Schweitzer Fachinformationen
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Warum musste es ausgerechnet an diesem Abend schneien? Den ganzen Januar über hatte sich der Winter vornehm zurückgehalten. Sonnenschein hatte sich mit Nieselregen abgewechselt, es war durchgängig zu warm gewesen für die Jahreszeit. Aber seit ein paar Tagen war es kalt geworden, besonders auf den Höhenlagen des Teutoburger Waldes.
Als der dunkelblaue Mercedes-Transporter am 24. Januar um zehn Uhr abends den teuren Detmolder Vorort Hiddesen verließ, war die Straße bereits von einer dünnen Schneedecke überpudert. Reinhard Graeff, der für diesen Transport als Fahrer eingeteilt worden war, drehte den Heizungsregler höher. Auf der beidseitig von Wald flankierten Lopshorner Allee lag der Schnee noch etwas höher. Graeff zerbiss einen Fluch und versuchte, durch das dichte Schneetreiben hindurch die Straße im Auge zu behalten. Eigentlich hätte er diesen Transport schon im Laufe des Tages erledigen sollen, da aber viele seiner Kollegen mit Grippe im Bett lagen, hatte er einige von ihren Fahrten übernehmen müssen und kam erst jetzt zu dem Auftrag. Das kleine Unternehmen, bei dem er beschäftigt war, hatte sich auf Kurierfahrten für Wertgegenstände spezialisiert. Diesmal galt es, ein Gemälde von Hiddesen nach Rietberg zu transportieren.
Sein Beifahrer, der zu dieser Uhrzeit ebenfalls lieber ganz woanders gewesen wäre, schaltete mürrisch das Radio ein und ließ verschiedene Sender durchlaufen, bis etwas nach seinem Geschmack zu hören war.
»Hast du dir das Gemälde mal angeschaut?«, fragte er Graeff, ohne den Blick vom Radiodisplay zu nehmen. »So was soll wertvoll sein? So malt mein kleiner Sohn auch, und der ist gerade mal in der dritten Klasse.«
Graeff antwortete ihm nicht. Die beiden Männer fuhren oft zusammen und waren aufeinander eingespielt. Während Graeff ein schweigsamer Zeitgenosse war, der nicht mehr sprach als unbedingt erforderlich, plapperte sein Beifahrer unaufhörlich. Graeff hatte gelernt, dessen Besserwissereien einfach zu ignorieren.
Die schmale Straße zog sich in einigen Kurven immer höher bergauf. Der Schneeschauer hatte noch einmal an Stärke zugelegt. Die dicken, nassen Flocken wirbelten so dicht durch den Lichtkegel ihres Transporters, dass von der Straße kaum etwas zu sehen war. Obwohl die Scheibenwischer bereits auf der höchsten Stufe hin- und herjagten, musste Graeff seine ganze Konzentration mobilisieren, um den Weg zu finden, während sein Beifahrer ohne Pause weiter über seine Sicht der Welt dozierte.
»Jetzt halt mal kurz die Klappe und pass mit auf«, raunzte Graeff ihn an, »sonst kleben wir gleich an einem Baum.«
Sein Kollege kannte diese gelegentlichen Zurückweisungen und war bloß ein kleines bisschen beleidigt.
»Wieso fährst du auch diese unmögliche Strecke?«, brummte er nur. »Wir hätten den Weg über Pivitsheide nehmen sollen. Ist zwar ein bisschen länger, aber deutlich flacher und weniger verschneit. Bist ja selbst schuld.«
Reinhard Graeff blickte wütend zu ihm hinüber und sagte scharf:
»Weil auf der Stoddardstraße diese verdammte Baustelle ist. Hast du davon nichts gehört? Freiwillig fahre ich da nicht lang. Dauert ewig, bis du da durch bist. Da fahre ich lieber hier oben durch den Schnee.«
Dass hier deutlich mehr Schnee lag, als er erwartet hatte, erwähnte er lieber nicht. Nun galt es aufzupassen, denn jeden Augenblick musste eine scharfe Rechtskurve kommen. Geradeaus führte der Weg direkt in das Gelände des Truppenübungsplatzes. Da wollte er auf gar keinen Fall hinein.
Angestrengt schaute Graeff nach vorn, kniff die Augen zusammen, aber weiter als zwei oder drei Meter konnte er nicht sehen. Die Straße schien immer weiter ins Leere zu führen, alle Konturen lösten sich im Wirbel der Schneeflocken auf. Kein einziges Auto war ihnen auf den letzten zwei Kilometern entgegengekommen. Vermutlich würde auch niemand so verrückt sein, zu dieser Uhrzeit und bei diesem Wetter hier entlangzufahren. Straßenlampen gab es nicht, auch keine Sterne am Himmel. Das Abblendlicht des Transporters war das einzige Licht in dem dichten Bergwald.
»Fahr langsam!«, rief der Beifahrer plötzlich. »Da kommt die Kurve!«
Doch Graeff hatte alles im Griff. Langsam rollte der Transporter auf die 90-Grad-Kurve zu, und er schaffte es, die Kurve zu nehmen, ohne einen Zentimeter zu rutschen. Nun fuhren sie genau gegen den Wind, und die Sicht nahm noch weiter ab. Trotzdem beschleunigte Graeff wieder vorsichtig, denn er wusste, dass die Straße nun für etwa einen Kilometer geradeaus führen würde, bevor sie auf die Panzerringstraße traf. Der Transporter hatte gute Winterreifen und meisterte die rutschige Strecke souverän. Plötzlich schrie Graeffs Beifahrer aufgeregt:
»Pass auf! Da liegt was.«
Graeff trat auf die Bremse, der Mercedes brach hinten aus, schlitterte ein paar Meter schräg über die Fahrbahn und war auf dem besten Weg, in den Straßengraben zu rutschen. Aber als routinierter Fahrer brachte Graeff es fertig, direkt vor dem Hindernis zum Stehen zu kommen. Atemlos starrte er auf die Straße, um zu erkennen, was da lag. Es war ein äußerst kräftiger Baumstamm, der die Fahrbahn komplett versperrte.
»Und was jetzt?«, fragte der Beifahrer.
»Ja, was wohl?«, brummte Graeff genervt. »Du steigst jetzt aus und schiebst diesen Baumstamm zur Seite, damit wir weiterfahren können. Das kann doch nicht so schwer sein.«
Ein eisiger Wind pfiff herein, als der Beifahrer unter Protest die Tür öffnete und ächzend aus dem Transporter kletterte. Augenblicklich war der nun verwaiste Sitz mit Schneeflocken übersät. Dann wurde die Tür wieder zugeschlagen.
Graeff beobachtete seinen Kollegen, der versuchte, den Stamm zu bewegen. Aber da der mit einer dicken Eiskruste überzogen war, rutschte er immer wieder ab. Graeff sah die Atemwolke seines Beifahrers, der verbissen weitere Versuche startete, dann aber entnervt aufgab. Kurz darauf flogen erneut Schneeflocken auf den Beifahrersitz, als der Mann die Beifahrertür wieder öffnete. Er schwang sich schimpfend auf seinen Sitz, schaute Graeff vorwurfsvoll an und polterte:
»Du hast es ja bequem hier. Ich friere mir da draußen den Arsch ab, und du hockst hier im Warmen und schaust zu. Los, komm mit raus. Allein habe ich keine Chance. Das Ding ist viel zu schwer. Außerdem hat es einer ziemlich gründlich bearbeitet. Da ist kein einziges Ästchen mehr dran, wo man mal anfassen könnte. Alles fein säuberlich abgetrennt. Die ganze Sache gefällt mir nicht, Graeff. Aber guck es dir selbst an, du bist ja der Klügere von uns.«
Graeff blieb nichts anderes übrig, als sich die dicken Lederhandschuhe überzuziehen, eine Taschenlampe mitzunehmen und nun ebenfalls die wohlige Wärme des Autos mit dem schneidend kalten Wind des Waldes zu tauschen. Was hätte er tun sollen? Eine Winde gab es an diesem Transporter nicht, es war ja schließlich kein Geländewagen. Gemeinsam versuchten sie nun, am Baumstamm zu zerren, zu schieben. Aber weder Hände noch Füße fanden einen Halt, immer wieder rutschten sie ab, stürzten mehrmals zu Boden.
Sie starrten, um Atem ringend, auf den mächtigen Stamm. Immerhin hatten sie ihn einen halben Meter zur Seite bewegt. Das war mehr als nichts, aber deutlich weniger als erhofft. So konnte es nicht weitergehen. Graeff erwog, den Baum mit dem Transporter per Abschleppseil wegzuziehen, hatte aber Angst, damit den Firmenwagen zu beschädigen. Wieder versuchten sie es mit bloßen Händen, wieder ernteten sie nur Erschöpfung und einige Zentimeter. Graeff spürte ein ungutes Gefühl im Rücken, irgendetwas klemmte dort im Bereich der unteren Wirbelsäule. Er wusste, wenn er noch einmal bei dieser Kälte an dem Baumstamm rucken würde, wäre ihm der gewaltigste Hexenschuss seines Lebens sicher.
Eben wollte er seinem Beifahrer signalisieren, dass er aufgeben würde. Dass er den Transporter wenden, zurückfahren und kleinlaut einen anderen Weg nehmen würde. Da zuckte plötzlich der Doppellichtkegel eines Autos durchs Schneetreiben, kam näher und blieb dann hinter dem Mercedes stehen. Als die Lichter verloschen, konnte Graeff für kurze Zeit nichts mehr erkennen. Nur noch wirbelnden Schnee, der das Licht der Taschenlampe reflektierte. Als weiter nichts passierte, schaute Graeff verblüfft seinen Beifahrer an. Der zuckte ratlos mit den Achseln, schrie dann aber, um den Wind zu übertönen:
»Warum kommt der Kerl nicht näher? Wir können ihn verdammt gut gebrauchen. Hoffentlich ist es auch ein Kerl und kein kleines Mädchen. Ich gehe mal hin. Gib mir die Taschenlampe!«
Graeff schaute seinem Kollegen hinterher, dessen Gestalt von Meter zu Meter immer undeutlicher wurde und schließlich eins wurde mit den wild durcheinandertobenden Schneeflocken. Nichts war mehr von ihm zu sehen, nur noch der ganz schwache Schimmer seiner Taschenlampe. Dann war auch der verschwunden.
Graeff wartete, fror, schlug sich die Arme um die Schultern und wartete weiter. Nichts geschah. Von einer plötzlichen Unruhe erfasst, setzte auch er sich in Bewegung und tastete sich vorsichtig durch die Dunkelheit in Richtung des anderen Autos. Als er den Mercedes-Transporter hinter sich gelassen hatte, konnte er ganz schwach die Konturen des anderen Autos ahnen. Kein Licht war zu sehen, kein Mensch zu erkennen, kein Laut zu hören. Nur der Wind pfiff in seinen Ohren. Wo war sein Kollege? Wo der andere Autofahrer? Graeff wurde es unheimlich zumute.
Urplötzlich flammte direkt vor ihm ein starkes Licht auf, so stark, dass Graeff geblendet war und nichts mehr erkennen konnte. Er hörte nur noch Schritte, die im Schnee knirschten. Bevor er etwas fragen, bevor er auch nur einen...
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