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»Wer einen Grund vorbringen kann, warum dieses Paar nicht den Bund der Ehe eingehen soll«, sagte der Priester und schaute in die Runde der versammelten Hochzeitsgäste, »der möge jetzt sprechen oder für immer schweigen.«
Annika hielt den Atem an. Sie war schon bei vielen Hochzeiten gewesen, und niemand erwartete je ernsthaft, dass sich in der Stille, die diesen Priesterworten folgte, jemand unter den Verwandten und Freunden erhob oder gar eine mysteriöse Gestalt wirkungsvoll aus dem Halbdunkel unter der Empore hervortrat, die Faust gen Himmel streckte und schallend durch die Kirche rief: Ich habe einen Grund!, um danach ein schreckliches Geheimnis zu enthüllen, das die Ehe verhinderte (die Brautleute seien in Wahrheit verwandt, einer von beiden längst anderweitig vermählt oder ähnlich). Trotzdem war da doch jedes Mal dieser Moment der Anspannung und der Ungewissheit, so als könne etwas ans Licht kommen, das selbst den Betroffenen nicht bewusst war. Das ihnen die Eltern verschwiegen hatten. Oder das sie verdrängt hatten. Heute spürte Annika diese Anspannung deutlicher denn je, schließlich war die Frau in dem pompösen Kleid aus Seide, Tüll und Spitze und der voluminösen Hochsteckfrisur niemand anders als sie selbst.
Wenn es aus Annikas Sicht etwas gab, das gegen die Ehe mit Loris sprach, dann war es genau das, was aus der Sicht aller anderen, vor allem ihrer Eltern, dafürsprach: Loris' Familie war reich und höchst angesehen, skandalfreier Hamburger Geldadel seit mehreren Generationen. Obwohl alle in Loris' Familie großzügig, offen und zugetan waren, schnürte der bloße Gedanke daran, weiter in diesen Kreisen zu verkehren, Annika manchmal den Atem ab. Sie stammte selbst aus wohlhabendem Haus und hatte genau das hinter sich lassen wollen. Dabei hatte sie nichts gegen Geld und schöne Dinge. Nur die Art, wie reiche Leute die ererbten Annehmlichkeiten, die sie genossen, für selbstverständlich nahmen, ja sogar dachten, sie hätten sie sich verdient, stieß sie ab. Und noch mehr, wie sie auf Leute herabblickten, die weniger hatten als sie, und überhaupt alles und jeden danach bewerteten, was er oder sie besaß, obwohl natürlich niemand je über Geld sprach, denn das galt als unfein. Eine Ausnahme von letzterer Regel war Annikas Mutter, die, zumindest wenn sie unter sich waren, selten ein Blatt vor den Mund nahm. Annika wollte ein einfaches Leben, in dem nicht schon immer alles wie von selbst da war. Niemand sollte zu ihr aufschauen, nur weil sie einen bestimmten Namen trug. Niemand sollte ihre Nähe und Freundschaft suchen, nur weil er oder sie sich etwas davon erhoffte. Würde Loris ihr so ein Leben bieten? Nur wenn er mit seiner Familie brach, so wie sie, zumindest innerlich, mit der ihren längst gebrochen hatte. Doch das konnte sie nicht von ihm verlangen. Er hing an seinen Lieben. Sollte sie also selbst die Hand heben und rufen: Ich habe einen Grund!
Wie könnte sie! Sie liebte Loris, wie sie nie zuvor einen Menschen geliebt hatte. Er war sanft, treu und voller Humor und hatte damit so ziemlich alles, was sie sich von dem Mann, mit dem sie ihr Leben teilen wollte, erhoffte. Keine Reiche-Leute-Allüren, keine Jacht im Hafen, keine teuren Sportwagen in der Garage. Auch kein abfälliges Gerede über andere Leute, stattdessen viel Selbstironie und spontane Wärme. Bis jetzt hatte Loris ihr noch keinen einzigen Grund gegeben, ihn nicht zu lieben, wenn man von seiner Angewohnheit, im Bett Socken zu tragen, einmal absah. In der Vergangenheit hatte dieses bis jetzt schwer auf der Waage des Für und Wider gewogen. An Loris' zahlreichen Vorgängern hatte Annika noch jedes Mal über kurz oder lang etwas gefunden, das sie störte. Erst nur ein bisschen. Bald etwas mehr. Und dann war dies und jenes dazugekommen, bis es zu viel wurde und sie spürte, dass es eben nicht die Liebe war, die sie sich vorstellte. Das war der Punkt, an dem sie die Beziehung für gewöhnlich abbrach. Bei Loris hatte es diesen Punkt bis jetzt nicht gegeben. Er war der Richtige, einfach perfekt. Und er würde es bleiben, für immer und ewig. Glaubst du das wirklich?, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. Statt die Hand zu heben, umfasste Annika den Brautstrauß noch ein wenig fester. Da sich auch sonst niemand erhob, keine mysteriöse Gestalt aus dem Halbdunkel unter der Empore hervortrat und die Faust gen Himmel streckte, um schreckliche Geheimnisse zu enthüllen, fuhr der Priester in der Zeremonie fort und lotste Annika und Loris sicher in den Hafen der Ehe. Das Jawort wurde gegeben, die Ringe wurden getauscht, der Bund fürs Leben gesegnet.
»Sie dürfen die Braut jetzt küssen.«
Ein eher schüchterner Kuss besiegelte die Ehe. Annika zwinkerte Loris zu, und er verstand, was sie meinte, und lächelte fein. Das Küssen konnten sie beide besser, aber es musste ja nicht vor den Augen der versammelten Verwandtschaft sein. Unter dem Getöse der Orgel schritten sie aus der Kirche, ließen sich auf dem Vorplatz mit Reis und Rosenblättern bewerfen und nahmen die Glückwünsche der Gäste entgegen. Eine weiße, von zwei Schimmeln gezogene Kutsche wartete schon darauf, sie in den blumengeschmückten Festsaal zu bringen. Annika hatte sich bei der Vorbereitung einen Spaß daraus gemacht, angefangen vom Hochzeitskleid über die Kutsche bis hin zur Musikauswahl, bei der Feier kein einziges Hochzeitsklischee auszulassen - wennschon, dennschon! Die Hochzeitstorte, groß genug, den Hunger der Welt zu stillen, war legendär! Diese ironische Übererfüllung der romantischen Erwartungen war ihre Art, sich vor der befürchteten Enttäuschung zu schützen. Nun aber ging Annika all das doch mehr ans Herz, als sie erwartet hatte. Das, was hier passierte, war kein Spaß. Und auch mehr als bloß eine Formalität. Es war ernst und bedeutete etwas. Sie war verheiratet! Sie war nicht mehr allein. Sie, die sich ihr ganzes Leben lang allein gefühlt hatte - in der Familie, in Beziehungen. Selbst ihre beste Freundin Emily hatte, so nahe sie sich auch standen, diese Leere nicht ganz ausfüllen können. Nicht so, wie Loris es konnte. Bis jetzt.
»Drücken die Schuhe sehr?«, fragte Annika ihn in der Kutsche, über das laute Hufgeklapper der Pferde hinweg.
»Wie die Hölle.« Er stöhnte und erlaubte sich zum ersten Mal ein schmerzverzerrtes Gesicht. Der Ärmste! Er war so tapfer! Das musste belohnt werden. Mit einem Kuss. Einem richtigen Kuss. Sie beugte sich über ihn, berührte erst seine Lippen sanft mit den ihren, ehe sie ihren Mund öffnete und sich ihre Zunge in seinen Mund vortastete. Loris' Zunge nahm die Aufforderung zum Tanz an, und je länger und lauter die Musik spielte, desto heftiger und leidenschaftlicher wurde der Tanz.
»Ich wünschte, wir könnten jetzt ohne Umweg nach Hause fahren«, sagte Loris, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. »Ich bin so heiß auf dich .«
»Ich hätte das alles nicht gebraucht.« Annika wischte ihm die Lippenstiftspuren aus dem Mundwinkel.
»Ich doch auch nicht. Wir tun das nicht für uns, sondern für Familie und Freunde. Niemand ist eine Insel. Auch ein Ehepaar nicht, bei aller Liebe.«
Das hatte er jedes Mal gesagt, wenn sie sich über den Aufwand beklagt hatte. »Weiß ich doch.«
Wäre es nach Annika gegangen, hätten sie die Hochzeit - wenn überhaupt - im kleinen Rahmen gefeiert. Ein paar enge Freunde, Menschen, die ihnen beiden etwas bedeuteten, im Nebenraum ihrer Lieblingspizzeria, mehr nicht. Loris hatte sie davon überzeugt, dass das egoistisch wäre, schließlich gab es so viele Menschen, ohne die sie nicht die wären, die sie waren. Sie hatten ein Recht darauf, diesen Tag mitzufeiern. »Okay, okay.« Annika hatte sich geschlagen gegeben. Die Familie musste man also einladen (obwohl Annika auf ihre snobistischen Eltern gern verzichtet hätte), aber wo hörte die familiäre Verpflichtung auf? Welchen Onkel, welche Tante, welchen Cousin und welche Cousine konnte man weglassen, ohne eine lebenslange Fehde zu riskieren? Wie war es mit Freunden? Da sie niemanden vor den Kopf stoßen wollte, lud Annika eben alle ein. Und Loris machte es genauso. Als sie die Liste, die mehrere DIN-A4-Seiten füllte, vor sich sahen, zuckte Loris schicksalsergeben mit den Schultern und meinte: »Scheiß drauf. Am Tag danach liegen wir auf den Malediven am Strand, schlürfen Mai-Tais und erholen uns von dem Zirkus.«
Emily war nicht nur Annikas beste Freundin, sie war die Schwester, die Annika nie hatte. Und umgekehrt. Obwohl Emily eigentlich eine Schwester hatte. Sogar zwei. Dass sie mit keiner von ihren echten Schwestern so eng verbunden war wie mit ihrer Seelenschwester Annika, das machte diese stolz. Sie kannte Emily seit dem Kindergarten und war nie länger als ein oder zwei Tage ohne Kontakt zu ihr gewesen (und seit sie Smartphones besaßen, keine drei oder vier Stunden). Annika konnte lediglich mit einem blutsverwandten Bruder aufwarten, einem Ekelpaket namens Roland, der dreißig und damit knapp vier Jahre älter war als sie, zum Glück weit weg in London lebte und den Erwartungen insofern gerecht geworden war, als dass er drei Tage vor der Hochzeit die Reise über den Ärmelkanal mit einer schnöden WhatsApp-Nachricht absagte. Angeblich eine Sportverletzung, die er sich beim Joggen zugezogen hatte. Sprunggelenk oder so. Sorry,...
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