierenfahrt des Orient-Express im Jahr 1883 war Georges von Erfolg zu Erfolg geeilt. Siebzehn Jahre lang hatte er sein Netz ständig erweitert. Er betrieb 776 Schlaf- und Speisewagen sowie 120 Gepäckwaggons, hatte neue Verbindungen von London bis nach Luxor und von Berlin bis nach St. Petersburg geschaffen.6
Dazu eröffnete er ab 1892 Palasthotels in Nizza, Lissabon, Kairo und an fünfzehn weiteren Endstationen seiner Schlafwagen-Verbindungen.7
Nun aber hatte er sich entschlossen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Georges wollte nicht mehr nur Europa, nein, er wollte die ganze Welt verbinden! Sein neuestes Ziel: Eine Linie mit seinen Waggons von Paris nach Peking. Die längste Bahnverbindung der Welt. Über 8 000 Kilometer. Durch ganz Sibirien. Er taufte den Zug Transsibérien-Express, manche bezeichneten ihn auch als Extrême-Orient-Express.8
Auf Wunsch könnten die Fahrgäste dann mit seinen Zügen von London, Paris oder Wien nach Moskau reisen. Und von dort mit seinem neuen Transsibérien nach Peking. In der chinesischen Hauptstadt bot seine Agentur Anschlüsse nach Tokio, Yokohama und Schanghai an.
Enorme Entfernungen, die viele Menschen als beängstigend empfanden, wären damit in gerade einmal dreizehn Tagen zu überwinden. Unkompliziert und komfortabel. Auf diese Weise würden Europa und Asien keine abgegrenzten Kontinente mehr sein. Erstmals!
Viele hielten seine Idee für verrückt. Allein Sibirien war über dreimal so groß wie Europa und eisenbahntechnisch kaum erschlossen.9
Doch als Nagelmackers die Idee des Orient-Express hatte, war er ebenso beschimpft worden: von seiner Familie, von Politikern, von Finanziers. Sie bezeichneten seinen Plan, zweimal wöchentlich einen Zug von Paris nach Konstantinopel zu schicken, als »zu investitionsintensiv« und »aufgrund bürokratischer Hürden und nationaler Grenzen nicht realisierbar.«10
Nicht einmal sein Vater, Besitzer der größten belgischen Privatbank, wollte ihm ausreichend Geld leihen. Alle hielten ihn für einen Narren.11
Trotzdem konnte er den Orient-Express nach einer jahrelangen Odyssee auf die Schienen stellen. Der Zug erfreute sich größter Beliebtheit, seine anderen Verbindungen ebenso.
Vor dem Tor der Weltausstellung entdeckte Georges in der Menschenmenge Eduard Salomon von Oppenheim. Der Mitbesitzer des Bankhauses Sal. Oppenheim in Köln war einer der maßgeblichen Kreditgeber der Compagnie Internationale des Wagons-Lits. Der 69-jährige Baron saß im Aufsichtsrat und galt als eines der meinungsstärksten Mitglieder. Und das für Nagelmackers gefährlichste. Oppenheim hatte in den letzten Jahren seine Beteiligung an der Compagnie zum Bedauern von Georges reduziert. Mehrfach!12 Der Bankier stand auf der Bremse, hatte Angst um sein Geld.
Nagelmackers nickte Oppenheim freundlich zu und führte ihn zum russischen Pavillon, wo der Baron von Nagelmackers' Mitarbeitern empfangen wurde.
Es war die dritte Weltausstellung, auf der Georges für sein Unternehmen warb, nach Wien 1873 und Paris 1889.13 Doch diese war anders. Ganz anders. Niemals zuvor wurden so zahlreich Exponate aus Kunst, Technik und Wissenschaft an mehreren Orten entlang der Seine gezeigt. Über 83 000 Aussteller nahmen teil. Aus 43 Ländern. Auf 112 Hektar in der größten Metropole Europas. Ein dem Fortschritt gewidmetes Panorama der Superlative.14
Die Macher sahen in der Veranstaltung zur Jahrhundertwende ein Prisma der europäischen Aufklärung, es herrschte Aufbruchstimmung: Maschinenbauer revolutionierten die Arbeitswelt, im Palast der Elektrizität verwandelte elektrische Energie die Nacht zum Tag und Kupferleitungen ermöglichten in neuer Qualität Sprechverbindungen über weite Entfernungen.
An diesem außergewöhnlichen Ort wollte Georges beweisen, dass die Fahrt ans andere Ende der Welt ab sofort keine Qual, sondern ein Vergnügen war!
Trotzdem sorgte sich Georges. Zwei Wochen zuvor hatte ihm sein engster Mitarbeiter Napoléon Schroeder die Vorjahresbilanzen auf den Tisch gelegt. Der 47-Jährige war in Deutschland geboren und aufgewachsen. Fleißig, zurückhaltend, sachlich. Mit einem stets korrekt gestutzten Backen- und Kinnbart leitete der korpulente Schroeder die Betriebsabteilung.15 Während die Compagnie Internationale des Wagons-Lits bis 1895 noch Gewinne erwirtschaftet hatte, lasen sich die letzten Geschäftsberichte ernüchternd:
1896 - erste Verluste.
1897 - Verluste verdreifacht.
1898 - Verluste verachtfacht.
1899 - Verluste neuerlich verdoppelt.16
Um der sich anbahnenden Katastrophe entgegenzusteuern, hatte Georges zwei ungewöhnliche Dinge durchgesetzt: Erstens wurden Verluste im Geschäftsbericht als »Investitionen in die Zukunft« ausgewiesen. Und zweitens zahlte die Compagnie trotz hoher Verluste eine großzügige Dividende. 1899 waren es sogar 7,5 Prozent gewesen.17 Nagelmackers wollte damit die Aktionäre trotz schlechter Zahlen bei der...
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