Schweitzer Fachinformationen
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Ricarda sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr durch eine Landschaft, die ihr fremd war. Als sie vor Stunden ihre Reise begonnen hatte, hatte sie aus dem Zugfenster die dicht aneinandergereihten Hochhäuser Kölns gesehen. Sie waren zuerst durch weite Ackerlandschaften und Weinberge ersetzt worden, und schließlich, hinter München, war die Umgebung alpenländisch geworden. Jetzt zogen vor dem Fenster dicht bewaldete Berge mit felsigen Gipfeln, schmalen Tälern und Flüssen vorbei, die sich tief in den Stein eingegraben hatten. Ab und zu tauchte ein kleines Dorf auf, aber die meiste Zeit schien die Natur hier noch vollkommen unberührt. Ricarda, die ihr Leben bisher in großen Städten verbracht hatte, hatte das Gefühl, in die Wildnis zu fahren. Hinter die sieben Berge, dachte sie und sah hinauf zu den Gipfeln, die hoch über der Zugstrecke thronten. Wolken zogen über den Himmel, die Lampen an der Abteildecke flammten automatisch auf.
Ricarda hatte das Zugabteil beinahe für sich allein. Nur eine ältere Frau saß in der Sitzreihe ihr gegenüber und las. Vor ihren Füßen stand ein kleines Transportkörbchen, in dem eine weiße flauschige Katze lag und Ricarda mit bernsteinfarbenen Augen unverwandt ansah.
Ricarda warf einen Blick auf ihre Reisetasche im Gepäcknetz, die wie immer viel zu prall gepackt war. Seit sie denken konnte, packte sie viel zu chaotisch und unentschieden. Auch dieses Mal tummelte sich in der Reisetasche ein buntes Sammelsurium aus Turnschuhen und Badeschlappen, Pullovern und Sommerkleidern, dazu eine Fleecejacke, Shorts und Wollsocken. »Es heißt doch immer, dass sich das Wetter in den Bergen schnell ändert«, hatte Ricarda entschuldigend zu ihrer besten Freundin Mareike gesagt, die kopfschüttelnd und lachend dabei geholfen hatte, die schwere Tasche zum Zug zu bringen.
Außerdem war Ricarda zu einem Abenteuer unterwegs, sie hatte einen geheimnisvollen Auftrag zu erfüllen. Der Grund dafür lag vor ihr auf dem kleinen Zugtischchen: ein Paket, säuberlich verpackt in hübsches Papier und mit einer cremefarbenen Seidenschleife darum. Ricarda streckte die Hand aus und strich über das seidige Band, das sich kühl unter ihren Fingerspitzen anfühlte. Sie nahm das Paket zum wiederholten Male in die Hand und wog es. Es war rechteckig, mittelgroß, mittelschwer. Alles konnte darin sein.
»Oma macht es wirklich spannend«, murmelte sie gedankenverloren.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte die Frau und nahm kurz ihre Nase aus dem Buch.
»Oh, nichts«, beeilte sich Ricarda zu sagen. Sie legte das Paket wieder zurück auf den Tisch und sah aus dem Fenster. Die Berge, so hatte sie den Eindruck, waren inzwischen noch höher geworden.
Am Tag zuvor hätte sich Ricarda noch nicht träumen lassen, vierundzwanzig Stunden später mit dem Zug durch die Bayerischen Alpen zu fahren.
Am Morgen, eigentlich am späten Vormittag, hatte das Telefon geklingelt und Ricarda, die nach einem langen und weinreichen Abend mit ihrer besten Freundin nur ausschlafen wollte, aus ihren Träumen gerissen. Versuch es halt später noch mal, dachte sie und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Aber das Handy wollte einfach nicht aufhören zu klingeln. Schließlich stand sie doch grummelnd auf und suchte nach ihrem Telefon, das sie schließlich unter achtlos über den Stuhl geworfenen Jeans fand.
»Hallo«, krächzte sie mit rauer Morgenstimme in den Hörer und räusperte sich dann schnell.
»Guten Morgen, Ricarda, hier ist Lilli«, antwortete eine sanfte Stimme am anderen Ende der Leitung. Nie hätte sich ihre Großmutter selbst freiwillig »Oma« oder »Omi« genannt.
»Oh, hallo!« Ricarda tappte einige Schritte hinüber in das Wohnzimmer ihrer hübschen, aber sehr kleinen und zugigen Altbauwohnung im Belgischen Viertel, die sie seit einem halben Jahr bewohnte. Sie zog die Jalousien vor den Fenstern nach oben und ließ sich dann in ihrem verwaschenen Schlafshirt mit Daisy-Duck-Aufdruck auf ihren Lieblingssessel fallen. Draußen schien die Sonne schon hell vom Himmel, und von der Straße dröhnte verärgertes Hupen zu ihr hinauf. »Alles in Ordnung, Oma?«, fragte sie besorgt. Eigentlich rief Lilli sie nie an, es musste also wirklich einen besonderen Anlass geben.
Tatsächlich klang Lilli etwas angespannt. »Kannst du heute zu mir kommen?«, fragte sie. »Es ist wichtig.« Ricarda stutzte. Ihre Großmutter wohnte in einem schicken Seniorenheim mit Ganztagsbetreuung, seit vor einigen Monaten eine rasch fortschreitende Alzheimererkrankung bei ihr diagnostiziert worden war. Ricarda konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was in dem gemütlichen Heim Dringendes vorgefallen sein sollte. Sie wurde unruhig.
»Ja, natürlich kann ich kommen.«
»Gut. Dann heute Nachmittag um drei.« Es klickte in der Leitung.
Ricarda sah verblüfft ihr Handy an. Lilli hatte einfach aufgelegt.
Draußen hupte immer noch jemand; ein Auto, das wegen eines geparkten Umzugswagens nicht durchkam; das Geräusch dröhnte in Ricardas Kopf. Sie sah vom Fenster aus zu, wie unten ein paar Jungs Teppiche und Topfpflanzen ausluden; schließlich raffte sie sich auf und ging in die Küche. Dort trank sie ihre erste Tasse Kaffee im Stehen.
Langsam wurde sie wacher. Sie sammelte das benutzte Geschirr des letzten Abends ein und wusch es ab. Anschließend ging sie ins Badezimmer. Ihr Spiegelbild schien sie mit einem ernsten Blick zu mustern. Sie zog das Haargummi aus dem unordentlichen Dutt, mit dem sie geschlafen hatte, und schüttelte ihre schulterlangen hellbraunen Haare aus. Dank der Sonnenbräune, die sie in den letzten Wochen mit Mareike im Volksgarten gesammelt hatte, sah sie frischer aus, als sie sich fühlte.
Ricarda frottierte gerade ihre Haare, als es klingelte. Vor der Wohnungstür stand einer der Jungs, die sie beim Möbelausladen beobachtet hatte.
»Hallo!« Er musterte sie grinsend. Ricarda trug ihren geliebten rosa Bademantel, auf dem seit einem Missgeschick metallicblaue Nagellackflecken leuchteten. »Meine Kumpel und ich ziehen gerade hier ein, und einer von uns hat sich ein bisschen verletzt. Hast du vielleicht ein Pflaster?«
»Klar«, Ricarda ging ins Badezimmer und kramte eine Packung hervor. Die Pflaster waren mit bunten Regenbögen bedruckt.
»Ähm, super, danke.« Der Junge starrte zuerst auf die bunte Packung, dann lächelte er sie an.
»Bitte. Viel Erfolg noch beim Umzug.«
»Zu unserer WG-Einweihungsparty kommst du bestimmt, oder? Nur ein Stockwerk unter dir.« Er zwinkerte.
»Mal sehen«, antwortete sie vage und schloss die Tür. Grinsend hörte sie noch, wie er seinen Freunden stolz erzählte, er habe die Nachbarin von oben eingeladen.
Nachdem sie sich die Haare geföhnt und sich angezogen hatte, füllte sie ihre kleine Gießkanne mit Wasser und begann, die drei Kakteen zu gießen, die auf der Fensterbank im Wohnzimmer standen. Es waren die einzigen Pflanzen, die bei ihr überlebten. Anschließend rief sie in der Zeitungsredaktion an, für die sie als freie Fotografin arbeitete.
Sandra meldete sich, Ricardas Lieblingsredakteurin. Sie trafen sich ab und zu auch außerhalb der Arbeit auf einen Kaffee, und Sandra versorgte Ricarda nur zu gerne mit Neuigkeiten aus den Zeitungsbüros.
»Hallo, Sandra, na, wie geht's?«
»Ach, na ja, wenig zu tun - Sommerloch eben. So wie jedes Jahr.« Ricarda konnte hören, wie Sandra herzhaft in einen Apfel biss. »Übrigens, hast du schon das von Tobias vom Sportteil und Franka vom Newsdesk gehört? Angeblich läuft da jetzt wirklich was.«
»War doch klar«, Ricarda klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, während sie begann, Wasser in ihre Kaffeetasse laufen zu lassen. »Sag mal, Sandra - heißt Sommerloch auch, dass es keine Fotoaufträge für mich gibt?«
»Leider«, Sandra klang zerknirscht. »Ich kann nichts für dich tun, Ricarda. Wir langweilen uns hier in der Redaktion auch alle. Fotos brauchen wir davon nicht.«
»Schade.« Ricarda dachte an die Miete, die sie in ein paar Tagen überweisen musste. Sie brauchte noch ein paar Aufträge in diesem Monat, sonst würde sie ihre Eltern anpumpen müssen, was sie vermeiden wollte. Seit beinahe zwei Jahren schlug sie sich nun schon als freie Fotografin durch. Es war immer ihr Traum gewesen, sie liebte das Fotografieren, das Einfangen besonderer Momente mit der Kamera - und das Sich-treiben-Lassen. Heute hier, morgen da; als Fotografin war sie unabhängig. Der Nachteil war allerdings, dass keine Aufträge auch kein Geld bedeuteten.
»Übrigens .«, Sandra legte eine gedehnte Pause ein. »Ich weiß nicht, ob ich es dir überhaupt sagen soll und ob du es wissen willst, aber: Jimmy ist wieder in der Stadt.«
Ricarda spürte einen Stich, ihr Herz wurde schwer. Sie bemühte sich, ihre Stimme normal klingen zu lassen.
»Seit wann denn?«
»Erst seit ein paar Tagen. Gestern ist er hier in der Redaktion aufgetaucht. Anscheinend lief es in Berlin nicht mehr so gut für ihn.«
Nach dem Gespräch stand Ricarda für einen Moment einfach nur da....
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