Schweitzer Fachinformationen
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Ruth saß auf ihrem Stein, einem bemoosten Basaltfind ling, den einer der Vulkane vor Millionen von Jahren aus dem Erdmantel an die Oberfläche geschleudert hatte. Er lag auf einer Anhöhe im Schutz des Waldrands, umgeben von Frauenfarn und Buschwindröschen. Sie liebte diesen Ort. Vor ihr breitete sich die Eifellandschaft mit ihren grünen Wiesen, Ginsterbüschen und dunklen Fichtenwäldern aus, zwischen denen das helle Grün der Buchen kleine Lichtoasen bildete. Dahinter flossen bis zum weiten Horizont die Höhenzüge sanft ineinander. Hier konnte man den Kopf frei bekommen und für eine Weile das Leid und die Zerstörung der zurückliegenden Jahre vergessen. Es war Frühling, für Ruth die schönste Jahreszeit - die Zeit des Aufbruchs, des Neubeginns. Sie sog den würzigen Duft des Waldes tief ein, lauschte dem Wind und spürte den warmen Stein unter ihren Händen - ein geradezu sinnliches Gefühl, das sie daran erinnerte, dass ihr Leben ein wenig Freude und Genuss vertragen könnte.
Schluss jetzt, ermahnte sie sich und stand auf. Ein Blick auf die Fliegeruhr an ihrem Handgelenk sagte ihr, dass sie längst hätte zu Hause sein müssen.
»Komm, Arno!« Sie gab ihrem Schäferhund, der sie auf all ihren Streifzügen durch die Natur begleitete, einen liebevollen Klaps auf die Flanke und eilte los. Als sie vom Waldweg zur Straße gelangte, wo sie die Triumph Tiger ihres Vaters geparkt hatte, sprang Arno erwartungsfroh in den Beiwagen. Er genoss die Spritztouren mit dem Motorrad genauso wie Ruth. Das ungewöhnliche Zweiergespann war bei allen in der Umgebung bekannt.
Ruths Elternhaus lag am Fuße eines bewaldeten Hügels. Das zweistöckige Herrenhaus war aus dem robusten Gestein der familieneigenen Steinbrüche gebaut, Fensterstöße und Eingangsportal waren aus hellem Tuffstein, der dem düster anmutenden Basalt Leichtigkeit und Eleganz gab. Wie durch ein Wunder hatte das Haus in seiner exponierten Lage den Krieg unversehrt überstanden.
Ruth fuhr durch das Eisentor in den gepflasterten Hof, wo die Kutsche ihres Großvaters stand. Bei schönem Wetter kam er sonntags immer noch mit Pferd und Wagen zum Essen, bei schlechtem mit seinem Daimler aus den Vorkriegsjahren. Obwohl sie spät dran war, nahm sie sich die Zeit, den alten Haflinger zu streicheln, der sich, ohne sich von seinem Futtertrog ablenken zu lassen, vom schwanzwedelnden Arno beschnüffeln ließ.
Beim Betreten der Eingangshalle schallte ihr Heidis helles Lachen aus dem Esszimmer entgegen. Während Arno schnurstracks in die Küche lief, aus der der köstliche Duft von Rheinischem Sauerbraten strömte, ging sie mit langen Schritten auf die Flügeltür zu, hinter der das Speisezimmer lag. Sie wollte sie schon öffnen, hielt dann jedoch in der Bewegung inne und warf einen Blick in den mannshohen Spiegel. Ihre lange Hose hatte Grasflecken an den Knien, ihre Wanderschuhe waren verstaubt, und ihre Locken hingen ihr wild über die Schultern. Konnte sie sich so überhaupt an den sonntäglichen Mittagstisch setzen? Ihre Mutter legte Wert auf Etikette. Aber zum Umziehen war nun wirklich keine Zeit mehr, entschied sie und betrat entschlossen das Zimmer, das mit seinen wuchtigen Vitrinen, der dunklen Holzverkleidung und dem schweren Silber einem Rittersaal ähnelte. Alle saßen bereits am gedeckten Tisch und sahen ihr erwartungsvoll entgegen. Ihr Vater und Großvater im dunkelgrauen Zweireiher mit Krawatte; ihre Mutter in einem Kleid, dessen schillernde lichtblaue Farbe ihre ätherische Erscheinung noch unterstrich, und Heidi in ihrer neuesten Eigenkreation, mit schmalem Oberteil, Dreiviertelärmeln und weitem Tellerrock mit Blumenmuster.
»Da bin ich!«, verkündete Ruth betont forsch, während sie mit einer raschen Handbewegung ihre Locken über die Schultern warf. »Entschuldigt bitte, dass ich etwas zu spät bin.« Sie lief auf ihren Großvater zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Juden Meddisch, Kind«, begrüßte er sie im Eifeler Platt, das er in Gegenwart seiner Frankfurter Schwiegertochter nur selten sprach. Dabei tätschelte er ihr liebevoll die Wange.
»Endlich! Ich bin am Verhungern!«, rief Heidi mit gespielt gequälter Miene aus und fügte dann zwinkernd hinzu: »Hast mal wieder ganz schön lange gebraucht, um dich in Schale zu werfen.«
Heidi wusste genauso wie sie, dass ihre Mutter über ihren Aufzug nicht gerade entzückt war.
Liliane Thelen berührte mit der manikürten Hand ihren weißblonden Nackenknoten - eine Geste, die verriet, dass sie überlegte. Schließlich lächelte sie ihre Tochter an. »Magst du dich nicht rasch umziehen, Liebes?«, fragte sie dann erwartungsgemäß mit ihrer melodisch-weichen Stimme.
»Bloß nicht«, sagte Heidi wie aus der Pistole geschossen. »Dann dauert es mit dem Essen ja noch länger.«
Ruth lachte und knuffte Heidi in die Seite. Sie war wie eine Schwester für sie. Ruths Eltern hatten Heidi bei sich aufgenommen, nachdem ihr Vater im Thelen-Bruch tödlich verunglückt und Heidis Mutter kurze Zeit später an der Schwindsucht gestorben war. Seither war Heidi der Sonnenschein der Familie.
»Liebes, lass Ruth doch«, bat nun auch Friedrich Thelen seine Frau mit dem ihm eigenen Charme, der ihn selbst aus den härtesten Geschäftsverhandlungen erfolgreich hervorgehen ließ. »Die Mädchen haben Hunger und Vater bestimmt auch.«
Josef Thelen nickte. Er hatte bereits seine irdene Mutz, die er ausschließlich mit Wittlicher Strangtabak befüllte, im Aschenbecher abgelegt und sich erwartungsfroh die gestärkte weiße Leinenserviette in den Hemdkragen gesteckt.
Über Lilianes Züge huschte ein Lächeln, bevor sie nach Helma klingelte, die nur wenige Sekunden später die Suppe auftrug - Frühlingssuppe, deren besonderes Rezept Helma streng unter Verschluss hielt. Arno, der der altgedienten Haushälterin ins Esszimmer gefolgt war, ließ sich ganz selbstverständlich zwischen Friedrich und dessen Vater auf den Eichendielen nieder - wohl wissend, dass er, sehr zum Missfallen der Hausherrin, von mindestens einem der beiden etwas von dem saftigen Suppenfleisch abbekommen würde.
Bevor Liliane Arno hinausschicken konnte, erkundigte sich Ruth rasch: »Wie war es denn in der Kirche?«
Längst hatten ihre Eltern akzeptiert, dass sie, anders als Heidi, nur noch hin und wieder den Sonntagsgottesdienst besuchte. In dieser Sache hielt sie es mit ihrem Großvater, der nach dem frühen Tod seiner Frau seine ausgedehnten Wälder zu seinem Gotteshaus erklärt hatte.
Als Heidis himmelblaue Augen verräterisch zu funkeln begannen, ahnte Ruth, dass ihre Freundin sie gleich mit einer ganz besonderen Neuigkeit, frisch vom Kirchplatz, überraschen würde. »Weißt du, wer wieder da ist?«
»Nein, aber du wirst es mir wahrscheinlich gleich sagen. Du platzt ja förmlich vor Ungeduld.«
Heidi lachte, legte den Kopf schief und neckte sie: »Willst du es wirklich wissen?«
Liliane tupfte sich mit der Serviette über die Lippen. Dann sah sie ihre Tochter mit wissendem Lächeln an. »Ich bin sicher, dass du dich freuen wirst, mein Schatz. Wie lange ist das jetzt her?« Fragend blickte sie zu ihrem Mann hinüber. »Neun Jahre?«
Friedrich nickte. »Genau neun Jahre, Liebes. In diesen Jahren ist aus ihm ein richtiger Mann geworden.«
»Klingelt es jetzt bei dir?«, erkundigte sich Heidi mit blitzenden Augen.
O nein! Ruth schluckte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. »Johannes?«, fragte sie unsicher.
»Ja, ganz genau«, bestätigte ihre Mutter mit einem Strahlen, das sie seit dem Tod ihres Sohnes nur noch selten zustande brachte.
»Johannes hat bei der Bank in Hamburg gekündigt, weil bei unserer eine leitende Stelle frei geworden ist«, erzählte nun ihr Vater - und wenn sich Ruth nicht täuschte, sogar mit einem zufriedenen Unterton in der Stimme, so, als hätte er sich das schon längst gewünscht.
»Dann ist sein Vater ja sein Chef«, staunte Ruth. »Die beiden haben sich doch nie verstanden.«
»Blut ist eben dicker als Wasser«, tat Heidi schulterzuckend ihren Einwand ab.
»Wir wollen Johannes und seine Eltern einladen, uns mal wieder zu besuchen«, sagte ihr Vater, ohne seine Tochter anzusehen.
»Ja, wir möchten den Kontakt wieder ein bisschen vertiefen.« Liliane warf den beiden jungen Frauen einen versonnenen Blick zu. »Ihr drei Kinder seid ja sozusagen zusammen aufgewachsen - so eng wie wir mit den Prümms befreundet waren. Aber nach Erichs Tod .« Sie verstummte und senkte den Kopf.
Sie musste nicht mehr sagen, jeder am Tisch wusste, wie sehr sich das Leben der Familie verändert hatte, nachdem sie die erschütternde Nachricht erhalten hatten, dass Ruths Bruder gefallen war. Seine Fliegeruhr erinnerte Ruth jeden Tag daran, wie sehr sie ihren Bruder vermisste.
»Na ja .«, meldete sich Heidi zu Wort, die sich stets der Wahrheit verpflichtet fühlte und damit schon manchen brüskiert hatte. »Zusammen aufgewachsen? Wir haben als Kinder im Steinbruch Verstecken gespielt, aber als wir älter waren .« Abrupt brach sie ab. Ruth hatte ihr unterm Tisch einen Tritt versetzt. Ruth wollte keinesfalls, dass ihre Eltern erfuhren, was zwischen ihr und Johannes damals vorgefallen war.
»Schön, dass Johannes zurück ist«, rang Ruth sich nun ab, woraufhin sie gleichzeitig den erwartungsvollen Blick ihrer Mutter wie den ihres Vaters auf sich spürte. In diesem Moment war sie Helma dankbar, dass sie den Sauerbraten brachte. Rasch half sie der Haushälterin, die Suppenteller ineinanderzustellen.
»Wie schaut es denn mit deinen Investitionen im Steinbruch...
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