Kapitel 1
1
Kaum hatte ich Charly zum ersten Mal gesehen, da saß ich schon auf dem Hosenboden.
Irgendwie passte dies zu jenem Sommer, in dem mein Leben durcheinandergewirbelt wurde und ich kein Bein auf die Erde bekam. Da war das mit Charly noch mein kleinstes Problem. Eigentlich kaum erwähnenswert, denn genau genommen lief mir damals nur etwas Blut aus dem Mund. Stinksauer war ich nur deshalb, weil ich als Polizist eine ziemlich komische Figur dabei machte. Wie einen blutigen Anfänger hatte er mich niedergestreckt. Fallobst nennen die Boxer so einen verächtlich. Und warum? Nur weil ich wieder einmal den Helden spielen wollte. Doch andererseits: Heute frage ich mich manchmal, wie meine Geschichte zu Ende gegangen wäre, wenn Charly mich nicht fast k.o. geschlagen hätte.
Und so fing alles an. Es war an einem jener warmen Sommerabende in München, an denen die Biergärten überfüllt, die Straßencafés brechend voll und die Grillpartys an den Ufern der Isar total angesagt waren. Ich strolchte erst etwas im Glockenbachviertel umher, und später, so gegen halb elf, schlenderte ich zur Isar hinunter. Jenseits des Flusses glühten überall die Holzkohlen in den Grillgeräten, die Rauchwolken waberten wie weiße Schleier dahin, und mir stieg der Duft von gegrilltem Fleisch in die Nase. Schlendernd bog ich auf die Reichenbachbrücke ein. Ich war schon über der Mitte, als plötzlich einzelne Wortfetzen zu mir nach oben flogen. Ich beugte mich über das Geländer. Direkt unter mir standen zwei Männer, laut schreiend und wild gestikulierend. Neugierig geworden, ging ich weiter, stieg am Ende der Brücke die Treppe hinunter, bog zur Isar hin ab, und dann sah ich ihn. Mit einer Bierflasche in der Hand stand er da, nur wenige Schritte von mir entfernt.
Er war viel jünger als ich, sicher weit unter fünfundzwanzig, vielleicht erst knapp über zwanzig, und mindestens einen halben Kopf größer. Er trug abgewetzte Jeans, und auf der Rückseite seines verwaschenen Sweatshirts sah ich das Logo einer bekannten deutschen Sportartikelfirma. Vor ihm stand ein wendiges Bürschchen mit einem Pfund Gel im Haar, das geringschätzig zu ihm nach oben blickte. Ein Dutzend der Partygäste umringten die beiden. Einige davon deuteten auf Charly, und zwei filmten mit ihren Smartphones die Szene. Ein Wort gab das andere.
"Ey, Alter, soll ich dir mal was sagen?"
"Was denn, du Knilch?"
"Der Alkohol und die Weiber sind inzwischen dein Problem geworden. Das weiß doch hier jeder. Und du warst mal ein ganz Großer, bist sogar einmal ein Vorbild für uns gewesen."
"Kleiner, du bist ja ein ganz Schlauer. Aber ich verrate dir eins: Hör jetzt gut zu: Du langweilst mich total mit deinem Gequatsche. Und nun mach endlich die Fliege."
Das Bürschchen lachte frech. "Und wenn du so weitermachst, wirst du bald nur noch ein einziges Problem haben. Oh Mann." Er spreizte den Daumen und den Zeigefinger um wenige Zentimeter. "So klein wirst du dann sein."
"Du Oberschlauer, jetzt reicht's. Quatsch keine Scheiße. Zieh endlich Leine, sonst ..."
"Was sonst, Charly? Ich mach mir schon jetzt in die Hose", grinste der Kleine sein breitestes Lächeln.
Charlys Gesicht lief vor Wut dunkelrot an. Er ballte die rechte Faust und holte aus. Wie ein tapsiger Schwergewichtsboxer machte er plötzlich zwei Schritte nach vorne.
Ich wollte schlichten - ich bin ja als Polizist immer im Dienst - und ging dazwischen. Ich sah noch, wie Charlys Faust nach vorne schnellte, und auch noch, wie das wendige Bürschchen blitzschnell seinen Kopf zur Seite drehte. Dann machte es "Platsch". Charlys Faust krachte gegen mein Kinn, und ich spürte, wie ein stechender Schmerz meinen Kopf durchfuhr. Anschließend sah ich mir selbst zu, wie ich in Zeitlupe rückwärts zu Boden sank, erst mit dem Hintern aufschlug und dann auf dem Rücken zum Liegen kam. Als ich am Boden nach Luft schnappte, beugte sich ein Betrunkener über mich, rülpste, grinste blöd nach unten und begann, mich wie einen Preisboxer auszuzählen. Einer klatschte Beifall, und die zwei mit den Smartphones filmten eifrig weiter. Der Betrunkene war bei "Sieben", als von oben Charlys Stimme kam.
"Sportsfreund, tut mir echt leid. Wirklich. Hoffentlich ist dir nichts passiert."
Ich tastete mein Gesicht ab, bewegte zur Kontrolle meine Kiefer hin und her und leckte über meine Lippen. "Alles okay", brummte ich nach oben. "Nichts gebrochen, mir platzt fast der Schädel, die Unterlippe ist geschwollen, und im Mund schmecke ich Blut."
"Tut mir wirklich leid", wiederholte Charly. "Wenn du willst, geb ich dir meine Versicherung."
"Nicht nötig", sagte ich. "Ich war doch selbst Schuld. Warum musste ich für euch Deppen den Friedensengel spielen."
"Bist ein verdammt harter Hund, stimmt's?" meinte Charly grinsend und zog mich mit einer Hand nach oben. "Schätze, du brauchst jetzt sowieso keinen Arzt, sondern ein schnelles, kühles Bier. Stimmt's?"
Ich wollte ihm antworten, aber in diesem Moment tropfte mir gerade etwas Blut aus dem Mund. Ich betastete mein Kinn und spuckte es in mein Taschentuch.
"Karl Bauer", sagte er, lächelte und gab mir die Hand. "Du kannst mich aber auch Charly nennen."
"Maximilian", sagte ich, leckte weiter an meiner Unterlippe.
Als ich Charly gegenüber stand, sah ich ihn mir zum ersten Mal genauer an. Er wirkte jetzt noch größer. Ich, etwas über mittelgroß, reichte ihm nur bis zur Nasenspitze. Ein selbstbewusstes Lächeln umspielte seine Lippen, als ich ihn betrachtete. Gar keine Frage, er war ein gutaussehender junger Mann, fast noch ein Jüngling, mit einem gepflegten Kurzhaarschnitt und einem Dreitagebart. Er hatte die Statur eines Modellathleten, vorstehende Backenknochen und dunkle Augen. Man hätte ihn glatt mit dem jungen Hugh Jackmann, dem australischen Filmschauspieler und Naturburschen, verwechseln können.
"Also was ist, Maximilian?" fragte Charly. "Trinken wir ein Bier zusammen? Ich würde mich darüber tierisch freuen."
"Okay", sagte ich noch etwas angeschlagen. "Aber nur eines."
"Du red'st wohl nicht gerne mit mir. Wenn du wegen vorhin sauer auf mich bist, so kann ich das voll verstehen", meinte Charly. Er sah mich fragend an.
Ich versuchte zu lächeln, aber dies gelang mir nur halb, und warum ich geantwortet habe: "Charly, das geht schon in Ordnung", das weiß ich bis heute nicht so genau. Er hat mich zusammengeschlagen, und ich war mir sicher, dass ich ihn später nicht noch mal sehen wollte. Es gab also keinen einzigen Grund, warum ich mit Charly ein Bier trinken wollte. Aber damals hatte mich Gabi verlassen. Sie war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, lebte seit vier Wochen wieder bei ihren Eltern in Starnberg, in einem der Mietshäuser hinter der Promenade. Und ich hatte es vermasselt, ich verdammter Narr. Ich war einfach zu oft um die Häuser gezogen, hatte auf zu vielen Hochzeiten getanzt. Wahrscheinlich ließ ich mich von Charly nur deshalb überreden, weil ich eine Weile nicht allein sein wollte und es ein willkommener Anlass war, die Rückkehr in die halbleere Wohnung hinauszuzögern.
Charly zeigte zur Isar hin und ging voraus. Auf dem Kieselstrand stand eine Kühlbox und daneben eine große Blondine mit einem bezaubernden Lächeln. Ein Prachtexemplar von einer Frau: jung, auf langen Beinen, in bunten Stiefeln und einem engen schwarzen Pullover, der fast nichts verhüllte und noch mehr versprach. Ihr superblondes Haar fiel ihr bis über die Schultern, und als sie meinen Blick streifte, lächelte ich sie an. Sie duftete wie ein blühender Rosengarten im Juli. Doch als wir bei der Kühlbox angekommen waren, schaute sie nur hinreißend zu Charly auf und hängte sich sofort bei ihm unter.
"Jessica, das ist Maximilian", wurdet ich ihr vorgestellt.
Ich starrte sie immer noch an, als sich ihre vollen Lippen öffneten und ihre langen Wimpern wie Schmetterlingsflügel flatterten. Doch als sie flötete: "Charly, ist der süß, dein kleiner Freund", und in sich hineinkicherte, fiel mein Interesse so schlagartig zusammen, wie mein Puls zuvor auf hundertachtzig hochgeschnellt war.
Charly runzelte die Stirn. Die Superblondine kicherte weiter, kroch jetzt fast in ihn hinein. "Jessica, bitte." Charly versuchte sich zu lösen. "Lass uns jetzt alleine. Bitte. Wir beide haben was zu besprechen. Männersache. Ich komme nach. Irgendwann. Ganz bestimmt."
Da begriff die Blondine endlich. Sie schob die Unterlippe über die Oberlippe und warf mir einen steifen Blick zu. "Aber nicht zu lange", schnaubte sie und stolzierte in Richtung Brückentreppe los. Ich sah ihr nach. Mir warf sie einen giftigen Blick zu, als sie sich noch einmal umdrehte.
"Sie ist bestimmt stinksauer auf mich", sagte ich zu Charly.
Er lächelte schwach. "Das ist sie immer, wenn man nicht nach ihrer Pfeife tanzt." Er holte zwei Flaschen Bier aus der Kühlbox und öffnete sie...